Runner Runner

Natürlich existierte eine Statistik, welche Handkarten zu welchem Prozentsatz am Ende die Partie gewinnen würden. Die ganz schlechten Kombinationen, wie Sieben und Zwei in verschiedenen Farben, Zehn und Drei und ähnliches warfen die meisten Spieler daher grundsätzlich vor dem Flop weg. Doch wie gut musste ein Blatt sein, damit man damit spielte? Das unterschied sich nicht nur von Spieler zu Spieler, sondern hing stark von der jeweiligen Situation ab. Und von persönlichen Vorlieben. Sara mochte Sechs und Sieben, wenn sie suited waren. Würde man ihr Spiel auswerten, würde garantiert auffallen, dass sie mit dieser Kombination häufiger spielte als mit Sieben und Acht oder Acht und Neun in derselben Farbe. Mit Logik ließ sich das nicht erklären, das war ihr bewusst. Es hatte sie sehr beruhigt, als sie in Dixons erstem Buch nachlesen konnte, dass viele Spieler solche Lieblingshände hatten. Dixon hatte vorgeschlagen, diese Kartensets regelmäßig zu wechseln, damit das eigene Spiel nicht vorhersagbar würde, auch wenn es schwerfiel. Sara gab sich alle Mühe, aber am Ende callte oder raiste sie bei Sechs, Sieben suited doch fast immer.

Das Schöne an dem Blatt war, dass sie genau wusste, wann sie aussteigen konnte. Asse, Könige, Damen oder Jungen im Flop: Adieu, Lieblingsblatt. Nach den ersten drei Karten keine Aussicht auf Flush- oder Straight-Draw: Auch dann hieß es, sich vom Pot zu verabschieden. Und zwar ohne jeden Kummer. Wenn sich aber Draws ergaben, oder noch besser, direkt nach dem Flop eine Straße da lag, war die Kombination ein Traum. Am schönsten wurde es, wenn noch eine hohe Karte dazu kam, sodass der Mitspieler sein Ass, seinen König oder seine Dame getroffen hatte und nun auf sein Paar setzen konnte.

Dieses Mal schluckte Sara, als sie mit Sechs und Sieben in Karo ins Spiel einstieg. Grigori Jarun hatte den vierfachen Blind gesetzt. Hinter Sara kamen noch die beiden Blinds, die aber glücklicherweise foldeten.

Der Dealer deckte den Flop auf: Herz-Zehn, Karo-Fünf, Karo-Dame.

HerzZehn_SW.jpgKaroF%c3%bcnf_SW.jpgKaroDame_SW.jpg

Jarun, vor ihr am Zug, setzte die gleiche Menge wie vor dem Flop. Sara ging mit. Sie brauchte nur eine passende Karte für ihr Blatt und war froh, den Turn so günstig wie möglich zu sehen.

Der Dealer legte die Kreuz-Vier als Turn auf den Tisch. Jarun erhöhte um die gesamte Potsumme. Sara zögerte, sie hatte sich wenig Gedanken über sein Blatt gemacht, sich zu sehr auf ihr eigenes konzentriert. Lief es schlecht, hatte er einen Flush-Draw mit besseren Karten. Würde er dann derart erhöhen? Nein, viel wahrscheinlicher war, dass er getroffen hatte. Die Dame, eventuell auch Dame und Zehn, sodass er zwei Paare hielt. Er wollte, dass sie jetzt ausstieg.

Sara musste noch treffen, ihre Chancen standen etwa bei eins zu zwei.

Sie biss sich auf die Lippen, was ihr erst auffiel, als es bereits passiert war. Jarun hatte die Geste sicher bemerkt. Nun gut, sollte er wissen, dass sie mit sich haderte. Sie erhöhte, auf die Gefahr hin, einen noch größeren Teil ihrer Chips zu verlieren. Aber wenn sie jetzt wieder nur callte, gab sie Jarun allzu klar zu verstehen, dass sie eine Straße oder einen Flush treffen musste. Falls sie das nicht tat, was leider die wahrscheinlichere Variante war, würde sie den Pot unweigerlich verlieren. Erhöhte sie jetzt, war sie schlechter zu durchschauen und konnte am Ende vielleicht bluffen. Jarun erhöhte zum Glück nicht noch einmal, sondern beglich nur ihren Raise.

Als der Dealer das Karo-Ass umdrehte, jubelte Sara innerlich.

HerzZehn_SW.jpgKaroF%c3%bcnf_SW.jpgKaroDame_SW.jpgKreuzVier_SW.jpgKaroAss_SW.jpg

Damit hatte sie Jarun mit Sicherheit geschlagen. Er sah sie an, musterte sie schweigend. Sara blickte in sein Gesicht, in der Hoffnung, dass sie nicht allzu viel offenbarte. Jarun ging All-In, sie ging mit. Er hatte nur unwesentlich weniger Chips als Sara, aber sie war sich sicher, dass sie dieses Blatt gewonnen hatte.

Er drehte den Karo-König um.

Sara musste schlucken, ihr Herz fing an zu pochen.

Er drehte die zweite Karte um. Sara sah nur etwas Schwarzes, damit wusste sie, sie hatte gewonnen. Kreuz-Junge. Straße. Das reichte nicht.

Möglicherweise, dachte Sara, war es unlogisch, dass sie passende Sechsen und Siebenen so gern spielte. Jetzt hatte sich die kleine Macke jedoch ausgezahlt.

Lächelnd deckte Sara erst die Karo-Sechs auf, zögerte einen Moment und zeigte dann die Karo-Sieben.

»Wow«, sagte Jarun. »Damit habe ich nicht gerechnet.«

Sara lächelte. Sie war nicht für alle so leicht durchschaubar wie für Liam Newton. Und nun war sie wieder in einer verdammt guten Position.

Als sie die Chips vor sich stapelte, fühlte sie sich beobachtet. Ein Blick zur Seite offenbarte Liam Newton, der ganz klar in ihre Richtung starrte. Er schürzte die Lippen, fast so, als würde er ihr einen Kuss zuwerfen, bevor er seinen Kopf in eine andere Richtung drehte.

Sara beobachtete Ted Ashen, während sie fünf Hände hintereinander nur miserable Blätter bekam, die sie umgehend wegwarf. Der Amerikaner spielte besonnen, die meiste Zeit schwieg er. Über Jahrzehnte hatten er und Dixon zu den bekanntesten und erfolgreichsten Spielern gezählt, doch Ashen schien dabei immer im Schatten gestanden zu haben. Neben dem ebenso extrovertierten wie charismatischen Joel Dixon war der stille Ashen nahezu unsichtbar gewesen. In den vergangenen Jahren war es noch ruhiger um den alternden Star geworden. Er ging seltener auf Turniere. Weil er es sich leisten konnte, vielleicht. Oder weil er seltener gewann, wie einmal ein hämischer Fernsehkommentator eingeworfen hatte, als Sara sich eine Übertragung angesehen hatte.

Sara hatte selbst kaum auf Ashen geachtet, als sie sich in der Endphase des Turniers durch die Auflösung eines Tisches und das darauffolgende Umsetzen plötzlich mit den beiden Amerikanern an einem Tisch konfrontiert sah. Natürlich hatte sie einen gesunden Respekt vor ihm als Pokerspieler. Wie vor jedem, der jetzt noch mit von der Partie war. Aber vor Dixon hatte sie gezittert und gleichzeitig versucht, ihn nicht anzuhimmeln wie ein Schulmädchen.

Wie Ashen es wohl empfunden hatte, immer von seinem Freund ausgestochen zu werden? Hatte er ihm deshalb die Frau ausgespannt, wie auch immer das passiert war? Hatten sie beide genug von Dixon und seinen Eskapaden gehabt, um ihn zu töten? Konnte es, so schrecklich profan es war, doch um Geld gegangen sein?

Ashen blickte plötzlich auf und ihr direkt in die Augen. Sara zuckte zusammen und blickte ihrerseits schnell weg.

»Ist etwas?«, fragte er.

Ihre Stirn hatte sich in Falten gelegt, während sie gegrübelt hatte, ihre Augen sich leicht verengt, wie sie jetzt rekonstruierte. Und so hatte sie den Mann angestarrt. Nicht sonderlich subtil.

»Nein«, sagte Sara etwas zu hastig. »Ich habe nur nachgedacht.«

Tanja Korhonen räusperte sich laut. »Du bist dran, Ted.«

Ashen sah Sara noch ein paar Sekunden still an, bevor er sich wieder dem Spiel widmete. Sie fühlte sich ertappt. Und sie fragte sich, ob dieser Mann wirklich zu einem Mord in der Lage sein sollte. Irgendwie mochte sie es nicht glauben. Aber vielleicht hatte ihn Dixons Frau dazu angestiftet. Sie beschloss, dem Urteil von Linus an dieser Stelle zu vertrauen. Er würde ihr von seinem zweiten Telefonat mit Francine Dixon berichten, und dann würde sie dieser Spur weiter folgen oder sie aufgeben. So einfach war das.

Wenn auch alles andere mit Linus kompliziert war. Sie hätte sich die Frage verkneifen sollen, ob er die Barfrau attraktiv fand. Selbst wenn das der Fall wäre, wäre es sein gutes Recht. Doch er hatte keinen Streit angefangen. Ganz im Gegenteil. Danach, im Fahrstuhl, hatte er tatsächlich versucht, sie zu küssen. Sara merkte, wie ein Hitzeschub durch ihre Gesicht lief, während sie bloß daran dachte. Sie hatten nebeneinander gestanden und viel zu dicht beieinander anstatt gegenüber, das war der erste Fehler gewesen. So standen Paare im Fahrstuhl. Sie waren keins mehr. Und dann, beim Aussteigen, hatte sie selbst überlegt, wie sie sich von ihm verabschieden sollte. Ihr war durch den Kopf gegangen, wie seltsam die Situation war und dass sie irgendwelche Peinlichkeiten vermeiden musste. Nur deshalb hatte sie es geschafft, sich ganz schnell etwas zurückzulehnen und zur Seite zu blicken, als er sich ihr näherte. Damit hatte sie seine Bewegung gestoppt. Sie konnte heute wirklich nicht noch mehr Aufregung vertragen.

*

»Misses Dixon, ich bin es noch einmal, Linus Milkrath, der Journalist aus Hamburg. Darf ich fünf Minuten Ihrer Zeit in Anspruch nehmen?«

Am anderen Ende der Leitung ertönte ein Seufzer. »Sie sind hartnäckig, junger Mann. Vielleicht eine Minute. Ich habe gerade wirklich anderes zu tun, als mit deutschen Reportern zu sprechen.«

»Vielen Dank. Ich bin über etwas gestolpert, das mich stutzig gemacht hat. Ihr Ehemann soll bei einer anderen Online-Plattform angeheuert haben.«

»Ach?«

»Wussten Sie nichts davon?«

»Nein. Wahrscheinlich hat er bloß vergessen, es zu erwähnen.«

»Ich habe außerdem gehört, er hat einiges verkauft in letzter Zeit? Immobilien?« Linus schenkte den Gerüchten des ominösen Mr. P. zwar wenig Glauben, aber diese Frage wollte er trotzdem stellen.

Er stellte sich vor, dass Francine Dixon gerade mit den Schultern zuckte. Jedenfalls antwortete sie nicht mit einem Wort, nur mit einem kurzen »Hm.« Es klang so, als hätte sie keine Ahnung. Sollte er ihr das glauben?

»Ich habe auch gehört, dass Ted Ashen einige dieser Immobilien gekauft hat«, behauptete Linus.

»Nein«, sagte Francine Dixon, und dann nach einer Unterbrechung, die einen Tick zu lange dauerte: »Das kann ich mir nicht vorstellen.« Aha, über Ashens Bewegungen wusste sie also Bescheid. Die Bestätigung hatte er sich gewünscht.

»Oh, interessant, danke. Dann streiche ich diese Information.«

»Wollen Sie wirklich in einem Nachruf Joels über finanzielle Verhältnisse schreiben? Das ist doch fehl am Platz.«

»Nein, ich recherchiere nur gründlich. Mache mir ein möglichst umfassendes Bild von ihm, verstehen Sie? Dabei würde es mir auch helfen, wenn Sie die Freundschaft zwischen ihm und Ted Ashen näher beschreiben.«

Linus hörte, wie sie sich eine Zigarette anzündete. »Vielleicht sollten Sie das lieber Ted fragen. Männerfreundschaften sind, nun ja, Männerfreundschaften. Ich war kein Teil dieses kleinen Clubs.«

»Aber Sie werden die beiden doch oft zusammen erlebt haben.«

»Sie waren eben Freunde. Sie kannten sich schon ein paar Jahre, als ich die beiden zum ersten Mal traf.«

»Sie haben sie zusammen kennengelernt?«

»Ja.« Ihre Stimme klang leicht verträumt in diesem Moment. »Ted wollte Joel davon abhalten, mich zu heiraten.«

»Aber das ist ihm nicht gelungen.«

»Offensichtlich.«

»Wieso wollte er das?«

Sie zögerte kurz. »Ihm ging es zu schnell. Er meinte, Joel sollte es langsamer angehen lassen. Und ich natürlich auch.«

»Das klingt, als hätten Sie und Ted Ashen keinen guten Start gehabt.«

Sie lachte. »Wir haben die Differenzen mit der Zeit beigelegt. Spätestens, als ich das zehnte Mal zu ihm sagte, ich hätte damals auf ihn hören sollen.«

»Also sind Sie inzwischen auch mit ihm befreundet?«

Die Witwe nahm sich Zeit, ehe sie wieder sprach. »Worauf wollen Sie hinaus?«

»Ich wollte nur wissen, wie nah Sie sich alle standen.«

Sie seufzte. »Junger Mann, das geht nun wirklich zu weit. Rufen Sie mich bitte nicht mehr an.«

Sie legte auf, bevor Linus etwas entgegnen konnte. Von Francine Dixon würde er nichts mehr erfahren. Für eine Frau, die gerade ihren Ehemann verloren hatte, war sie erstaunlich gefasst. Aber das machte sie in Linus Augen nicht verdächtig. Er vermutete, dass eine Frau, die ihren Mann ermorden ließ, sich wenigstens bemühen würde, anschließend besonders erschüttert zu wirken, anstatt in aller Ruhe Fragen zu beantworten.

Außerdem fehlte ihm bislang ein guter Grund, an einen Mord zu glauben. Seiner Theorie zufolge war Joel Dixon an einem Infarkt gestorben. Sobald das Turnier vorbei war, würde er Sara von den Betablockern erzählen. Sie würde ihn hassen, dass er es nicht vorher gesagt hatte. Aber dass sie sauer auf ihn war, wäre ja nichts Neues.

Linus seufzte. Und dann hatte er sie beinahe geküsst, nachdem sie diese alberne Frage zu Pia gestellt hatte. Nur weil sie sich immer geküsst hatten, nach einem Streit.

*

Miguel Peres sah sich die Unterlagen an, die der Notarzt ausgefüllt hatte. Reanimation war bereits eingeleitet, als er zu dem Patienten kam. Jegliche Maßnahmen waren jedoch gescheitert. Die Umstände deuteten auf einen Infarkt. Weitere Informationen über Vorerkrankungen lagen bisher nicht vor, wie so oft bei Touristen.

Es las sich wie ein absoluter Standardfall, keine besonderen Vorkommnisse. Auf der anderen Seite stand das ungewöhnliche Gespräch mit den beiden Streifenpolizisten. Und Peres wusste, dass sich so mancher vermeintlich natürliche Tod bei genauerer Betrachtung als ganz und gar unnatürlich entpuppte.

Joel Dixon war noch angezogen. Er lag auf einer Bahre direkt neben dem Eingang ins Untergeschoss. Die Bestatter brachten die Toten über einen Lastenaufzug in den Keller. Peres hatte die Treppe genommen. Es war kühl hier unten, wie immer.

Er hustete kurz. Wahrscheinlich sollte er endlich mit dem Rauchen aufhören. Jule lag ihm deswegen sowieso ständig in den Ohren. »Du bist Arzt! Du musst doch wissen, wie schädlich das ist.«

»Die wenigsten Leichen, die ich sehe, sind an Lungenkrebs gestorben«, antwortete er dann. Wenn er mit der Habilitation durch war, hatte er sich vorgenommen, würde er es aufgeben.

War der Mann, der jetzt vor ihm lag, an einem Infarkt gestorben? So konnte er ihn jedenfalls nicht untersuchen.

Dem Arzt ging kurz durch den Kopf, dass er niemanden kannte, der sein Geld mit Kartenspielen verdiente. Peres hatte Poker einmal ausprobiert. Er hatte es lustig gefunden, dabei mit Freunden zusammenzusitzen. Aber darüber hinaus erschloss sich ihm der Reiz nicht. Er war einfach kein Spieler, dachte er. Sportlichen Wettkampf konnte er verstehen, er spielte ziemlich gut Fußball, auch wenn sich seine durchs Rauchen suboptimale Lungenfunktion konditionell bemerkbar machte. Aber einen Gewinner auszumachen, indem man ein paar Karten auf den Tisch legte, das war einfach nicht sein Ding.

Miguel Peres wollte gerade umdrehen und Jochen Bescheid geben, dass er den Leichnam entkleiden sollte, als ihm etwas Seltsames auffiel. Welcher Scherzkeks hatte das denn gemacht?, dachte der Rechtsmediziner, als er sich vorbeugte.