Drawing Dead

Richardsen raufte sich die Haare. Der junge Däne machte keine Anstalten, seinen Zweifel zu verbergen. Sara hatte sich bisher zu wenig mit ihm beschäftigt, um ahnen zu können, was er auf der Hand hatte. Sie konnte nur raten. Ihr Tipp: Sein Blatt war schlechter als das von Korhonen, aber er wollte noch nicht aufgeben.

Auf dem Tisch lagen nur Zahlen.

Korhonen hatte nach dem Flop gesetzt, Richardsen hatte bezahlt. Als der Turn lag, setzte die Finnin erneut, ohne zu zögern. Doch der Däne ließ sich Zeit. Er schüttelte den Kopf, murmelte leise etwas, das Sara nicht verstand. Schließlich bezahlte er zähneknirschend.

PikZwei_SW.jpgKaroNeun_SW.jpgHerzSieben_SW.jpgHerzZwei_SW.jpgHerzAcht_SW.jpg

Die letzte Karte war die Herz-Acht. Korhonen sah zu Richardsen, der den Kopf gesenkt hatte und seine Chips zählte. Er wirkte fahrig. Als die Finnin erhöhte, hörte man ein Seufzen von Liam Newton. Richardsen atmete tief durch, richtete sich auf – und ging All-In. ›Warum macht er das?‹, dachte Sara. ›Er verliert!‹ Korhonen callte sofort. Ihr Stack war etwas kleiner als der des Dänen.

Korhonen deckte Junge und Zehn auf, damit hatte sie nicht nur die Straße getroffen, sondern, noch besser, einen Herz-Flush. Doch Mads Richardsen warf ein Neuner-Paar in die Tischmitte. Er hatte ein Full House.

Sara schluckte. Gut, dass sie diese Partie nicht mitgespielt hatte, sie wäre ihm auch geradewegs in die Falle gegangen. Nach dem Turn hätte gar keine Karte mehr kommen können, die Korhonen noch gerettet hätte. Mit Chancen auf Flush und Straße hatte die Finnin aber sicher gedacht, sie könnte die Hand gewinnen.

Die Finnin winkte in die Runde, als sie aufstand. »Viel Erfolg noch«, sagte Korhonen jetzt, ohne jemanden dabei direkt anzusehen.

Richardsen grinste über beide Ohren. Seine Stimmung hatte sich in der vergangenen Stunde langsam wieder aufgehellt. Er hatte allen Grund, sich zu freuen. Durch den Sieg war er Chipleader. Sara dagegen war bloß froh, dass er Korhonen geschlachtet hatte und nicht sie.

*

Linus fing Tanja Korhonen ab, als sie Richtung Fahrstuhl ging.

»Linus Milkrath mein Name, kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

»Sie sind doch der Bekannte von Sara.«

»Ja.«

»Sie sind kein Polizist.«

»Nein, ich bin Journalist.«

»Worüber wollen Sie denn mit mir sprechen?«

Hey, dachte Linus, ich sollte hier die Fragen stellen. »Verraten Sie mir, wie Sara sich macht?«

Da lachte die Finnin. »Das müssen Sie fragen?«

»Ja, offensichtlich. Und?«

»Na, sie macht sich großartig. Sonst wäre sie längst rausgeflogen. War das alles?« Sie ergänzte nach einer kurzen Pause: »Ich bin ziemlich erschöpft.«

Linus überlegte. Er war aus Reflex aufgesprungen, doch eigentlich gab es wenig, was er von Korhonen wissen wollte. Sie hatte sich ja bereits Sara anvertraut.

»Ich schreibe einen Nachruf über Joel Dixon. Gibt es etwas, was Sie über ihn sagen wollen, das ich erwähnen darf?«

Sie biss sich auf die Lippen. Einen Moment lang fürchtete Linus, sie würde anfangen zu weinen.

»Ich werde ihn vermissen, wie viele andere auch.«

»Danke. Und mein Beileid.«

Sie nickte nur.

»Das ist also dein Typ«, meinte Pia, als er sich wieder an die Bar setzte. »Tztz. Hat Sie dich abblitzen lassen? Und dann so schnell!«

»Weder noch.«

»Was war das denn sonst?«

»Ich erzähle es dir, wenn du mir noch etwas über Jenna verrätst.«

»Wieso bist du so besessen von Jenna? Das ist etwas gruselig. Du bist doch hoffentlich kein Stalker?«

»Nein!« Er merkte selbst, wie empört er klang, als er das sagte. Er war kein Stalker, er tat hier gerade einen Freundschaftsdienst. Er war einer von den Guten. Das musste Pia doch langsam merken. Irgendwie musste er sie ködern. »Ich erzähle dir auch, warum ich wirklich heute Abend hier bin.« Er setzte den besten Hundeblick auf, den er draufhatte. »Bitte.«

Sie lehnte sich auf den Tresen und stützte ihren Kopf mit dem Kinn ab.

»Also gut. Ich habe vorhin etwas verschwiegen. Jenna und ich, wir waren nicht nur Kolleginnen, sondern befreundet. Aber sie ist einfach abgehauen. Hat gekündigt und ist umgezogen. Alles was sie gemacht hat, war eine blöde E-Mail zu schreiben. Wenn ich darüber nachdenke, bin ich immer noch sauer. Deshalb haben mich deine Fragen genervt.«

»Eine E-Mail?«

»Ja. ›Will mein Leben ändern und keine Altlasten übernehmen. Nimm es nicht persönlich.‹ So in der Art. Wie soll man das bitte nicht persönlich nehmen?«

»Wow, das ist übel. Da wäre ich auch sauer«, sagte Linus.

»Siehst du.«

»Wo ist sie denn hin?«

»Keine Ahnung, wie ich gerade sagte: Sie hat gemailt, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben will und natürlich nicht ihre neuen Kontaktdaten verraten. Unter ihrer alten Handynummer ist kein Anschluss mehr, das habe ich versucht. Ich hätte sie gern zur Rede gestellt.« Pia klang zerknirscht. Sie schüttelte ihren Kopf. »Egal. Du bist dran. Warum bist du heute hier?«

»Als ich eben mit Tanja Korhonen geredet habe, wollte ich nur wissen, wie sich meine Bekannte so schlägt.« Er nickte mit dem Kopf Richtung Final Table.

»Und?«

»Sie sagte: ›Großartig, sonst würde sie nicht dort am Tisch sitzen.‹«

»Deine Bekannte also. Du hängst hier Sonntagnacht rum, weil eine Bekannte von dir pokert? Hast du sonst keine Hobbys?«

»Oh, doch. Ich bin der König des Minigolfs.«

Ihre Mundwinkel verrieten, dass sie das extrem uncool fand. »Echt?«

»Nein, ich hasse Minigolf.«

»Jeder vernünftige Mensch mit einem nicht mehr einstelligen Lebensalter hasst Minigolf«, sagte Pia.

Sara und Linus hatten sich beim Minigolf kennengelernt, deswegen war es ihm gerade eingefallen. Er hatte seinem Neffen – und Patenkind – versprechen müssen, zu dessen Geburtstag auf die Bahn mitzukommen. Sara war mit ein paar Frauen da, die sich im Gegensatz zu Sara amüsierten. Entfernte Verwandtschaft, hatte Sara später erklärt. Beide hatten irgendwelche Ausreden gesucht, sich vor dem Spiel zu drücken – und sich dabei gefunden.

Linus schnitt den Gedankengang ab. Obwohl er nicht an Saras Mordtheorie glaubte, wollte er jetzt wissen, ob Pia ihm noch etwas über Jenna verschwieg. Außerdem hatte er inzwischen den Ehrgeiz, ihre Telefonnummer zu bekommen.

»Weißt du wirklich nicht, warum Jenna weg ist?«

»Schon wieder Jenna?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

Linus hob die Hände. »Ich bin schon still.« Und dann: »Trinkst du einen mit mir?«

Sie zögerte nur kurz. »Klar, geht aber auf deine Rechnung.«

»Selbstverständlich.«

*

»Müssen Sie eigentlich gewinnen, um Ihre Verluste mit der Online-Plattform auszugleichen? Oder reicht es, wenn Sie Vierter oder Fünfter werden? Hmm … wahrscheinlich reden wir hier über viel höhere Beträge, oder?«, fragte Sara, als Newton ihren Einsatz bezahlte. Sie hatte Ass und Zehn in Herz auf der Hand.

»Sara, Sara. Du willst mich aus der Ruhe bringen.« Kurzes Lachen.

»Klappt es?«

»Müsstest du das nicht selbst einschätzen können?«

»Ich kann mir bloß so schlecht vorstellen, über welche Verluste wir hier reden. Zehntausende? Hunderttausende? Millionen?«

»Pfund, Dollar, Euro, Renmimbi?«, sagte er, sie nachäffend. Der Mann war schwer zu packen.

»Renmimbi?«

»Chinesischer Yuan.«

Die Karten wurden aufgedeckt und unterbrachen ihr kleines Scharmützel.

KreuzK%c3%b6nig_SW.jpgHerzBube_SW.jpgKreuzSechs_SW.jpg

Im Flop lagen Kreuz-König, Herz-Junge und Kreuz-Sechs. Sara setzte, allerdings eher verhalten. Mit einem Gutshot hätte sie eine Straße, doch dazu musste die Dame fallen. Ein Ass wäre natürlich gut für sie. Newton ging mit.

»Du würdest gern wissen, wie viel Geld man mit Pokern verdienen kann«, sagte der Engländer.

»Nicht nur«, antwortete Sara.

»Aha. Was denn noch?«

»Ich würde gern wissen, wie viel Sie damit verdienen.«

Auf dem Tisch wurde das Karo-Ass aufgedeckt. Sara erhöhte erneut, doch Newton stieg aus.

»Sie drücken sich um eine Antwort«, sagte Sara.

»Ich würde sie dir schon geben – in einer etwas privateren Atmosphäre.«

Sara merkte, dass sie rot anlief.

Newton lachte. »Lass dich nicht so leicht aus der Ruhe bringen, Sara«, meinte er nur.

Keine Frage, er flirtete mit ihr. Das machte ihn nicht weniger verdächtig.

Obwohl sie sich vorgenommen hatte, es bleiben zu lassen, sah sie hinüber zu Linus. Er lachte gerade mit der Barfrau zusammen über etwas. Wahrscheinlich hatten sie zu selten zusammen gelacht. Sie hatten einfach nicht zueinander gepasst.

»Ich glaube, es klappt nicht mit uns«, hatte Sara zu ihm gesagt. Das lag etwa ein Dreivierteljahr zurück. Sie hatten sich an dem Abend gestritten, wie so oft. Vom Zustand des Verliebtseins waren sie nahtlos in einen Dauerstreit übergewechselt, der an Saras Nerven zehrte. Das Schlimme war, dass er nur ein, zwei Sätze brauchte, um sie völlig aus der Fassung zu bringen. Bei anderen Menschen war sie ruhiger, doch er schaffte es, immer genau dort zu sticheln, wo es wehtat. Es machte sie fertig. So sehr sie versuchte, seine Bemerkungen an sich abprallen zu lassen, es misslang. Einmal schlug sie ihm vor, sie sollten boxen gehen, um ihren Streit beizulegen.

»Ist ja klar, dass du es mit Gewalt lösen willst, wenn ich die besseren Argumente habe«, war seine Antwort gewesen. »Den Gefallen tue ich dir nicht.«

Es war also eine Art Kapitulation, als sie ihm offenbarte: »Ich glaube, es klappt nicht mit uns«

Sie hatte vermutet, dass er ärgerlich werden würde, aufbrausend, dass er verletzt sein würde oder laut oder sie bitten würde, es noch einmal zu versuchen. Doch er reagierte ganz ruhig.

»Da hast du wohl recht«, hatte er gesagt, mit Resignation in der Stimme.

Sie hatte nicht gewusst, wie sie mit dieser Feststellung umgehen sollte.

»Dann ist es das jetzt wohl.«

»Ja.«

Sie hatten sich ganz höflich voneinander verabschiedet, und bei Sara war der Eindruck geblieben, dass sie ihm kaum etwas bedeutet haben konnte.

Erst später war ihr aufgegangen, dass es ihn stärker mitgenommen hatte, als er zugeben wollte. Ein gemeinsamer Bekannter hatte den entscheidenden Hinweis gegeben.

»Am besten, du lässt ihn eine Weile in Ruhe. Eine sehr, sehr lange Weile«, waren dessen Worte gewesen.

Sara hatte sich daran gehalten. Bis heute. Und jetzt wusste sie nicht, ob sie sich über Linus’ Anwesenheit und Hilfe freuen oder über seinen Flirt mit der Barfrau ärgern sollte.