Sara hatte gerade den Big Blind setzen müssen, als sie die beiden schwarzen Vieren umdrehte. Sie lehnte sich bewusst nicht zurück, sondern ließ ihre Hände dicht an den Karten. Ihre Unterarme ruhten auf der weichen, mit Leder bezogenen Tischkante. Das Blatt will ich auf jeden Fall spielen, signalisierte sie damit. Tatsächlich würde sie maximal bis zum dreifachen Big Blind mitgehen. Mehr setzte sie ungern auf kleine Handpaare. Das Problem war ja: Im besten Fall landete man bei einem Coinflip, wenn der andere zwei höhere Handkarten hatte. Die Chancen lagen für beide etwa bei 50:50. Entweder traf der Gegner mit seinen Handkarten und hatte ein höheres Pärchen. Oder er traf nicht, sodass die Vieren zum Gewinn reichten. Hatte der Gegenspieler ein höheres Pärchen, war man mit Vieren auf der Hand fast chancenlos.
Ashen platzierte den dreifachen Big Blind, die anderen stiegen aus.
Sara räusperte sich, ihr Hals war trocken. Eigentlich sollte sie etwas Wasser trinken. Aber am Tisch wollte sie sich immer noch kein Getränk bestellen. Sie musste ohne Flüssigkeit bis zur nächsten Pause durchhalten. Sie musste überhaupt bis zur nächsten Pause durchhalten, schoss es ihr durch den Kopf. Die Einsätze schraubten sich schnell in schwindelerregende Höhen. Drei oder vier falsche Entscheidungen – oder ein paar Mal Pech, und sie schied aus.
Sara blickte hinüber zum Amerikaner. Ashens Augen waren auf die Chips direkt vor ihm ausgerichtet, sodass es fast aussah, als seien sie geschlossen. Sara setzte, wortlos.
Es war still am Tisch, nur Hofmann klapperte gerade mit einigen Chips. Liam Newton hing mehr auf seinem Stuhl, als dass er saß. Sara vermutete, dass sich auch seine Gedanken um Joel Dixon drehten. Mads Richardsen hatte den Kopf auf beide Hände abgestützt und lehnte so nach vorn gebeugt am Tisch. Als würde er gleich einschlafen. Sara spürte die Müdigkeit ebenso. Ihre Füße, um die ein leichter Luftzug von der Klimaanlage wehte, waren – nur in Pumps und Strumpfhose – eiskalt. Dafür war sie dankbar, die niedrige Temperatur hielt sie wach.
Kreuz-Dame, Herz-Junge und Kreuz-Drei.
Sara musste als Erste reagieren. Es gab verschiedene Möglichkeiten, kleine Paare zu spielen. Sara neigte normalerweise zur Zurückhaltung. Lieber nicht setzen und vielleicht gratis eine weitere Karte sehen, mit der man einen Drilling erreichen konnte. Das war ihre Standardreaktion. Aber die Zeit für solch ein Vorgehen war abgelaufen. Sie setzte den dreifachen Big Blind, auch wenn das aus ihrer Sicht ein großes Risiko war. Falls Ashen erhöhte, würde sie folden – noch war der Chipverlust unwesentlich. Falls er mitging, könnte er zumindest glauben, dass sie eine Dame oder einen Jungen auf der Hand hatte. Das würde sich als nützlich erweisen, falls sie im weiteren Verlauf der Hand bluffen musste.
Doch Sara ging es nicht nur um das Spiel, sie wollte den Amerikaner aus der Reserve locken.
»Sie haben vorhin mit Francine Dixon telefoniert«, sagte sie deshalb.
Ashen würdigte sie keines Blickes, er zuckte nicht einmal. In aller Ruhe drehte er einige Chips in der Hand, nahm einen größeren Stapel, als wollte er raisen, legte diesen dann jedoch wieder zurück und callte Sara nur.
»Warum sagen Sie das?«, fragte er, noch immer ohne aufzublicken.
Hatte sie jemals so viele Gegenfragen erhalten wie heute? Sara konnte sich nicht daran erinnern. Es war einfacher, Antworten zu bekommen, wenn man eine Uniform anhatte.
»Mich beschäftigt Dixons Tod sehr«, sagte sie. »Das verstehen Sie doch, oder?«
»Ja, allerdings«, murmelte Ted Ashen. Seine Augenlider hoben sich ein winziges Stück, als er die nächste umgedrehte Karte betrachtete.
Sara beobachtete erst Ashens Reaktion, bevor sie sich selbst den Turn ansah. Herz-Sechs.
»Dann verstehen Sie sicherlich, dass ich darüber reden möchte?« Sie fixierte ihn. Menschen bemerkten – wie auch immer – wenn jemand sie direkt ansah, selbst wenn sie das selbst nicht sehen konnten. Und es kostete Energie, das zu ignorieren. Es lenkte ab, erzeugte ein unwohles Gefühl. Sara hoffte, Ashen wenigstens ein wenig verunsichern zu können.
Der Dealer räusperte sich.
»Ich setze ja schon«, sagte Sara. Sie legte noch einmal den dreifachen Big Blind in die Mitte. Ashen kratzte sich kurz am Kopf. Seine rechte Hand wanderte über seine Chipstapel.
Sara wollte jetzt auf keinen Fall locker lassen. »Wissen Sie, es klingt ein wenig wie eine Dreiecksbeziehung, was man so über Joel Dixon, Francine Dixon und Sie gehört hat.«
Ashen blinzelte, nein, er schloss kurz die Augen. Sara hielt den Atem an. ›Sag endlich etwas dazu. Komm endlich aus der Reserve!‹
»Ich wüsste nicht, warum das jemanden außer Joel, Francine und mir etwas angehen sollte«, knirschte der Amerikaner.
»Also war da etwas.«
Ashen seufzte, das Geräusch entwich aus den Tiefen seiner Kehle. »Sie würden das sowieso nicht verstehen.« Er schüttelte den Kopf, nur ganz leicht, wie jemand, der so sehr erschöpft ist, dass es für eine richtige Bewegung nicht mehr reicht. »Ich folde.« Als er seine Karten wegwarf, drehte sich eine von ihnen um. Seine Hand musste bei der Bewegung leicht gezittert haben. Sara und alle anderen am Tisch sahen den Karo-Jungen.
Er hätte die Hand gewonnen, außer im River wäre eine Vier gekommen. Und er hätte ihr keine so direkte Antwort geben müssen.
Würde sich so ein eiskalter Mörder verhalten, der seinen ehemals besten Freud vor ein paar Stunden vergiftet hatte? Sara hielt das für sehr unwahrscheinlich. Sie konnte wohl einen Verdächtigen von der Liste streichen. Eigentlich hätte Sara sich freuen müssen, doch plötzlich war ihr nicht mehr danach zumute.
»Es tut mir leid für Ihren Verlust«, sagte sie. »Wirklich, das ist jetzt nicht nur eine Floskel. Und ich entschuldige mich für meine Fragen.«
Nun endlich sah Ted Ashen ihr in die Augen. Er sagte bloß ein Wort: »Danke.«
Sara warf ihre beiden schwarzen Vieren weg, ohne sie umzudrehen. Niemand sollte sehen, dass sie geblufft hatte. Bisher hatte sie diese Kartenkombination eher gemieden. Sie fand sogar den inoffiziellen Namen albern. Weil die ›Dark Fours‹ so klangen wie ›Dark Force‹, nannte man die Hand ›Darth Vader‹, nach dem zweitmächtigsten Schurken der dunklen Seite der Macht aus Star Wars. Doch dieser Gewinn ließ sie die schwarzen Vieren mit anderen Augen sehen. Vielleicht konnte sie sie in den Kreis ihrer Lieblingsblätter aufnehmen.
»Ted, willst du wieder zu früh folden?«, sagte Liam Newton. Plötzlich hatte sich der Brite kerzengerade auf seinem Stuhl aufgerichtet und blickte mit weit aufgerissenen Augen in die Runde.
Ashen seufzte bloß. Mads Richardsen, der zusammen mit Newton und Ashen an der Hand beteiligt war, hatte die Arme verschränkt und sich zurückgelehnt. Der junge Däne hatte vor dem Flop erhöht. Und auch jetzt, obwohl er als Small Blind zuerst an der Reihe war, hatte er wieder gesetzt. Ashen saß in der unangenehmen Position zwischen den beiden. Würde er jetzt callen, konnte es ihm passieren, dass Newton weiter erhöhte. Im Flop lagen eine Acht und eine Fünf in Karo, sowie die Pik-Zehn.
Sara hatte schon verdrängt, wie ihre Handkarten ausgesehen hatten, so schlecht war das Blatt gewesen.
Ashen zählte Chips, schob einen Stapel ein Stück nach vorn, zog ihn wieder zurück und erhöhte schließlich.
Newton lächelte in die Runde, als er seine Karten wegwarf. »Bei dem Irrsinn, der jetzt folgt, müsst ihr auf mich verzichten«, sagte er.
Sara verkniff sich ein Lächeln. Das war eine typische Aktion von Liam Newton. Hauptsache, verwirrende Signale senden. Darum ging es ihm die meiste Zeit.
Richardsen bezahlte. Es folgte das Pik-Ass als Turn, und wieder setzte der Däne.
Newton zwinkerte Sara zu. Sie lächelte und hoffte, dass sie nicht schon wieder rot wurde. Als sich der Brite ein Stück zu Sara beugte, als wollte er ihr etwas zuflüstern, folgte sie dieser Bewegung.
»Weißt du was, Sara?«, fragte er leise.
»Sicher. Ich weiß so einiges«, antwortete sie.
»Auch, dass wir gleich etwas zusammenrücken können?« Er zog eine Augenbraue hoch.
»Ja?«
»Wollen wir wetten?«
»Nein.«
»Wirklich nicht? Muss kein hoher Einsatz sein, wirklich. Vielleicht um einen Drink, sobald das Turnier zu Ende ist?«
Ashen hatte erneut gecallt. Aber beide hatten noch ausreichende Mengen an Chips vor sich liegen. Es sah nicht so aus, als würden sie gleich All-In gehen und einer von ihnen rausfliegen.
»Ich glaube, Sie täuschen sich.«
»Dann wette doch gegen mich.«
»Ich glaube, Sie wollen mich bloß zu einem Drink überreden. Egal, wer bezahlt.«
»Nein, wirklich. Mir geht es um eine ehrliche Wette.« Er verdrehte kurz die Augen.
»Ich glaube Ihnen kein Wort.«
»Du verletzt mich zutiefst.« Newton legte eine Hand auf die Brust, als wolle er sich ans Herz fassen.
Sara erwischte sich dabei, wie sie über einer schlagfertigen Antwort grübelte. Aber sie legte eine Vollbremsung hin. Grübeln und schlagfertig passten nicht zusammen.
›Denk nach‹, sagte sie zu sich selbst. Wer war von ihren Verdächtigen noch übrig? Ashen war es wohl nicht, Korhonen auch nicht. Jarun hatte überhaupt nichts mit der Sache zu tun. Ebenso wenig wie Bahring oder Velasquez, der nur durch Zufall Dixons letzte Hand mitgespielt hatte. Mads Richardsen hatte nach ihrem bisherigen Kenntnisstand keinerlei besondere Verbindung zu Dixon. Hofmann wusste zwar etwas über das Opfer, das nicht allgemein bekannt gewesen war, doch auch bei ihm fehlte bisher ein Motiv. Es blieb Liam Newton.
Sie flirtete mit einem potenziellen Mörder, ermahnte sich Sara in Gedanken. Sie sollte sofort damit aufhören.
»Lernen Sie damit zu leben«, antwortete sie mit einem aufgesetzten Grinsen. Doch es erschien ihr, als hätte Newton ihren Stimmungsumschwung bemerkt. Er öffnete kurz den Mund, ohne das ein Ton entwich. Als würde er ›Was ist los?‹ fragen. Sollte er nur.
Ashen foldete grummelnd, nachdem Richardsen nach dem River erneut gesetzt hatte. Die Karo-Fünf hatte das Blatt vollendet. Es gab also Möglichkeiten für eine Straße oder einen Flush. Ashen hatte offensichtlich keins davon getroffen und traute sich nicht zu überprüfen, ob Richardsen vielleicht bluffte.
»Daneben«, sagte Sara in Liam Newtons Richtung.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich würde den Drink dennoch bezahlen«, sagte Newton mit kurzer Verzögerung.
Es nutzte nichts, ihn jetzt vor den Kopf zu stoßen, dachte Sara sich. »Ich denke darüber nach«, antwortete sie mit einem Lächeln.
Doch Newton lächelte nicht zurück, sondern wendete seine Aufmerksamkeit den nächsten Karten zu.