»Also, erzähl mal: Wie bist du in diesem Job gelandet? Hängt das mit deinem Wodka-Fimmel zusammen?« Linus hatte beschlossen, jetzt erst einmal etwas über Pia selbst herauszufinden. Bei vorschnellen weiteren Fragen über Jenna würde sie sowieso wieder dichtmachen, glaubte er.
Vor ihm stand das zweite Glas mit russischem Kartoffelschnaps. Pia hatte behauptet, es würde große Unterschiede von Wodka zu Wodka geben, und wenn er schon mit ihr trinken wolle, dann solle er dabei auch etwas lernen.
»Schnaps ist Schnaps«, hatte Linus gesagt, aber das wollte sie ihm nicht durchgehen lassen. Den ersten hatte er fürchterlich gefunden. Am zweiten hatte er bisher nur genippt. »Schmeckt exakt gleich«, war sein Urteil. Doch Pia meinte, er müsse sich mehr darauf einlassen.
»Ich habe keinen Wodka-Fimmel«, sagte Pia. »Wir könnten das gleiche auch mit Grappa durchziehen. Oder mit Tequila. Aber ich vertrage die Zitronen nicht besonders.« Sie zwinkerte. »Nach der zehnten Scheibe schlagen die schrecklich auf den Magen, glaub mir.«
Linus hob die Hand. »Schon gut! Ich ziehe die Aussage zurück und erkläre dich offiziell für fimmelfrei. Wenn du mir erzählst, wie du hier gelandet bist.«
»Ach, das ist kompliziert.«
»Wenn Leute das sagen, lässt sich die Geschichte meistens in zwei Sätzen zusammenfassen.«
Sie runzelte die Stirn. »Zwei Sätze. Hmm. Das mit dem Studium war nicht so das Wahre und ich brauchte das Geld. Das war nur ein Satz. Aber ewig werde ich den Job nicht machen. Jetzt sind es zwei.« Sie hob ihr Glas und prostete ihm zu.
Er musste wohl oder übel mittrinken. »Siehst du, geht doch. War gar nicht kompliziert«, sagte er, nachdem er den Wodka runtergewürgt hatte.
»Wie wird man denn Journalist?«
»Wie ›man‹ das wird, ist schwer zu sagen.«
Sie verdrehte die Augen. »Wie bist du Journalist geworden?«
»Ah, das kann ich beantworten. Das mit dem Studium war nicht so das Wahre und ich brauchte das Geld.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber ich mag den Job.«
»Ich auch«, sagte Pia. »Selbst wenn ich mir hier halbe Nächte um die Ohren schlage.«
»Mich freut es, dass du das tust!«
Pia lächelte. Linus hatte ein bisschen befürchtet, dass sie sich nach dem Kompliment wieder mit einer Ausrede zum Arbeiten verabschieden würde, aber sie blieb.
»Was für eine Art von Bekannte ist eigentlich deine Bekannte?« Pia nickte in Richtung des Pokertisches.
Linus musste nicht überlegen, wie er darauf antwortete. »Die schlimmste.«
»Nein!«
»Doch«, er nickte mehrmals, um die Aussage stärker zu betonen.
»Du sitzt hier mitten in der Nacht, weil deine Exfreundin pokert? Dir ist klar, dass das ziemlich traurig ist?« Pia stockte kurz. »Exfreundin oder Exfrau?«
»Exfreundin.«
Pia schenkte Wodka in beide Gläser nach. Sie sah ihm tief in die Augen. »Willst du sie eifersüchtig machen?«
*
Sara bemerkte, dass Linus weiter mit der Barfrau flirtete. Sie drehte sich ein Stück in die Richtung, um die beiden genauer zu betrachten. Nein, sie spionierte Linus nicht nach, sagte sie zu sich selbst. Sie hätte nur gerne gewusst, ob er noch an ihrem Fall arbeitete oder nach und nach ins Private abglitt. Am Tisch passierte gerade wenig. Kurt Hofmann überlegte und überlegte, ob er in eine Hand einsteigen sollte. Sara hatte längst gefoldet.
Die beiden flirteten nicht nur, sie tranken Schnaps miteinander. Sara schüttelte unwillkürlich mit dem Kopf. Das war so typisch für Linus. Anstatt ihr wie versprochen zu helfen, ließ er sich vom erstbesten Rock ablenken, der ihm über den Weg lief. Sie hätte es wissen müssen.
»Liebeskummer, Sara?« Sie zuckte unwillkürlich zusammen, als wäre sie gerade bei etwas Verbotenem erwischt worden. Schnell drehte Sara sich wieder in Richtung Tisch.
Liam Newton hatte den Kopf schief gelegt, seine Sonnenbrille hielt er in der Hand. Dem Mann entging anscheinend nichts. Saras Hochachtung gegenüber Joel Dixon wuchs, wenn sie darüber nachdachte, dass der Newton offensichtlich hintergangen hatte. Leider gab das dem Briten ein astreines Motiv. Der Verrat musste seinen Stolz verletzt haben.
Oder?
Sara strengte sich an, die vergangenen Gespräche wieder in ihrem Kopf zu sortieren. Notizen wären wirklich hilfreich gewesen, aber sie musste ohne klarkommen. Newton hatte ebenso überrascht gewirkt wie Ted Ashen, als Kurt Hofmann ausgepackt hatte. Wenn er das nicht gespielt hatte, hatte er dann überhaupt ein Motiv? Vielleicht waren am Ende die Verschwörungstheorien, die Linus ihr vorhin erzählt hatte, stichhaltiger als ihre Mutmaßungen. Bisher war sie damit jedenfalls nur in Sackgassen gelandet.
Sie sah Liam Newton in die Augen. Sein Gesicht schien in dem Moment aufzuleuchten. Er lächelte. Obwohl Sara bewusst war, dass sie diesen Mann kaum einschätzen konnte, erschien es ihr vollkommen aufrichtig.
Sie lächelte zurück. ›Du musst auf der Hut bleiben‹, sagte sie zu sich selbst. ›Er könnte ein Killer sein. Du hast vielleicht die Gründe dafür noch nicht durchschaut.‹
»Nein, kein Liebeskummer«, antwortete sie. »Ich habe nur nachgedacht.«
»Worüber?«
»Das werde ich doch Ihnen nicht verraten!«
Er seufzte. »Schon klar. Aber versuchen musste ich es.«
Bei der nächsten Hand musste Sara als Erstes agieren. ›Under the Gun‹ hieß diese Position, die undankbarste beim Pokern. Sie musste jetzt mit dem Setzen beginnen. Obwohl sie mit Acht-Neun in Karo nicht ihr Lieblingsblatt auf der Hand hatte, gewann so eine Kombination bei nur noch fünf Spielern deutlich an Charme.
Doch Ted Ashen verdoppelte ihren Einsatz und Kurt Hofmann ging anschließend All-In. Sara warf ihre Karten weg. Ashen callte. Mit einem Damenpaar, wie sich zeigte. Hofmann hatte Asse. Die beiden hatten einen ähnlich großen Stack. Wer jetzt verlor, war raus.
Sara konnte sich ein Seufzen nicht verkneifen. Am liebsten hätte sie den Flop gar nicht gesehen. Damit hätte sie beide hohen Paare geschlagen. Aber das All-In zu callen wäre ein blödsinniger Zug gewesen, tröstete sie sich. Genau deswegen ging man ja mit Ass-Paaren und ähnlichem All-In: Damit die Spieler mit den miesen kleinen Kombinationen, die einem sonst am Ende das Genick brachen, das Handtuch warfen und ausstiegen.
Ashen erhob sich langsam. Obwohl das Licht in der obersten Etage des H3 ausgesprochen warm war, sah der Amerikaner blass aus. Die Schatten unter seinen Augen waren in den vergangenen Stunden deutlich gewachsen. Kein Wunder, er hatte seinen besten Freund verloren und dennoch das Turnier weitergespielt. Sara mochte sich kaum ausmalen, was in dem Mann vorging. Sie ignorierte die leise Stimme, die ihr zuraunte, dass sie sich irren und er immerhin der Mörder sein könnte.
Sie wünschte, sie könnte aufhören, jeden zu verdächtigen. Sie wünschte, sie hätte den Schuldigen endlich gefunden. Doch mit jedem Spieler, der den Tisch verließ, schwanden ihre Chancen.
Ashen klopfte zum Abschied kurz auf den Tisch.
*
»Kannst du dir vorstellen, dass der Typ da eine Affäre mit der Frau seines besten Freundes hatte?«, fragte Linus, als Ted Ashen vom Tisch aufgestanden war und den Raum durchquerte.
»Wirklich?«
»Ich hab dich was gefragt. Du musst schon antworten.« Linus atmete tief durch. Der letzte Wodka hatte anders geschmeckt als die davor. Besser. Irgendwie wusste er, dass ihn das beunruhigen sollte.
»Okay. Ja. Klar kann ich mir das vorstellen.« Pia kicherte. »Aber ich will’s nicht.«
»Aber genauso ist es. Und wer hat es herausgefunden?« Linus grinste. Er schaffte es knapp, sich so weit zurückzuhalten, dass er ihr nicht grinsend zuwinkte, während er das sagte.
»Du.« Sie tippte mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand auf seine Brust.
Linus nickte. »Genau!«
»Bist du Klatschreporter?«
»Nein!«
»Wieso beschäftigst du dich dann mit den Affären irgendwelcher Leute?«
»Das tue ich doch gar nicht.«
»Aber wie. Gerade hast du mir doch von dieser angeblichen Affäre von dem Typen da erzählt. Und vorhin wolltest du mich über Jenna ausfragen. Hat sie was mit einem Promi?«
Das war keine üble Erklärung für seine früheren Fragen, dachte Linus.
»Vielleicht«, sagte er. »Ich kann nicht darüber reden. Laufende … äh … Recherchen.«
»Na gut.« Sie sah ihn an, als würde sie Maß nehmen. »Schaffst du noch einen?«
»Nur, wenn du mittrinkst … Aber nicht jetzt. Ich muss kurz arbeiten.«