Poker

Sara hatte die beiden roten Zehnen auf der Hand, als sie im Big Blind saß. Auch wenn sie sich wünschte, Liam Newton stärker auf den Zahn zu fühlen – die Gelegenheiten waren rar. Um nicht in Rückstand zu geraten, musste sie regelmäßig vor dem Flop zu bluffen, um die Blinds einzustreichen. Das fiel ihr im Anbetracht so guter Gegner extrem schwer. Sara hatte allerdings einen deutlichen Vorsprung an Chips, nachdem sie Jarun und Hofmann aus dem Turnier geworfen und ihre Stacks eingestrichen hatte.

Liam setzte den dreifachen Big Blind. Mads Richardsen ging mit. Er sammelte die Chips aus einem der unregelmäßigen Stapel, die vor ihm lagen. Er mischte Chips verschiedener Wertigkeiten kreuz und quer, Sara fragte sich, wie er da den Überblick behalten konnte. Spieler mit unordentlichem Chipstapel, hieß es, spielten loose und blufften viel. Bisher war der junge Däne jedoch sehr zurückhaltend. Vielleicht variierte er sein Spiel – und das Chip-Chaos war eine Finte. Dass beide in die Hand einstiegen, missfiel Sara. Sie verkniff sich einen Seufzer, als sie erhöhte. Das hier könnte ein entscheidendes Blatt werden.

»Sara? Du bist auch dabei? Oder hast du es eilig mit unserem Drink?«, fragte Liam Newton.

»Ich habe noch nicht zugesagt.«

Beide callten.

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Eine Dame, zwei Jungen.

Sara war auf ihrem Stuhl nach vorne gerutscht, sodass sie sich weit zurücklehnen konnte. Sie blickte auf ihre Gegner, als der Flop umgedreht wurde. Mads Richardsen drehte mechanisch drei Chips zwischen seinen Fingern hin und her. Newton sah zu ihr und lächelte.

Richardsen war zuerst dran. Er zögerte.

»Was muss ich tun, damit du ja sagst?«, hauchte ihr Newton jetzt zu.

»So einfach wird das nichts, da kannst du Gift drauf nehmen. Außerdem wäre das nicht passend, nachdem vorhin jemand am Tisch er … gestorben ist«, antwortete Sara und fixierte Liam Newton. Sie hatte dieses eine Wort betont. Gift. Und sich mit Absicht versprochen.

›Komm, gib mir ein Zeichen. Zeig mir, dass du von dem Gift weißt, dass du es warst.‹

Sie hoffte darauf, dass irgendeine Geste Newton in diesem Moment verraten würde. Ein nervöser Blick zur Seite vielleicht, ein Zucken. Ein kurzes Erstarren. Doch sie sah nichts dergleichen.

Stattdessen legte Newton seinen Kopf in seine linke Hand, den Arm hatte er auf dem Tisch abgestützt.

»Ich will nur etwas mit dir trinken und ein bisschen reden. Mir tut es auch leid um Joel Dixon. Aber glaub mir, er wäre der Erste, der versteht, wenn man seinen Kummer zusammen in schöner Begleitung vergessen will. Also, komm schon, sag ja.«

Mads Richardsen setzte den halben Pot. Sara, die ihre Karten sowieso schon aufgegeben hatte, warf sie ohne Zögern weg. So schnell hatte sie ein Zehner-Paar selten an Wert verlieren sehen.

Ihr Herz schlug schnell, sie spürte noch immer Newtons Blick auf sich. Wieso hatte er nicht auf die versteckte Anschuldigung reagiert? War er so eiskalt? Oder war er unschuldig?

Sara schluckte. »In Ordnung.«

»Ja? Direkt nach dem Turnier. Du setzt dich nicht vorher ab?«

Das war es doch, was sie wollte. Ihn ausfragen und dafür sorgen, dass er hier blieb, in Reichweite der Polizei. »Ja. Versprochen.«

Vielleicht würde das Gespräch Liam Newton ja entlasten, irgendwie hoffte sie das. Selbst wenn das bedeuten würde, dass sie den eigentlichen Mörder schon aus den Augen verloren haben musste.

Newton grinste breit. Sara hätte in diesem Moment gern seine Augen gesehen. »Cool«, sagte er leise.

Dann callte Newton Richardsens Einsatz.

Der Dealer deckte das Kreuz-Ass auf. Richardsen setzte, Newton erhöhte, woraufhin Richardsen noch einmal raiste. Es wurde eine entscheidende Hand, dachte Sara. Schade, dass sie chancenlos gewesen war.

PikDame_SW.jpgPikBube_SW.jpgKaroBube_SW.jpgKreuzAss_SW.jpgPikNeun_SW.jpg

Die Pik-Neun kam als letzte Karte auf den Tisch.

Newton sah auf den Flop, dann sah er wieder zu Sara. Seine Mundwinkel hoben sich.

Sara blickte zu Mads Richardsen, der noch stiller geworden war als sonst. Sie hatte kurz den Eindruck, dass seine Hand leicht zitterte, als er seinen Chipstapel in die Mitte schob.

Sie merkte erst jetzt, dass sie sich wenig Gedanken über die möglichen Blätter ihrer Mitspieler gemacht hatte. Dafür war sie zu abgelenkt gewesen.

»Call.«

Newton antwortete sofort. Er hatte gar keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Er musste schon vorher entschieden haben, mitzugehen. Sara war erstaunt, dass ihm das parallel zu ihrem Gespräch gelungen war.

Nachdem der Dealer die Chips gezählt hatte, zeigte sich, dass die beiden fast gleichauf lagen. Richardsen hatte nur ein paar mehr Chips als Newton.

Newton drehte seine Karten schneller um, obwohl er nicht musste. Zwei Asse, Full House – und zwar das Beste, das es gab. Hatte Richardsen Ass-Junge oder Junge­-Dame und damit ein schlechteres Full House?

Seine Reaktion sprach für etwas anderes. »Ja«, sagte der Däne. »Ja, ja, ja.«

Er drehte die beiden anderen Jungen um.

Poker.

Liam Newton seufzte. »Wenn man einmal nicht aufpasst«, murmelte er. Er lächelte jedoch wieder, als er seine Sonnenbrille abnahm. »Gut gespielt«, sagte er zu Richardsen. »Und wir sehen uns gleich«, zu Sara. »Ich bin da drüben.«

Sie sah ihm nach, als er Richtung Bar ging. Es sah so aus, als wolle Liam Newton tatsächlich auf sie warten. Würde ein Mörder das tun?

Linus saß immer noch dort. Grigori Jarun, mit dem er sich eine Weile unterhalten hatte, war inzwischen gegangen. Sie würde zu gerne wissen, was die beiden besprochen hatten. Doch nun musste sie sich voll auf das Geschehen am Tisch konzentrieren.

*

Linus beobachtete, wie sich Liam Newton am anderen Ende der Bar auf einen Hocker hievte und etwas bestellte. Ihm war Saras Blick nicht entgangen, der dem Engländer gefolgt war.

Seufzend schob er sich von seinem Platz und setzte sich in Bewegung. Newton hatte seine Sonnenbrille wieder aufgesetzt. Linus nahm an, dass es eine Reaktion auf sein Näherkommen war. Der Mann hatte ihn garantiert voll im Blick. Linus beschlich das ungute Gefühl, dass er nicht mehr vollkommen normal ging. Oder? Wenn er jetzt diese Polizeikontrollen-Übung machen müsste, dieses Gehen auf gerader Linie mit geschlossenen Augen, das würde ihm doch gelingen? Mit Not hielt er sich davon ab, die Augen zu schließen und es auszuprobieren. Er hatte ein Ziel. Etwas aus diesem Liam Newton herauszubekommen, dass Sara noch nicht wusste. So wie Sara dem Mann hinterhergeschaut hatte, hatten die beiden eine Rechnung offen. Egal was es war, dachte sich Linus, er würde es herausfinden. Wenn der Pokerspieler nur nicht so breit grinsen würde.

»Hallo! Sie sind ein Freund von Sara.« Newton warf die Feststellung einfach zwischen sie, bevor Linus das Gespräch beginnen konnte. Wie er so etwas hasste!

»Ich weiß nicht, was Sie das etwas angeht.« Linus biss sich auf die Zunge. Das hätte er jetzt nicht sagen sollen.

Doch Newton grinste weiter, ihm schien nichts mehr die Stimmung verhageln zu können.

»Das geht mich überhaupt nichts an, natürlich. Aber es war so offensichtlich.«

»Ach«, sagte Linus. Der Engländer hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht. Wenn er ihm wenigstens in die Augen sehen könnte.

»Sie werden mich nicht ausfragen«, sagte Newton, jetzt plötzlich ganz ernst. Der spielerische Ton von eben war verschwunden.

Linus schluckte. »Was? Ich hatte doch gar nicht …« Er hielt inne. »Wie kommen Sie darauf?«

»Wie gesagt: offensichtlich.«

Linus kreuzte seine Arme vor der Brust zusammen. »Warum?«

»Das ist eine gute Frage.« Newton lächelte. »Warum Sie mich ausfragen wollen, macht die Angelegenheit so spannend. Klar ist, dass Sie die Spieler für Sara ausfragen. Ich habe Sie mit Tanja Korhonen gesehen, mit Ted Ashen und mit Jarun – sparen Sie sich also die Mühe, es abzustreiten. Aber Sie haben alle erst angesprochen, als sie ausgeschieden waren. Mit dem Turnier hat es also nichts zu tun. Sondern mit Joel Dixons Tod.«

Linus wünschte sich, er würde auch eine Sonnenbrille tragen. »Hmm«, brummte er bloß.

»Ich verrate Ihnen ein Geheimnis, wenn Sie mir danach eine Frage ehrlich beantworten«, sagte Newton, nun wieder freundlich.

In diesem Moment kapitulierte Linus. Er würde in diesem Gespräch nicht mehr die Oberhand gewinnen. Vielleicht, wenn er nüchtern gewesen wäre oder wacher, vielleicht hätte er dann eine Chance gehabt. Doch hier und jetzt hatte er verloren.

»In Ordnung.«

»Ich habe mir wirklich den Kopf zerbrochen, warum Sara diese ganzen Fragen stellt. Zuerst dachte ich, es ist eine Masche, die anderen aus der Fassung zu bringen. Ich dachte schon, dass sie ein ziemliches Biest sein muss, einen Todesfall derart auszunutzen. Dann sah ich sie mir so an und dachte: ›Nein, da steckt was anderes dahinter.‹ Aber was?« Newton hob beide Hände, um die Frage zu unterstreichen. »Hatte sie was mit Dixon am Laufen? Das konnte man bei ihm ja nie ausschließen.«

Als Newton kurz Luft holte, schoss Linus dazwischen. »Er hat Ihnen die Freundin ausgespannt.«

»Ja.« Liam Newton zuckte mit den Schultern. »Und? Am Ende hat er mir damit einen Gefallen getan, ganz ehrlich. Aber wir waren bei Sara, nicht bei mir. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nichts mit Dixon hatte. Ihre Fragen passten nicht dazu.« Der Engländer nahm die Sonnenbrille ab. »Glauben Sie wirklich, dass Dixon ermordet wurde?«, fragte er Linus.

»Ich? Nein. Na ja, ich weiß nicht. Möglich ist es.« Linus stoppte mit seinem Gestammel. »War das Ihre Frage? Und hatten Sie nicht gesagt, Sie würden mir ein Geheimnis anvertrauen?«

»Sie passen ja doch auf.«

»Also?«

Newton beugte sich ein Stück vor. Linus ging noch einen halben Schritt auf ihn zu, sodass ihre Köpfe dicht beieinander waren.

»Ich habe Joel Dixon nicht ermordet.«

Linus runzelte die Stirn.

»Deswegen wollten Sie doch mit mir sprechen«, sagte Newton. »Um herauszufinden, ob ich einen Mord begangen habe. Oder? Jetzt hätten wir das erledigt. Ist doch fantastisch, wie gut es für Sie gelaufen ist.«

»Hmm …«

»Würden Sie mich dann mein Bier trinken lassen? Ich bin wirklich erschöpft.« Der Engländer seufzte betont tief.

»Klar. Schönen Abend noch.«

Irgendwie war Linus froh, dass das Gespräch vorbei war.