Sara hatte aufgehört, sich zu sorgen, ob ihre Hände bei einem guten Blatt zitterten. Sie zitterten nämlich die gesamte Zeit. Sie hatte zugesehen, wie Liam Newton aus dem Turnier geworfen wurde. Nur noch Mads Richardsen und sie saßen am Tisch. Am einzigen Turniertisch, der noch übrig war. Sara hatte es kaum glauben können, als sie den Final Table erreicht hatte. Dass sie jetzt noch hier saß, war einfach verrückt. Zwischendurch hatte sie sich tatsächlich kurz gekniffen. Nein, es war kein Traum.
»Warum haben Sie geweint, Herr Richardsen?« Linus hatte Pias Beobachtung vorhin kurz erwähnt – neben den wilden Theorien ums organisierte Verbrechen. Bisher hatte Sara dieser kuriosen Tatsache wenig Bedeutung beigemessen – es war kein echter Anhaltspunkt. Doch nun war es eine der letzten Fragen, die sie noch übrig hatte.
Den Dänen nicht mit Vornamen anzusprechen, fiel Sara schwer. Er wirkte so jung. Ein bisschen erinnerte er sie an ihren kleinen Bruder. Wenn er in ihrer Gegenwart gesiezt wurde, machte sie es stets aufs Neue fassungslos.
»Das Einfrieren der inneren Uhr« hatte Linus das Phänomen mal genannt. Leute, die man seit seiner Jugend kennt – und die damals jünger waren – blieben einfach ewig im Kinder- und Jugendalter stecken. Genauso wie das gefühlte eigene Alter irgendwann vom realen abgehängt wurde und es nie wieder einholte. Wurde man nach seinem Alter gefragt, dann hatte man mit etwas Glück die passende Zahl parat, plus minus ein, zwei Jahre, aber das Gefühl sagte etwas anderes. So hatte Linus ihr das geschildert. Sara empfand es genauso. Und Mads Richardsen wirkte eben wie ihr Bruder, also schrecklich jung.
»Nennen Sie mich Mads«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Sara nickte. »Wenn du mich Sara nennst, gern«, antwortete sie.
»Okay, Sara. Aber die Geschichte ist etwas peinlich.«
»Ich erzähle es nicht weiter.«
Mads blickte kurz zum Dealer rüber, der gerade die Handkarten austeilte. ›Er könnte es weitererzählen‹, schien der Däne damit sagen zu wollen.
»Die Blinds, bitte«, sagte der Dealer prompt, ohne einen von ihnen direkt anzusehen.
Sara seufzte. Sie hatte solch eine Angst vor den nächsten Blättern. Mads und sie lagen fast gleichauf. Sie konnte das Turnier gewinnen. Selbst wenn sie Zweite wurde, würde sie eine riesige Party feiern und danach schwer überlegen müssen, wohin mit all dem Geld. Es könnte alles perfekt sein, dachte Sara. Bis auf die Tatsache, dass ihr der Mörder entwischt war.
Joel Dixon war umgebracht worden, direkt neben ihr. Sie hatte alle befragt, sie hatte sogar Linus mit auf die Suche geschickt – umsonst. Der Fall würde nie einer werden. Ein Mörder würde davonkommen. Oder aber sie war von Anfang an auf einer falschen Fährte gewesen, weil ihr der richtige Instinkt fehlte. So oder so: Der bittere Beigeschmack würde diesem Tag für immer anheften.
Mads, im Small Blind, erhöhte nur auf den doppelten Big Blind. Sara ging mit, sie hatte Dame-Neun. Mit nur noch zwei Spielern am Tisch war das ein passables Blatt.
»Und?«, fragte Sara. So schnell würde sie nicht locker lassen. Jedes Detail zählte. Vielleicht besaß Mads doch noch das entscheidende Puzzlestück, mit dem sich ein schlüssiges Gesamtbild ergab, auch wenn er nicht der Täter war. Sie wollte ihn zum Reden bringen. »Ich erzähle danach auch etwas Peinliches von mir, versprochen.«
»Echt?« Er strahlte sie mit seinen großen hellblauen Augen an. Nach den vielen Stunden, in denen Sara vor allem in Gesichter gesehen hatte, die durch Sonnenbrillen und Kapuzen verdeckt waren, bildete der Däne wirklich eine erfrischende Ausnahme.
»Versprochen.«
»Nein, du musst anfangen«, sagte Mads.
Der Dealer deckte drei Zahlen-Karten auf.
Kein Treffer, wie ärgerlich, dachte Sara. Aber ihr war eine gute Anekdote eingefallen.
»Okay, es war nicht schrecklich peinlich, doch ein paar Leute ziehen mich immer noch damit auf. Ist beim Pokern in einer kleinen privaten Runde passiert. Es war schon ziemlich spät. Nicht so spät wie jetzt hier, aber ich hatte erst wenig Poker-Erfahrung. Ich sehe mir mein Blatt an: König und Acht unsuited. Ich war – glaube ich – der Big Blind, jedenfalls konnte ich günstig ins Spiel einsteigen. Dann kommen doch tatsächlich König und Acht und irgendeine uninteressante Karte, ich glaube eine Fünf.«
Mads klopfte auf den Tisch. Sara tat das gleiche.
»Mein Mitspieler setzt etwas, ich gehe mit. Dann kommt als Nächstes eine Sieben. Der Pot steigt weiter – und dann wird eine weitere Acht aufgedeckt. Full House, großartig. Ich gehe All-In, mein Mitspieler geht mit. Er deckt eine Sieben und eine Acht auf – Full House. ›Ha‹, rufe ich, als ich meine Karten umdrehe. ›Aber ich habe das bessere Full House.‹ Alle gucken auf meine Karten, als ich sie umdrehe.«
Nach der folgenden Karte, die der Dealer umdrehte, eine Dame, checkte Mads wieder. Jetzt setzte Sara. Er stieg aus.
»Und dann?«, fragte er.
»Jemand fragt: ›Wieso?‹ Und ich sage: ›Mit Königen und Achten!‹ Dann sagt der: ›Mit welchen Königen?‹ Und ich stelle fest, dass ich Junge und Acht aufgedeckt habe.«
Mads lächelte. »Damit würde ich dich auch aufziehen. Hey, das kann ich jetzt sogar, cool.«
Sara zog die Chips zu sich, der Dealer gab bereits die nächsten Karten.
»Jetzt bist du dran mit erzählen.«
»Also gut.« Der Däne seufzte. »Joel Dixon war so etwas wie der Held meiner Jugend. Ich fand Pokern vom ersten Mal an spannend. Meine Eltern haben es mir gezeigt, wir haben manchmal um Arbeiten im Haushalt als Einsatz gespielt. Na ja, meine Eltern haben es schnell aufgegeben, weil ich fast immer gewonnen habe, obwohl ich allein gegen zwei spielte. Jedenfalls bekam ich Dixons Bücher zum Geburtstag, die habe ich verschlungen. Ich habe mich jedes Mal gefreut, wenn ich ihn im Fernsehen gesehen habe. Er war einfach cooler als alle anderen.«
Sara nickte, sie konnte das nachvollziehen. Inzwischen war ihr bewusst, dass Joel Dixon auch seine Schattenseiten gehabt hatte, doch die Bewunderung ihm gegenüber war dadurch nur unmerklich geschrumpft.
»Wegen ihm verzichte ich auf die Sonnenbrille«, sagte Richardsen. »Weil er recht hat, also hatte: Ohne ist’s spannender.«
Sara nickte. »Ist bei mir ähnlich.«
Sie foldete ihr Blatt. Mit Vier und Neun unsuited bezahlte sie nicht die Differenz vom Small Blind zum Big Blind. Mads bekam diesen Pot.
»Vergangenes Jahr bin ich das erste Mal auf ein großes Turnier gefahren, nämlich genau dieses hier in Hamburg. Ich wusste, dass Dixon teilnahm und wollte mir die Bücher signieren lassen. Das Turnier lief miserabel für mich. Ich bin nach drei Stunden ausgeschieden. Es war eine Menge Pech dabei, wirklich.« Der junge Däne grinste gequält. »Ich glaube, ich habe von sieben Coin Flips sechs verloren. Irgendwann sind die Chips halt weg. Egal. Ich wollte Dixon natürlich nicht beim Spielen oder in den Pausen stören, also habe ich gewartet.«
Diesmal foldete Mads seinen Small Blind. Der Dealer sammelte die Karten ein und gab neue. Sara bekam das nur aus dem Augenwinkel mit, sie konzentrierte sich auf die Erzählung des Dänen.
»Er schied an einem der letzten zwei Tische aus, als Fünfzehnter, das weiß ich noch genau, ich musste ja ziemlich lange warten. Als ich ihn fragte, ob er mir die Bücher signiert, meinte er, ich solle in einer halben Stunde zu seiner Suite kommen, davor hätte er keine Zeit.«
Mads sah kurz unter seine Karten und erzählte dann sofort weiter.
»Als ich hinging, hörte ich, na ja, recht eindeutige Geräusche aus dem Zimmer.« Mads kratzte sich am Kopf. »Ich habe eine Weile im Flur gewartet, ich wusste wirklich nicht, was ich machen sollte. Irgendwann kam eine Frau aus der Suite, eine der Kellnerinnen, das sah man an ihrer Kleidung. Sie starrte mich an, als fühlte sie sich ertappt. Sie fragte mich, ob ›er‹ mich geschickt hätte, um ihr nachzuspionieren. ›Nein‹, habe ich ihr geantwortet. Aber die Frau wurde laut und redete etwas davon, dass sie genug von Kontrollfreaks hätte und von Spannern und von einigem mehr. Ich fürchte, ich habe ein paar der Schimpfwörter nicht verstanden, obwohl ich immer dachte, mein deutscher Wortschatz sei diesbezüglich recht ergiebig. Aber mir war klar, was sie meinte. Ich solle mich verziehen, und zwar sofort. Das habe ich getan. Mit unsignierten Büchern.«
Sara blickte jetzt unter ihre Karten. Sie erhöhte, Mads foldete. Seine Geschichte ging noch weiter.
»Für dieses Turnier hatte ich mir vorgenommen, mir die Bücher signieren zu lassen. Und etwas mit Dixon zu sprechen. Aber dann war er plötzlich tot. Ich weiß auch nicht, das hat mich umgehauen. Ich hatte mich so darauf gefreut, ihn kennenzulernen, wenigstens ein bisschen. Verstehst du: Mein Jugendidol ist vor meinen Augen gestorben! Deshalb habe ich geweint.« Er zuckte mit den Schultern. »Das war’s. Erzähl es bitte nicht weiter.«
»Auf keinen Fall«, antwortete Sara, doch ihre Gedanken waren ganz woanders. Das musste Jenna gewesen sein. Die Kellnerin, die ein Geschenk in Dixons Zimmer hinterlassen hatte. Und inzwischen verschwunden war.
*
»Miguel!«
Die Stimme klang leicht panisch. Das war seltsamerweise das Erste, das ihm auffiel. Erst dann merkte Miguel Peres, dass seine linke Hand schmerzte. Und seine Schulter. Sein Kopf dröhnte. Er öffnete die Augen. Kacheln. Direkt neben seinem Kopf das Rad einer Bahre.
»Miguel. Mein Gott, hast du mir einen Schreck eingejagt.«
Eine Hand streckte sich zu ihm hin. Er nahm sie, ließ sich in eine sitzende Position ziehen.
Jetzt beugte sich Jochen zu ihm. Besorgter Blick. Der junge Mann war schrecklich blass. Er sah aus, als würde er selbst gleich zusammenklappen.
»Junge, du siehst jeden Tag Leichen. Da musst du doch nicht ausflippen, wenn du einen Ohnmächtigen findest.«
»Sehr witzig.« Das schien funktioniert zu haben, Jochen wirkte gleich etwas entspannter. »Was ist passiert? Soll ich dir einen Schluck Wasser bringen?«
»Schon gut. Gib mir einfach einen Moment.«
Miguel Peres atmete langsam ein und aus. Sein Mund war ausgetrocknet. Er kontrollierte seinen Puls. Langsam, aber stetig. Er war leicht verschwitzt.
Er blickte auf die große Uhr an der Wand, rechnete nach. Zwei Stunden waren vergangen. Mitten in der Nacht war es lange niemandem aufgefallen, dass er hier ohnmächtig geworden war.
Schräg über ihm lag der Leichnam von Joel Dixon. Was hatte er als Letztes getan? Peres erinnerte sich, dass er die Karten aus der Brusttasche gezogen und betrachtet hatte. Weil es ihn wunderte, dass die dort steckten. Danach war sein Blick auf Dixons Fingerspitzen gefallen, über die sich ein unnatürlich violetter Schimmer gelegt hatte. Peres hatte sich vorgebeugt. Danach kam der Filmriss.
Die beiden Streifenpolizisten hatten eine Wasserflasche vorbei gebracht, weil eine Kollegin vermutete, dass Dixon vergiftet worden war. Gift.
Er konnte die Substanz eingeatmet haben, dachte Peres. Nein, korrigierte er sich selbst. Die Leiche war kalt. Selbst wenn er etwas eingeatmet hätte, das hätte niemals reichen können, um ihm sein Bewusstsein zu rauben. In dem Fall hätten auch die Ersthelferin, der Notarzt und die Bestatter umfallen müssen. Aber davon war keine Rede gewesen.
Miguel Peres sah auf seine eigenen Hände. Wenn er wetten würde, dachte er, dann würde er nicht auf das Wasser setzen, das oben im Kühlschrank für die Toxikologie bereitstand. Und auch nicht auf etwas, das sich über die Atemwege verbreitete.
»Hast du die Karten in die Brusttasche gesteckt, Jochen?«
»Karten?«
Peres sah sich um. Dann rutschte er ein Stück. Er war auf sie gefallen. »Ja, Karten.« Jochens Blick folgte seinem.
»Nein. Ich hatte noch gar nichts gemacht. Ich wollte ihn gerade in den Kühlraum schieben. Deswegen war ich überhaupt unten.«
Jochen bückte sich.
»Nein«, rief Peres. »Nicht anfassen.«
Jochen hob die Hände. »Alles klar.«
Es musste ein äußerst potentes Gift sein. Möglicherweise eine Art Pfeilgift, wie man sie bei Fröschen in Südamerika fand. Die wirkten auch in sehr kleinen Dosen und verdammt schnell. Einen gesunden Menschen haute so etwas trotzdem nicht gleich um. Aber es war gut möglich, dass das Herzkreislaufsystem von Joel Dixon ohnehin angegriffen gewesen war.
In Europa waren Pfeilgifte alles andere als verbreitet. Während des Studiums hatte Peres damit geliebäugelt, einige Semester in der Heimat seines Vaters in Südamerika zu studieren. Dort würde man so ein Gift vielleicht besser einordnen können. Seine Ohnmacht allein war nur ein Hinweis, ein richtiges Testergebnis musste folgen.
Der Mediziner riss sich aus diesem Gedankengang. Er musste die Polizei informieren. Und auch die Polizistin, die den Hinweis gegeben hatte. Denn laut dem Bericht ihrer beiden Kollegen konnte es sein, dass sie auf eigene Faust ermittelte. Ganz langsam stand Peres auf, etwas wackelig auf den Beinen war er nach wie vor.
»Pack die Karten ein. Ich nehme an, dass die Kripo sie als Beweismittel haben will, aber zieh dir vorher Handschuhe an!«, befahl er Jochen. »Ich muss sofort telefonieren.«
»Hallo, das ist die Mailbox von Sara Hansen. Ich bin zurzeit nicht erreichbar, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht mit Ihrem Namen und Ihrer Telefonnummer. Ich rufe zurück.« Er sprach auf ihren Anrufbeantworter, es war immerhin möglich, dass sie ihn gleich abhörte.
Anschließend rief Miguel Peres die Bereitschaft der Kriminalpolizei an und berichtete von den Ereignissen und seinem Verdacht. Nach kurzem Überlegen wählte er eine dritte Nummer. Der Fall würde seinen Chef interessieren.