Dead Man’s Hand*

Sara warf, ohne zu zögern, als Erste ihr Blatt weg. Aus dieser Position und, ungleich wichtiger, zu diesem Zeitpunkt, wäre es Wahnsinn gewesen, mit Karo-König und Herz-Acht auf der Hand ins Spiel einzusteigen. Jetzt ging es ums nackte Überleben. Nur ein Teilnehmer musste noch ausscheiden, ein einziger, und sie würde als eine der letzten Neun am Final Table sitzen, dem letzten Tisch des Turniers. Dort würde sich entscheiden, wer heute gewann.

Die Lüster unter der Saaldecke schienen bei dieser Aussicht heller zu leuchten. Die Luft, von der Klimaanlage ausgetrocknet und dem Atem Hunderter Teilnehmer verbraucht, gewann für Sara etwas an Frische zurück. Sie war so kurz vor dem Ziel, nur ein paar Hände musste sie noch überstehen, bis es einen der anderen erwischte. Sara hatte beschlossen, diese kritische Phase wie so mancher Politiker einfach auszusitzen – auch wenn das nicht die klügste Strategie war, wollte man am Ende das gesamte Turnier gewinnen. Doch über diese Möglichkeit durfte Sara gar nicht nachdenken, allein bei dem Gedanken wurde ihr ein wenig schwindelig.

Sie blickte nicht nach links, wo sie gesehen hätte, wie sich jenseits der bodentiefen Fenster die Nacht über die Elbe legte. Das H3, Hotel Hamburger Hafencity, bot aus dem achtzehnten Stock einen phänomenalen Blick über die Stadt und den Hafen. Doch Sara, die sich an diesem Wochenende das erste Mal in der obersten Etage des vor Kurzem eröffneten Hotels aufhielt, besaß nicht die Muße, die Aussicht zu genießen. Sie konzentrierte sich vollständig auf die vier Männer, ihre vier Gegenspieler.

Sara hatte niemandem verraten, dass sie an diesem Pokerturnier teilnahm. Ihre Kollegen, ihre Freunde, allen voran ihre Familie hätten sie bloß ob dieses Irrsinns ausgelacht. Und dann mit Sicherheit nachgehakt, dieses Mal allerdings ernst, wie viel Geld sie dafür ausgegeben hatte. Es war eine höhere dreistellige Summe gewesen – womit sie noch günstig davongekommen war. Dreimal hatte Sara bei einem kleineren Turnier mitgespielt, bei dem es den Eintritt für diesen Abend zu gewinnen gab. Zweimal war sie mit nichts nach Hause gegangen. Beim ersten Mal war es schlicht Pech gewesen. Beim zweiten Turnier hatte sie einmal, nur einmal, die Nerven verloren und war prompt rausgeflogen. Das dritte Mal, das hatte sie sich vorher selbst versprochen, sollte der letzte Versuch sein – und behielt damit recht. Als eine der letzten Drei ergatterte sie ein Ticket für diesen Abend.

Den Erfolg hatte sie für sich behalten. Denn falls sie frühzeitig ausgeschieden wäre, hätte sie trotzdem diese Blicke ihrer Familie ertragen müssen: ›Wir haben doch gleich gewusst, dass das nichts wird, Mädchen. Du und deine verrückten Einfälle.‹ Sie konnte die Seufzer hören, die auf diese Sätze folgten. ›Mit dem Geld hättest du doch etwas Besseres anfangen können‹, hätte sie sich dann erzählen lassen müssen.

Sara unterdrückte ein Lächeln. Sie würde kein Seufzen aushalten müssen, keine Vorträge und vorgeblich gut gemeinten Ratschläge. Sie war nicht ausgeschieden, nein. Heute erfüllte sich einer ihrer Träume. Sogar mehr als das, wenn sie bis zum Final Table durchhielt. Nein, sie malte sich lieber nicht aus, dass sie theoretisch jenen Tisch gewinnen und 300.000 Euro Preisgeld einstreichen konnte. Sie würde so gut spielen, wie sie es eben vermochte. Falls sie das Turnier als Neunte verlassen würde, wäre sie zufrieden. Das versuchte sie sich jedenfalls einzureden.

Zugegeben, nicht nur zwei Dutzend überraschend leicht durchschaubare Gegner, sondern auch mehrere glückliche Hände hatten sie in diesen illustren Kreis befördert, der sich jetzt an den letzten zwei Tischen versammelte. Ihr war ebenfalls bewusst, wie sehr sie auf der Hut sein musste, denn mit Glück allein gewann niemand ein Turnier – und die leichten Gegner waren alle schon lange ausgeschieden.

Raúl Fernando Velasquez, wegen seiner Neigung, mitunter ohne erkennbaren Anlass in schallendes Gelächter auszubrechen, ›El Loco‹ genannt, hatte in der vergangenen halben Stunde nur Fortunas kalte Schulter gesehen. Auch Sara hatte ihm einen Teil seiner Chips abgeluchst. Jetzt lag vor dem Spanier gerade einmal das Zwölffache des Big Blinds. Jedes Mal, wenn die Karten neu gegeben wurden, musste jeder Spieler diese Summe einmal zwangsweise setzen. Alle zwanzig Minuten war der Big Blind gestiegen, inzwischen lag er bei 10.000 Chips. Dazu kamen im Turnier noch die Antes, kleinere Beträge, die allerdings bei jeder einzelnen Hand in den Pot in der Tischmitte gezahlt werden mussten. Und der Small Blind, der halb so groß war wie sein Bruder. Diese Einsätze erhöhten den Druck, mitzuspielen statt abzuwarten. Wer zu lange untätig war, den fraßen diese stetig zu zahlenden Summen unweigerlich auf. Und wer nicht mehr mitbieten konnte, war schnell aus dem Spiel.

Sara sah Schweißperlen auf El Locos Stirn kleben. Er trug seine Haare zu einem Zopf gebunden, sodass seine Geheimratsecken, auch sie von einem feinen Schweißfilm bedeckt, hervorstachen. Eine verspiegelte Sonnenbrille verdeckte seine Augen. Sie erschwerte es den anderen, seine Reaktionen zu entziffern. Sara meinte jedoch bemerkt zu haben, dass der Spanier seinen Mund nicht vollständig unter Kontrolle hatte. Jetzt stahl sich ein kurzes Lächeln auf seine vollen Lippen. Velasquez platzierte seine zwei Karten in einer sanften, geradezu liebevollen Geste exakt parallel nebeneinander vor sich. Er hatte ein Paar auf der Hand, mutmaßte Sara, wenn auch keine Asse, die als das beste Handblatt im ganzen Spiel galten. Sie tippte auf zwei Jungen oder Damen. So oder so war sie froh, ihre Karten sofort weggeworfen zu haben. Man musste sich die Kämpfe genau aussuchen, die man austrug.

Velasquez schob ein Drittel seines Stacks, also der ihm verbliebenen Chips, zur Tischmitte. Der Dealer zählte die Plastiktaler mit zwei schnellen Handgriffen und bestätigte den Einsatz.

»Raise auf 40.000.«

Sara nickte zufrieden, genau das hatte sie kommen sehen. Sie erstaunte nur, dass er nicht gleich alles setzte. Sein Stack war so zusammengeschmolzen, dass er sich schon jetzt nicht mehr erlauben konnte, aus dieser Hand auszusteigen. Das war allen am Tisch klar, glaubte Sara.

Die schwarzen Haare, die Velasquez’ Unterarme bedeckten, glänzten ebenfalls feucht. ›Verabschiede dich vom Turnier, es wird sowieso Zeit, dass du unter die Dusche kommst, Loco‹, dachte sie. Jetzt lehnte sich der Spanier zurück und gestikulierte wild in Richtung Bar. Warum auch immer er gerade jetzt ein Getränk ordern musste. Sara sah aus den Augenwinkeln, wie sich sofort eine Kellnerin in Bewegung setzte.

Die Finger von Kurt Hofmann, dessen Anwesenheit an diesem Tisch neben Saras wohl die größte Überraschung war, zitterten leicht, als er seine Handkarten wegwarf. Sara hoffte, dass sie ihre Aufregung besser kaschierte. Hofmann hatte sich online für dieses Turnier qualifiziert. Das war zwar nicht ungewöhnlich, doch der Schweizer hatte vorhin erzählt, er hätte erst vor zwei Monaten das erste Mal online gepokert und bisher kein einziges Mal in seinem Leben an einem echten Tisch gespielt. Sara vermochte der Story nicht so recht zu glauben: Der Typ log.

Hofmanns Augen waren nicht nur von einer Sonnenbrille verdeckt, ein Baseballcap überschattete zusätzlich seine Stirn. Eine weitere Taktik, die Pokerspieler verwendeten, damit die Gegner ihre Gefühlswelt noch schlechter einordnen konnten. Sara hatte sich einer anderen Methode bedient. Gestern und heute früh hatte sie ihr Haar, das sie sonst zu einem strengen Pferdeschwanz trug, aufwendig geföhnt, damit es in glänzend blonden Flechten bis auf ihre Schultern fiel. ›Ich bin harmlos‹, sollte das signalisieren. Eine Frau, eine Blondine, sie mussten sie nicht ernst nehmen, die Männer. Es waren hauptsächlich Männer, gegen die sie gestern und heute gespielt hatte.

Die ersten drei Verdopplungen ihres Stacks gelangen ihr, indem sie mit leicht geweitetem Blick aus scheinbarer Ignoranz bei den immer höheren Einsätzen ihres Gegners mitging, also ›callte‹, ohne selbst zu erhöhen. Eine Vorgehensweise, die man häufiger bei schlechten Spielern sah. Spieler, die selten genug Initiative zeigten, selbst zu erhöhen, sich jedoch nicht von ihrem Blatt trennen konnten und deshalb immer brav bezahlten, wurden manchmal als Nashörner bezeichnet – oder als ›Calling Station‹. Sara spielte mit Absicht, als sei sie eine Calling Station, sodass ihr Gegner nach der fünften und letzten Karte, dem sogenannten ›River‹, seine gesamten Chips setzte. Dass sie bereits eine kaum schlagbare Hand hatte, als erst drei Karten auf dem Tisch lagen, hatten ihre Gegner allesamt nicht kommen sehen – offensichtlich. »Verdammtes Anfängerglück«, hatte der erste durch zusammengepresste Zähne gedrückt. »So kommst du nicht weiter, Dummchen.«

Sara hatte ihn nur angelächelt. Wenn er das sogar nach seiner Niederlage noch glaubte, machte sie ihre Sache gut. Solch leichte Beute würde sie jetzt nicht mehr einfahren. Jetzt musste sie all ihr Können in die Waagschale werfen, um nicht selbst das nächste Opfer zu werden.

Ted Ashen, die erste der zwei US-Pokerlegenden am Tisch, beschloss, seinen Small Blind, also die 5.000, die er setzen musste, nicht zu verteidigen und foldete. Ashens Stack war so groß, dass die fehlenden Chips kaum ins Gewicht fielen, wenn er mitgegangen wäre. Aber der alte Profi war ein zurückhaltender Spieler. Sarah hatte das Gefühl, Enttäuschung im Gesicht von Velasquez zu sehen. Es bestärkte sie in ihrer Vermutung, dass der Spanier ein hohes Handpaar hielt.

»Call.«

Joel Dixon schnipste einige Fünftausender-Chips in Richtung Tischmitte. Die lässige Überheblichkeit dieser Geste ließ Sara schlucken. Selbst mit einem Königspaar auf der Hand hätte sie jetzt Muffensausen. Der Mittfünfziger hatte schon einen Namen in der Pokerszene, als Sara noch die Schulbank drückte – und als in Deutschland höchstens ein paar Kriminelle in Kiezkneipen das Kartenglück ausreizten. Dixon habe ein Vermögen verspielt, aber mehrere gewonnen, hieß es. Mit Kinkerlitzchen wie Sonnenbrille oder Baseballmütze hielt er sich nicht auf. Er zählte zu der Fraktion von Profispielern, die sogar ein Verbot dieser Accessoires bei Turnieren forderten, vor allem, wenn diese im Fernsehen übertragen wurden. »Damit die Zuschauer mehr davon haben«, hatte Sara ihn einmal bei einem Interview am Rande eines Turniers sagen hören. Ob er es tatsächlich der Zuschauer wegen forderte oder sich selbst davon Vorteile erhoffte – auch hier konnte Sara leider nur mutmaßen, worin Dixons wahre Motivation bestand.

Die wirklich guten Pokerspieler spielten nicht ihr Blatt, sondern den Gegner, hieß es. Dixon war ein Meister darin. Bereits dreimal hatte er ihr den Big Blind abgeknöpft, indem er aus dem Small Blind heraus erhöht hatte, und Sara wurde das Gefühl nicht los, er hatte ihr damit einen Gefallen getan, weil er sie viel mehr hätte schröpfen können. Zum Glück waren sie erst an diesem Tisch aufeinander getroffen, dachte Sara. Andernfalls würde sie wahrscheinlich längst zu Hause auf der Couch sitzen und sich über ihr Ausscheiden ärgern.

Velasquez presste kurz die Lippen zusammen. Vielleicht war ihm etwas Ähnliches durch den Kopf gegangen wie Sara und wahrscheinlich wäre ihm jeder andere am Tisch als Gegenspieler lieber gewesen. Auf der anderen Seite war es ja an dieser Stelle fast egal, die Hand lief darauf hinaus, dass El Loco All-In gehen – alles setzen – musste und entweder mit Glück sein Kapital verdoppelte oder aber ausschied.

Hoffentlich hatte er kein Glück, ging es Sara durch den Kopf. Sie drückte aus rein egoistischen Gründen dem Amerikaner die Daumen: Sein Sieg würde ihren Einzug an den Final Table mit sich bringen.

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Pik-Sieben, Pik-Zehn, Pik-Junge.

Als der Dealer in fließenden Bewegungen den Flop umdrehte, freute sich Sara wieder, ihr Blatt weggeworfen zu haben. Dixon ließ sich, bevor er etwas sagte, eine kleine Flasche Mineralwasser von der Kellnerin reichen, die gerade mit einem Tablett an den Tisch trat. In aller Ruhe sog er einen Schluck durch den violetten Strohhalm, bevor er die Flasche auf einem Seitentischchen schräg hinter Sara und sich abstellte. Dabei lächelte er sie ebenso kurz wie breit an, woraufhin Sara fast rot geworden wäre. Dixon trank bei Turnieren nur stilles Wasser aus 0,2-Liter-Flaschen mit Strohhalm. Doch damit lag er, wenn es um Promi-Marotten ging, ziemlich weit hinten, fand Sara.

Dixon tippte mit Zeige- und Mittelfinger auf seine beiden Karten. Er sah nicht noch einmal darunter, um sich zu vergewissern, was dort lag. Natürlich nicht. Falls das Tippen irgendetwas verraten sollte, wusste Sara nicht, was. Ein paar Mal hatte er das schon gemacht, dann aber wieder nicht. Manchmal ließ er seine Hände auch auf den Karten ruhen, jedoch ohne sie komplett zu verdecken. Sie speicherte das Tippen trotzdem ab – für die Duelle mit dem Amerikaner, die ihr noch bevorstanden. Sie hoffte ja, gleich zu sehen, was die beiden Männer auf der Hand hatten. Es war immer ein Geschenk, die Handkarten eines Mitspielers zu sehen, ohne mit eigenen Chips dafür bezahlen zu müssen.

Jetzt klopfte Dixon auf den Tisch. »Check.«

Seine tiefe, sonore Stimme erinnerte Sara an einen Cowboy, der den Colt schon in der Hand hielt, während sein Gegner noch am Gürtel nestelte.

Check.

Und tot bist du.

Sara versuchte, diese Gedanken zu zügeln. ›Du darfst nicht so viel Angst vor ihm haben! Dixon hält wie jeder andere nur zwei Karten in der Hand. Respekt ist gut, Angst nicht. Du sitzt neben ihm an diesem Tisch, du hast zwei Tage lang Erfolg gehabt, du wirst weiter gut spielen. Lass dich bloß nicht aus der Ruhe bringen‹, sprach sie sich stumm Mut zu.

Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Sieben Minuten vor zehn. Die Blinds würden bald wieder steigen.

Velasquez kratzte sich am Kopf. Die Kellnerin stellte eine Cola neben ihm ab, was dem Spanier völlig entging, obwohl er sie eben erst mit großer Geste bestellt hatte. Seltsam. Sara konnte dabei zusehen, wie sich weitere Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Die Preisfrage lautete: Was hatte Dixon auf der Hand? Lächelte er, weil er zwei Pik präsentieren konnte und damit einen Flush auf der Hand hatte – fünf Karten derselben Farbe? Dann hätte er El Loco erwischt, selbst wenn der zu dem Jungen auf dem Tisch zwei weitere legen konnte.

Velasquez klopfte ebenfalls, ohne erneut sein Blatt zu prüfen.

Dixon lachte laut auf. Von der Seite sah Sara ihn zwinkern. Seine Augen zierten kleine Fältchen. Sara lächelte unwillkürlich mit. Ihr erstes theoretisches Pokerwissen hatte sie sich mit einem von Dixon verfassten Buch angeeignet. Es erschien ihr immer noch surreal, jetzt neben ihm zu sitzen. Vielleicht würde sie ihn nach dem Ende des Turniers um ein Autogramm bitten.

»Das Blatt musst du anders spielen. Das habe ich dir doch schon gesagt.« Dixon grinste selbstzufrieden.

Velasquez räusperte sich, antwortete aber nicht.

Die nächste Karte, der River, kam auf den Tisch: Herz-Zwei.

Auf die hatte sicher keiner der beiden gewartet. Es sei denn, Dixons Finger hatten auf ein Paar Zweien getippt. Sara hatte wirklich keinen blassen Schimmer, mit was der Mann gerade spielte. Dixon nuckelte noch einmal an seinem Wasser, bevor er wieder klopfte. Anschließend legte der Amerikaner Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand auf seine Karten, schob den Daumen behutsam darunter, als wolle er sie anheben, um sein Blatt zu überprüfen, doch das tat Dixon nicht. Er spielte mit Velasquez, dachte Sara, wie die Katze mit der Maus. Er zögerte die Vernichtung seines Opfers bloß hinaus. Geradezu grausam.

»All-In.« Raúl Fernando Velasquez biss sich auf die Unterlippe, bevor er den Rest seines kläglichen Stacks in die Mitte schob.

Obwohl Sara die Hand gar nicht mitspielte, hielt sie die Luft an.

›Geh mit, wirf ihn raus und ich bin am Final Table!‹, feuerte sie Dixon lautlos an. ›Poker ist eine brutale Angelegenheit.‹

Doch es kam anders. Joel Dixon, der in einem Monat 55 geworden wäre, aber mit seinem dichten, hellblonden Haar eher aussah wie 45, griff sich plötzlich an den Hals. Er atmete röchelnd aus und rutschte seitlich vom Stuhl. Kein Knirschen, kein Knacken, kein Knall folgte. Vielmehr glitt der knapp 1,80 Meter große Mann nahezu geräuschlos hinunter auf den dicken, dunkelblauen Teppich.

Sara investierte keine Sekunde, um die Reaktionen der anderen zu abzuwarten. Sie schob ihren Stuhl mit einer Wucht nach hinten, dass er ein gutes Stück durch die Luft flog, und warf sich neben Dixon auf den Boden. Seine Beine waren halb unter den Tisch gerutscht, sein sonnengebräuntes Gesicht plötzlich aschfahl. Er atmete nicht mehr. Sara fühlte keinen Puls. Auf der Arbeit hatte sie alle Ersthelfertechniken gelernt. Sie trainierte regelmäßig für den Notfall und wusste, was zu tun war. Sie fixierte kurz die erste Person, mit der sich ihr Blick kreuzte, als sie aufsah. Es war eine Kellnerin. Direkte Ansprache war ungemein wichtig.

»Rufen Sie sofort einen Notarzt!«, sagte sie mit möglichst ruhiger Stimme. Danach hörte Sara auf, ihre Umgebung zu beachten und begann mit der Herzmassage. Sie drückte kräftig zu. Auch wenn sie mit ihren 160 Zentimetern klein war, war sie weder besonders zierlich noch schwach. Und in solchen Momenten half es nicht, zimperlich zu sein, das galt im Arbeitsalltag ebenso wie hier. Um sie herum sprangen Menschen auf, rannten umher. Jemand kniete sich neben sie. Eine Frau schrie mehrmals. Ein Klatschen ertönte, als hätte sie jemand geohrfeigt. Sara nahm das alles nur flüchtig wahr. Sie ließ sich nicht ablenken. Sie musste dieses Leben retten.

Sie hätte nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen war, bis endlich der Notarzt auftauchte und sie beiseite schob. Sara blieb am Boden knien, nur ein Stück weiter entfernt, um dem Mediziner nicht in die Quere zu kommen. Sie schmeckte Galle in ihrem Mund und fühlte sich noch immer wie in Trance, als einer der Sanitäter sich über sie beugte und ihr eine Hand auf die Schulter legte.

»Geben Sie sich keine Schuld. Sie haben alles getan, was möglich war. Seine Zeit war eben gekommen.«

Sara nickte, eine Antwort blieb ihr in der Kehle stecken. Sie kannte solche Sätze, sie benutzte sie selbst oft genug im Job, egal ob sie zutrafen oder nicht. Manchmal zählte es mehr, den Menschen ihr Selbstvertrauen zurückzugeben, als die Wahrheit zu sagen, fand Sara. Auch wenn manche ihrer Kollegen da eine ganz andere Meinung vertraten.

Die Sanitäter hievten Dixon auf eine Trage. Nein, mittlerweile war sie zu einer Bahre mutiert. Lebende kamen auf Tragen, Tote auf Bahren. Ein himmelweiter Unterschied, dachte sie.

Als Sara auf den Boden blickte, sah sie Dixons letztes Pokerblatt dort liegen. Es musste bei seinem Sturz vom Stuhl mit hinuntergefallen sein. Sie lagen offen dort, Sara kam nicht umhin, sie anzusehen, obwohl man Mitspielern doch nicht in die Karten sah.

PikAss_SW.jpgPikAcht_SW.jpg

Pik-Ass und Pik-Acht. Dead Man’s Hand. Was für ein absurder Zufall, schoss es ihr durch den Kopf. Wild Bill Hickok, ein Revolverheld aus dem Wilden Westen, war während einer Pokerpartie erschossen worden, als er genau diese Hand hielt. Damals hatte er nicht Texas Holdem gespielt und vier Karten auf der Hand gehalten – also beide schwarzen Asse und die passenden Achten. Der Name wurde trotzdem für eine schwarze Acht und das passende Ass in die an Anspielungen nicht gerade arme Pokersprache übernommen. Saras Blick fiel noch einmal auf den Flop. Egal, was Velasquez für ein Blatt in der Hand hielt, er hätte mit größter Wahrscheinlichkeit verloren und wäre ausgeschieden, wenn sein Gegenspieler noch hätte antworten können.

Wie praktisch für El Loco, dachte Sara.

Einer der Sanitäter hatte offensichtlich ihren Blick auf die Karten gesehen. Er hob sie auf und schob sie in Brusttasche von Dixons Hemd. Es war eine nette Geste. Sara lächelte ihn an. Er lächelte zurück.

Die Sanitäter brachten Dixons Leichnam in die Garderobe. Zwei Angestellte hatten hastig Jacken und Mäntel in einen weiteren sich anschließenden Raum gebracht, um Platz zu schaffen. Eine Frau in dunkelblauem Kostüm gab den zwei leise Anweisungen. Als die beiden Angestellten fertig waren und gingen, nickte die Dame dem Arzt zu und zog sich ein Stück zurück – außer Hörweite, aber mit Blick auf den Raum. Sie würde andere Gäste davon abhalten, die Garderobe zu betreten. Doch Sara sorgte dafür, durchgelassen zu werden. Sie trug zwar heute keine Uniform, doch sie war gut darin, jemandem zu versichern, dass eine Sperre nicht für sie galt. Mit der Taktik würde sie auch ein paar Informationen vom Mediziner bekommen.

Der Notarzt breitete seine Formulare auf dem Garderobentresen aus. Sara musterte ihn kurz. Die tiefen Schatten unter seinen Augen ließen ihn älter wirken, als er tatsächlich war. An seinen Schläfen färbten sich die braunen Haare grau. Ein Blick auf seine Hände verriet Sara, dass er rauchte und unverheiratet war. Seine Mundwinkel zeigten nach unten. Das konnte alles und nichts bedeuten – vielleicht war er schlicht genervt, diesen Sonntagabend im Einsatz zu sein und nicht bei Freunden. Sara konnte das nachvollziehen. Sie war oft genug selbst in derselben Situation.

Jetzt oder nie, dachte Sara und räusperte sich. »Ich bin Polizeioberkommissarin Sara Hansen«, sagte sie zu dem Arzt, »guten Abend.«

Er blickte auf. »’n Abend. Christian Plöger.« Und nach einer kurzen Musterung: »Sie sind nicht im Dienst, oder?«

»Nein«, sagte Sara. »Ich war dabei, als Joel Dixon gestorben ist.«

»Und nun?«

»Nun will ich wissen, woran er gestorben ist.«

Der Arzt zog kurz die Lippen zusammen. »Es deutet alles auf einen Herzinfarkt. Mann Mitte 50, leichtes Übergewicht, garantiert schlechte Blutwerte, die Aufregung während des Turniers. Da lauert der Infarkt doch an der nächsten Ecke. Kann natürlich sein, dass die Kollegen in der Rechtsmedizin das anders sehen, aber darauf würde ich nicht wetten.«

»Er kommt in die Rechtsmedizin?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Sara wusste, dass jemand, der in Hamburg im öffentlichen Raum gestorben war, immer dorthin gebracht wurde.

»Sicher, zur äußeren Leichenschau«, antwortete der Arzt.

»Wann findet die statt?«

»Morgen früh, wenn Sie dort mit ihrer Routine beginnen. Reicht ja. Er läuft uns schließlich nicht mehr weg.« Sara kannte diese Form von Humor, was allerdings nicht bedeutete, dass sie sie schätzte.

»Keine Obduktion?«

Plöger schüttelte den Kopf. »Nicht bei einem Infarktpatienten.«

Sara schwieg einen Moment, während die Gedanken durch ihren Kopf rasten. Es erschien ihr höchst seltsam, dass ein Pokerprofi kurz vor dem Einzug an den Final Table an einem Infarkt starb. Sara hatte Dixon eine Weile beobachten können, er war ihr nicht wie ein kranker Mann vorgekommen. Etwas zu dick, klar. Aber ein wenig Übergewicht allein brachte noch niemanden um. Dass Dixon die Aufregung nicht verkraftet haben sollte, war schier absurd. Der Amerikaner hatte mehrmals am Finaltisch der World Series gesessen. Ein vergleichsweise kleines Turnier in Hamburg sollte sein Nervenkostüm kaum beeinflusst haben. Der Gedanke in Saras Kopf nahm immer klarere Form an: Jemand hatte Joel Dixon ermordet. Und der Täter befand sich hier auf der Etage, wahrscheinlich sogar am Pokertisch, an dem sie eben gesessen hatte. Oder am Tisch direkt nebenan.

»Aber wenn es kein Infarkt war?«, fragte sie daher. »Wenn er ermordet wurde?«

»Frau Hansen, das war doch Ihr Name, oder?«, sagte er schließlich nach einem Moment des Schweigens. Sara nickte. »Also, Frau Hansen, wenn Sie meine fachliche Einschätzung wollen: Infarkt – mit der Diagnose kommt er auch in die Rechtsmedizin. Traurig, aber kein Einzelschicksal. Falls Sie glauben, ich verstehe nichts von meinem Job, besprechen Sie Ihre Theorie doch mit Ihren Kollegen.«

Auf die musste Sara nicht lange warten: Eine ältere dunkelhaarige Frau mit dem Ansatz eines Oberlippenbarts und ein jüngerer, untersetzter Mann kamen gerade auf sie zu. Leider kannte Sara beide nicht.

»Sara Hansen, Oberkommissarin«, stellte sie sich vor, ehe der Notarzt etwas sagen konnte. »Ich war dabei, als Joel Dixon gestorben ist.«

»Michael Rust.«

»Gerlinde Bäseke.« Sie gaben sich die Hand. »Was haben wir denn hier?«

»Mann, Mitte 50. US-amerikanischer Staatsbürger. Vorläufige Diagnose: Tod durch Herzinfarkt«, sagte der Notarzt und kam diesmal Sara zuvor. »Plöger, mein Name.« Die zwei Streifenpolizisten stellten sich noch einmal vor.

»In Ordnung, danke«, sagte Bäseke. »Wir bestellen den Bestatter.«

»Moment«, sagte Sara. »So einfach ist das nicht. Hier ist überhaupt nichts klar.«

Die beiden hielten erstaunt inne.

»Ich glaube, er wurde ermordet.«

Bäseke sah sie mit großen Augen an. Rust prustete kurz und leise, aber nicht leise genug, als dass Sara es nicht bemerkt hätte. Das ging sich nicht gut an.

»Haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte dafür?«

Und schon hatten sie sie, dachte Sara. »Instinkt«, antwortete sie, ahnend, dass sie damit auf verlorenem Posten stand. Wenn sie ihren Verdacht nicht begründen konnte, würden die Kollegen nicht ihr, sondern dem Arzt glauben. Versuchen musste Sara es dennoch.

»Jemand wie Joel Dixon rutscht doch nicht einfach so vom Stuhl und ist tot, mitten in einem Turnier.« Bäseke blickte sie weiter stumm an. Rust stand, die Hände locker auf der Hüfte abgestützt, schweigend daneben.

Bäseke räusperte sich. »Da ich diesen Namen heute das erste Mal höre, müssen Sie schon erläutern, was diese Aussage bedeutet.«

»Dass Joel Dixon vorhin bestimmt nicht sonderlich aufgeregt war. Er war ein Profi, er hat unzählige solcher Turniere gespielt. Dass er heute gestorben ist, lag nicht an seiner Gesundheit.«

»Sie wissen also mehr über seinen Gesundheitszustand?«, fragte der Notarzt von der Seite.

Sara seufzte. »Nein. Aber mein Instinkt sagt mir, da wurde etwas nachgeholfen.«

Für einen Moment betretenes Schweigen.

»Mehr nicht?«, fragte Bäseke schließlich.

Sara atmete schwer aus. »Bislang ist es nur ein Verdacht. Aber bei einer Ermittlung würde sich etwas finden. Garantiert.«

Bäseke wandte sich noch einmal zum Arzt. »Sie sind sich sicher mit dem Infarkt?«

»So sicher, wie ich das bei einer Diagnose hier vor Ort sein kann. Sie wissen selbst, dass ich nur einen vorläufigen Totenschein ausstelle. Aber es würde mich sehr wundern, wenn die Rechtsmedizin eine andere Todesursache feststellt. Sehr wundern.« Er hob die Hand und streckte kurz den Zeigefinger aus, um seine Worte zu unterstreichen.

»Hmm … also Instinkt. Nichts gegen Ihren Instinkt, Frau Hansen, wirklich nicht. Aber der Arzt sagt, es war ein Infarkt. Und der hat Sachverstand. Sollen wir wegen Ihres Instinkts einen Fall aufmachen? Die Bereitschaft der Kripo am Sonntagabend anrufen und sagen: ›Die Frau Hansen, die hat da so ’ne Ahnung‹?« Sie lächelte Sara betont freundlich an. »Nee, den Spott muss ich mir nicht antun. Und Sie können auch ohne leben, glauben Sie mir. Die Kripo bekommt die Akte sowieso auf den Tisch. Falls die Ihren Verdacht teilen, laufen morgen alle Rädchen an und es wird ermittelt.«

»Genau«, sagte Rust. »Lassen Sie das in den Händen der Kollegen, die dafür zuständig sind. Sie sind doch momentan nicht mal im Dienst.«

Morgen war es zu spät, wollte Sara antworten. Die Hälfte der Verdächtigen saß dann schon im Flieger, auf dem Weg nach Hause in die USA, nach Russland, in die Schweiz oder unterwegs zum nächsten Turnier in Sydney, Hongkong oder wer weiß wo. Unter den Umständen einen Fall aufzumachen wäre ein Albtraum. Selbst wenn jemand einen ähnlichen Verdacht schöpfen würde wie sie, bestand die Gefahr, dass die Angelegenheit trotzdem zu den Akten gelegt wurde – um sich diesen Aufwand zu ersparen. Doch bevor Sara etwas erwidern konnte, redete Rust weiter.

»Mein Onkel ist an einem Infarkt gestorben«, sagte er. »Ein Bär von einem Mann. Immer ein bisschen rot im Gesicht, aber fit. Bis er plötzlich umfiel. Ich konnte es damals auch nicht fassen. Es ist schwer, so etwas hinzunehmen.«

Sara sah den Notarzt nicken, Bäseke schloss kurz die Augen, was ebenfalls wie eine Zustimmung aussah. Das war nun einmal der Lauf der Dinge, wollten sie ihr alle sagen, ein natürlicher Todesfall. Lass es gut sein.

Sara merkte, dass sie die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Sie würde die anderen nicht überzeugen können. Wenn sie die Situation nüchtern betrachtete, konnte sie die Kollegen sogar verstehen. Sie musste auf die beiden wirken wie eine Verrückte. Als Polizist hörte man ständig Verschwörungstheorien.

Sie war geradezu dankbar, als Bäseke wieder das Wort ergriff.

»Auf welche Weise soll der Mann Ihrer Meinung nach denn getötet worden sein?«, fragte sie.

»Vergiftet«, antwortete Sara. Sie erinnerte sich genau an die Momente vor Dixons Tod. »Er hat einen Schluck Wasser getrunken, direkt bevor er gestorben ist. Lassen Sie die Flasche in die Rechtsmedizin bringen. Darin wird man sicher etwas finden.« Sie lächelte. Sie war nicht bekloppt. Nein, sie hatte einen begründeten Verdacht.

»Ach, kommen Sie«, platzte es aus dem Arzt heraus. »Gift? Wissen Sie, wie selten Giftmorde sind? Die kommen in Krimis vor, aber so gut wie nie im echten Leben. Ich habe in meiner Laufbahn schon einige Vergiftete versorgt. Die, die sich mit Schmerztabletten überdosiert haben. Oder Pilzsammler, zum Glück waren das nach Tschernobyl nicht mehr so viele. Und Jugendliche mit Methanolvergiftung, das ist wirklich eine traurige Angelegenheit. Aber ein Giftmord, der ist mir noch nie untergekommen.«

›Klar‹, dachte Sara, ›du stempelst ihn ja auch als Herzinfarkt ab.‹ Sie sah den Arzt kühl an und verkniff sich die Bemerkung. Sticheleien würden sie nicht weiterbringen.

Bäseke zuckte mit den Schultern. »Was halten Sie davon: Wir bringen die Flasche in der Rechtsmedizin vorbei. Mit dem Hinweis, dass der vorläufige Totenschein auf Infarkt lautet, aber eine besorgte Zeugin und Kollegin meint, der Mann könnte vergiftet worden sein. Falls etwas an Ihrem Verdacht dran sein sollte, werden die Rechtsmediziner das Gift finden und schon wird ein Fall aufgemacht. Und falls die Kripo morgen von sich aus Ermittlungen aufnimmt, ist die Flasche schon als Beweisstück im Labor.«

Sara nickte. Mit diesem Kompromiss musste sie leben. Obwohl sie sich ein wenig schuldig deswegen fühlte, schoss ihr durch den Kopf, dass ein Eingreifen der Kripo zu diesem Zeitpunkt das Ende der Veranstaltung bedeutet hätte. Bei einer offiziellen Ermittlung wurden der Tatort abgesperrt und alle Beteiligten befragt – nicht das Ende, das sich Sara für ihr erstes großes Pokerturnier erhoffte. Ohne offizielle Ermittlung konnte sie weiterspielen. Aber nicht nur das. Beim Pokern behielt sie alle Verdächtigen im Blick und konnte sie ein wenig genauer unter die Lupe nehmen. Wenn die Kripo erst zu spät oder gar nicht eingreifen wollte, dann musste sie diesen Fall eben lösen.

Gut zehn Minuten waren vergangen, seitdem die Leiche von Joel Dixon abtransportiert worden war. Die Bestatter waren über einen versteckten Lastenaufzug ins oberste Stockwerk gefahren und auf gleichem Wege wieder diskret verschwunden. Die Wasserflasche wollten Bäseke und ihr Kollege in der Rechtsmedizin abliefern. Um diese Uhrzeit brauchte man keine Viertelstunde von der Hafencity bis zum Rand des Universitätsklinikums, wo sich das Institut für Rechtsmedizin befand. Sara hatte Bäseke eine Visitenkarte mit ihrer Handynummer gegeben und sich die Karte der Kollegin geben lassen, um sie später anrufen zu können.

Die Pokerspieler standen oder saßen in dem Bereich der letzten zwei aktiven Tische, die die Dealer auch während der unerwarteten Pause nicht verlassen hatten. Einige Kellnerinnen gesellten sich in gebührendem Abstand dazu, um zu lauschen. Im hinteren Bereich der Bar saßen noch gut zwei Dutzend Gäste. Teilnehmer, die früher ausgeschieden waren, hatten in den vergangenen Stunden an weiter entfernten Tischen Cash Games begonnen und diese zum Teil wieder aufgenommen. Doch sie sprachen nur gedämpft miteinander und über die Distanz verlor sich der Schall, wodurch sie praktisch nicht zu verstehen waren. Der große Raum konnte für alle möglichen Events gebucht und dann auch in kleinere Abschnitte unterteilt werden, hatte Sara gelesen. Dieses Wochenende fasste er in voller Größe gerade so das Pokerturnier. Dicht an dicht standen die großen ovalen Tische, an denen zu Beginn der Veranstaltung jeweils bis zu neun Leute gespielt hatten. Die meisten waren mit grünem Filz bezogen, andere wiederum mit blauem oder rotem.

Die beiden Tische, an denen eben noch gespielt wurde, hatten keine Kanten, sondern einen Rand aus weichem Leder, auf dem man sich abstützen konnte.

Ted Ashen hatte eine Hand ans Leder gelegt. In seinen Augen standen Tränen. Ihn und Dixon verband eine langjährige Freundschaft, davon wusste Sara. Hatte verbunden, ging es ihr durch den Kopf: Vergangenheit. Tanja Korhonen, die zweite Frau unter den Finalisten, eine stämmige Finnin mit halblangem rotbraunem Haar und blassem Teint, starrte ins Leere. Sie stand neben Ashen. Sara hatte gesehen, wie der Amerikaner die gut 20 Jahre jüngere Frau in den Arm genommen und ihr einen Kuss auf die Stirn gedrückt hatte. In welcher Beziehung hatte sie zu Dixon gestanden – und zu Ashen? Hätte sie ein Motiv gehabt, ihn zu ermorden? In Saras Kopf ratterte es.

Sara war sich sicher, dass der Mörder hier im Raum war. Ihr erster Verdacht fiel auf Velasquez, auch wenn sie bisher über das Motiv nur mutmaßen konnte. Doch der Zeitpunkt von Dixons Tod während des Spiels mit dem Spanier erschien ihr zu seltsam, als dass es ein Zufall sein konnte. Sie würde sein Motiv herausfinden und ihn damit als Mörder enttarnen, dachte Sara. Beim Pokern ging es schließlich darum, zu erkennen, ob der andere log oder nicht. Wenn sie das Spiel meistern konnte, konnte sie Velasquez überführen.

Die Stimme des Veranstalters vibrierte, als er das Wort an die verbliebenen Teilnehmer richtete. Das Murmeln, das den Raum eben noch erfüllt hatte, ebbte ab. Fast alle Blicke richteten sich auf den kleinen, hageren Mann, der die undankbare Aufgabe hatte, jetzt die passenden Worte finden zu müssen.

Nicht nur Ashen und Korhonen schienen durch den plötzlichen Tod aus der Bahn geworfen. Liam Newton, ein Brite mit dünnem, aschblondem Haar und Aknenarben im Gesicht, sah noch blasser aus als gewöhnlich. Auch Clemens Bahring, ein junger Deutscher, der Sara irgendwie bekannt vorkam, wirkte angespannt: die Arme über der Brust verschränkt, das Kinn nach vorn gestreckt, die Lippen zu einem Strich gepresst. Grigori Jarun stand etwas entfernt von den anderen. Er hatte eben noch lautstark telefoniert, sodass es keine Kunst gewesen wäre, ihn zu belauschen – allerdings sprach er Russisch und Sara verstand kein Wort. Mads Richardsen, der Däne, den Sara auf Anfang 20 schätzte, hing mehr auf seinem Stuhl, als dass er saß. Er pulte mechanisch, wahrscheinlich unbewusst, mit den Fingern der linken Hand an seinem rechten Daumennagel. Beobachtete sie gerade eine Übersprungshandlung – entsprungen aus Richardsens Bedürfnis, sich die Hände zu waschen, jetzt, wo sich sein Gewissen gemeldet hatte?

›Zieh keine voreiligen Schlüsse! Halte erst einmal die Augen offen‹, ermahnte Sara sich. Kurt Hofmann, der die obere Etage des Hotels sofort nach Dixons Ableben verlassen hatte, war vor knapp einer Minute wieder aufgetaucht, breit grinsend. Den musste sie genauer unter die Lupe nehmen. Der Mann war verdächtig.

Nur Raúl Fernando Velasquez saß immer noch wie festgenagelt auf seinem Platz und starrte auf die Tischmitte. Seine linke Hand lag auf seinen zwei Karten, sein Blick klebte am Chipsstapel neben dem Flop. Sein gesamter Stack lag dort – und einige Chips mehr.

»Wir bedauern den Verlust von Joel Dixon«, setzte Johann Konrad an und hielt dabei eine Hand vor seine Brust, als wolle er sein Herz berühren. »Unsere Gedanken sind bei seiner Familie, seinen Freunden, seinen Fans.« Er räusperte sich. »Wir haben beschlossen, und das haben wir uns nicht leichtgemacht, das Turnier jetzt fortzusetzen. Ich persönlich glaube, Joel Dixon hätte es nicht anders gewollt.« Konrad schien sich gefangen zu haben, die Vibration war aus seiner Stimme geschwunden, er sprach jetzt klar akzentuiert mit einem spitzen ›S‹, wodurch er Sara an einen Staatsanwalt erinnerte, mit dem sie schon häufiger zu tun gehabt hatte. »Wir machen jetzt eine halbe Stunde Pause, damit wir uns alle von dem Schock erholen können, soweit das in so einer Situation möglich ist. Dann läuft das Turnier weiter.« Der Veranstalter wollte weiterreden, doch er wurde jäh unterbrochen.

»Meine Chips«, platzte es aus Velasquez in seinem von einem schweren spanischen Akzent getränkten Englisch heraus. Er streckte eine Hand aus. »Er hat mich nicht gecallt.«

Das stimmte, Dixon hatte es nicht mehr geschafft, seine Chips zu setzen. Sara hätte den Spanier erwürgen können. Nach einem schnellen Seitenblick zu Ted Ashen wusste sie: Sie war nicht die Einzige. Der Amerikaner hatte sogar die rechte Hand zur Faust geballt. Korhonen sah aus, als würde sie den Spanier gleich anspringen.

Konrad, ganz Geschäftsmann, reagierte dagegen völlig emotionslos. »Sie haben vollkommen recht, Herr Velasquez, dazu wäre ich gleich gekommen. Auch hier sind die Regeln, die zum Glück alle möglichen Eventualitäten abdecken, eindeutig. Das dort«, er vollführte eine wippende Handbewegung, »sind selbstverständlich Ihre Chips. Wir setzen das Spiel am Final Table fort, obwohl formal noch zehn Spieler im Turnier sind. Den Regeln entsprechend bleibt der Stack von Herrn Dixon bestehen. Daraus werden die fälligen Antes und Blinds gesetzt, bis alles aufgebraucht ist. So ergibt sich die Platzierung, die dieser Angelegenheit am ehesten gerecht wird. Das Preisgeld wird direkt an seine Erben gezahlt.« Er räusperte sich noch einmal. »Meine Damen, meine Herren, ich wünsche Ihnen ein erfolgreiches Finale.« Er nickte in die Runde, strich sich über sein schütteres Haupthaar und schritt dann Richtung Bar. Clemens Bahring löste sich aus seiner starren Haltung, um ihm zu folgen.

»Herr Konrad, ich hätte da noch eine Frage …«, hörte Sara ihn ansetzen, dann senkte der junge Mann seine Stimme, wodurch Sara die Frage nicht mehr aufschnappen konnte.

* Der geneigte Leser möge das Poker-Glossar am Ende dieses Buches zu Rate ziehen