Kicker

Sara stoppte sich selbst mitten in der Bewegung. Sie öffnete ihre Hände, die sie zu Fäusten geballt hatte. Atmete langsam ein und aus. In einer Nische neben den Fahrstühlen, wo sie sich unbeobachtet fühlte, war sie immer wieder auf- und abgegangen. Ohne es zu bemerken, hatte sie auf ihre Lippen gebissen, sodass sie beinahe bluteten. Ihr ging zu viel durch den Kopf. Konnte sie Bäseke jetzt schon anrufen, um sich nach dem Stand der Ermittlungen zu erkundigen? Nein, es war kaum möglich, die nötigen Tests in der Rechtsmedizin so schnell durchzuführen. Das würde dauern, vor allem an einem Wochenendabend, wenn es keine Priorität hatte und kaum Personal vor Ort war. War ja kein richtiger Fall, keine Gefahr im Verzug. Nur die Ahnung von einem Streifenhörnchen, das sich in der Sache nicht auskannte. Am wahrscheinlichsten war es, dass vor Montagvormittag überhaupt nichts passierte. Sara hatte sowieso die dumpfe Befürchtung, dass die toxikologischen Tests Tage in Anspruch nehmen konnten. Dann wäre es eh zu spät, bis das Gift entdeckt worden wäre. Ein Grund mehr, dass sie den Täter jetzt und hier überführen musste.

›Ich brauche mehr Informationen‹, dachte Sara. Sie wusste zu wenig über ihre Mitspieler. Ein paar, die Profis am Tisch, hatte sie schon im Fernsehen beobachtet. Aber in den vergangenen Stunden hatte sie festgestellt, wie schwer diese Menschen zu durchschauen waren. Ihre Verstellungskunst war ja quasi Berufsvoraussetzung. Und da hatte sie nur versucht, sie beim Pokern zu schlagen und nicht, einem Mörder auf die Schliche zu kommen. Vor dem Bildschirm, wenn man die Handkarten aller Spieler durch die Glasscheiben sah, auf die sie bei Fernsehübertragungen gelegt wurden, erschien es kinderleicht, die Spieler einzuschätzen. Man wusste ja, wann Velasquez bloß bluffte oder Ashen seine Hand ganz langsam spielte, um den anderen dazu zu bringen, mit dem Einsatz höher zu gehen. Aber hier konnte sie ihnen nicht in die Karten schauen. Einfach ins Blaue hinein zu fragen, würde sie wahrscheinlich nicht weit bringen. Ihr blieb keine andere Wahl.

Beim Poker konnte man ein Blatt nur durch den besseren Kicker gewinnen. ›Kicker‹ nannte man die Karte, mit der man zwar nicht den Flop getroffen hatte, die aber trotzdem besser war als die des Gegners. Deswegen waren etwa Ass-Sechs oder Ass-Sieben miserable Handkarten. Selbst wenn man das Ass traf, lief man Gefahr, dass ein Mitspieler das auch hatte, mitsamt besserem Kicker. Es gab Profis, die aus diesem Grund das Startblatt Ass-Dame grundsätzlich wegwarfen, was Sara ziemlich extrem fand.

Heute benötigte sie einen guten Kicker – außerhalb der Partie. Sie hatte die Nummer noch auf einer Schnellwahltaste.

»Hallo Linus, ich brauche dich im H3. Sofort.«

»Sara«, und dann eine Pause. Und noch einmal »Sara.« Erstaunt erst, dann langsam, aber nicht leise, gefolgt von einem Schnauben. »Du hast Nerven.«

»Linus, bitte. Ich würde mich nicht melden, wenn es nicht wichtig wäre.« Das allein würde nicht reichen, das wusste Sara. Also köderte sie ihn. »Ich habe eine Wahnsinnsstory für dich.«

»Ach, das ist ein geschäftlicher Anruf?«

»Nein. Ja. Es ist kompliziert. Kommst du? Ich will es nicht am Telefon erzählen und ich habe wenig Zeit.«

Er schluckte den Köder.

»H3 sagst du? Bin in fünf Minuten da.«

Er starrte auf ihre Beine, die gesamte Zeit, die er zum Durchqueren der Lobby brauchte – und dabei war der Raum groß und sein Tempo niedrig. Sara entging der Blick nicht. Linus hatte sie nie in einem kurzen Rock und auf hohen Schuhen gesehen, dachte sie. Er kannte nur die sportliche Polizistin, die nach Feierabend am liebsten Turnschuhe trug und im Sommer Flip-Flops. Sogar wenn sie miteinander ausgegangen waren, hatte sie Jeans getragen. Der Rock hatte ganz hinten in ihrem Kleiderschrank gehangen, ungetragen seit der Hochzeit einer Freundin. Und die Pumps hatte sie sich extra für diesen Abend gekauft. Zum Glück saß sie die meiste Zeit. Falls dieses Turnier enden sollte wie eine typische amerikanische Krimiserie, der Verdächtige aufsprang und loslief, hätte Sara verloren. Solange sie diese Schuhe trug, würde ihr selbst Ted Ashen davonlaufen, der weder jung noch sportlich war. Sara musste bei dem Gedanken grinsen.

Linus strich sich die halblangen Haare aus der Stirn und lächelte auf den letzten Metern. Er trug ein hellbraunes Cord-Sakko und eine dazu passende Hose. Sara konnte sich nicht entscheiden, ob es schäbig oder chic war, aber auf jeden Fall passte es nicht ins H3, in dem nahezu alles in cremigem Weiß oder sattem Blau gehalten war.

Obwohl sie es nicht wollte, schlug Saras Herz schneller, als Linus auf sie zusteuerte. Sie drückte ihre Fingernägel in die Handflächen, um sich davon abzulenken. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war noch mehr Aufregung.

Sie stand auf, bevor er die Couchecke erreicht hatte. Damit er sie nicht in den Arm nehmen würde, streckte sie ihm die Hand entgegen. »Danke, dass du gekommen bist.«

»Hey«, sagte Linus, ignorierte ihre Hand und umarmte Sara. Er war einen guten Kopf größer als sie. »So wie du aussiehst, glaube ich sofort, dass es eine irre Story gibt. Du spielst immer noch Poker?«

Sara nickte. »Hier läuft ein Turnier.«

»Ich weiß.«

»Einer der Spieler ist gestorben. Ich glaube, er wurde vergiftet.«

Linus pfiff. »Wow«, sagte er. »Und warum erzählst du mir das? Bin ich nicht der Feind, der nichts erfahren soll, weil er sonst die Ermittlungen stören könnte?«

Sara wurde rot. Sie erinnerte sich daran, wie sie über dieses Thema gestritten hatten.

›Die Leute haben ein Recht zu erfahren, was in ihrer Stadt passiert. Und sie dürfen der Polizei auf die Finger schauen. Immerhin bezahlen sie euch. Hey, ich bezahle euch! Ich Steuerzahler finanziere dein Gehalt mit‹, hatte Linus gern zu ihr gesagt. Und sie hatte ihm Vorträge gehalten über Artikel voller sachlicher Fehler und Hetze seitens der Presse gegen Polizisten.

Nur gegen die, die es verdienten, war seine Antwort darauf. Sie hatten keine Chance gehabt, aufeinander zuzugehen bei diesen Streits, dachte Sara. Der Reporter und die Polizistin. Ihr war es immer so vorgekommen, als hätten sie direkt voreinander gestanden und geboxt. Nur dass sie beim Boxen bessere Chancen gehabt hätte. Der einzige Sport, zu dem sich Linus hinreißen ließ, war Fahrradfahren. Kampfsport, so hatte er stets beteuert, sei nicht sein Ding.

Aber jetzt musste sie ihm erst einmal einen Triumph gönnen, damit er auf ihre Seite kam, auch wenn sie das wurmte. Es würde nicht leichter werden, wenn sie es weiter herauszögerte.

»Es gibt keine Ermittlungen, keinen Fall.«

»Wie? Warum?«

»Der Notarzt hat einen Infarkt diagnostiziert. Die Kollegen haben seinen Sachverstand meiner Ahnung vorgezogen.«

»Selbstverständlich«, sagte Linus. »Völlig korrektes Vorgehen.« Die Spitze konnte er sich wohl nicht verkneifen.

»Willst du es dir anhören oder willst du mich bloß fertigmachen?«

Er hob die Hände. »Schon gut, ich bin still. Erzähl!«

Also erzählte sie. Von der letzten Pokerpartie zwischen Dixon und Velasquez. Von der Wasserflasche. Von Dixon, der ihr unter der Hand wegstarb. Ihre Kehle schnürte sich dabei kurz zu. Während sie von den Gesprächen mit dem Notarzt und den Kollegen berichtete, wurde sie wieder gefasster.

Als sie fertig war, pfiff Linus erneut. »Kein schlechter Start für eine Story«, sagte er. »Ich vermute, jetzt soll ich mich umhören, während du weiter pokerst?«

»Genau. Finde so viel heraus, wie möglich. Ich habe dir die Namen aller Teilnehmer aufgeschrieben. Du kommst in Dixons Hotelzimmer rein, oder?«

Er musste nichts sagen, sein Lächeln verriet die Antwort.

»Alle zwei Stunden gibt es eine Pause, dann können wir reden. Ich kann auch zwischendurch vom Tisch weg, wenn es gar nicht anders geht. Ich danke dir, Linus. Wirklich.«

»Wenn ich am Ende diese Story exklusiv habe. ›Reporter löst Mordfall‹, klingt gut – ja.«

»Das würdest du nicht …«

»Nein, keine Sorge, erst einmal würde ich es bei einem Nachruf belassen. Meine Chefin wird begeistert sein, wenn ich den morgen früh abliefere.«

»Versprochen?«

»Versprochen. Wie viel gibt es eigentlich zu gewinnen?«

Endlich schaffte es Sara, Linus sprachlos zu machen, zumindest für einen Augenblick.

»Bekomme ich etwas ab?«, sagte er dann, mit seinem breitesten Lächeln. Seine Augen funkelten, tiefblaue Augen, in denen man sich verlieren konnte.

»Ich könnte dich zum Essen einladen.« Sara biss sich auf die Zunge. Das hatte sie gar nicht sagen wollen.

»Ich komme darauf zurück. Und jetzt geh spielen, Frau Oberkommissarin.«