Sara nahm kurz vorm Ende der Pause am Tisch Platz, nachdem sie sich noch hastig ihre Lippen nachgezogen hatte. Sie wollte die Mitspieler beobachten, während diese in den Saal zurückkehrten und Platz nahmen. Der Tisch, an dem Sara vorher gespielt hatte, war zum Final Table auserkoren wurden. Die Spieler vom Nachbartisch setzten sich also mit dazu. Es war schon ausgelost worden, wer welchen Platz bekam.
Clemens Bahring durchquerte den Raum mit schnellen, hektischen Schritten, obwohl noch keine Eile nötig war. Er hatte die oberste Etage des Hotels während der Pause anscheinend nicht verlassen, sondern sich zu einer der Runden gesetzt, in denen die Ausgeschiedenen Cash Games spielten. Seinem Blick nach zu urteilen hatte er verloren. Das wunderte Sara nicht. In ihrem ersten Pokerbuch – jenes von Dixon – hatte sie schon den Ratschlag bekommen, sich nicht in einer späten Turnierphase zu einem solchen Side Event zu setzen. Bei diesen Spielen stiegen die Blinds nicht, der Einsatz blieb immer der gleiche. Cash Games folgten deshalb zwar denselben Grundregeln des Pokerns. Sie unterschieden sich jedoch gewaltig von der Endphase eines Turniers, wo jede Hand über Leben oder Tod entscheiden konnte. Sara selbst hatte registriert, wie sie während der vergangenen Stunden mit stetig wachsenden Beträgen jonglieren musste, immer härtere Entscheidungen zu fällen hatte. Plötzlich in ein Cash Game gewechselt, konnten die viel entspannteren Spieler dort einen eben aus dem Turnier Ausgeschiedenen ins offene Messer laufen lassen, wenn er mit einer mittelmäßigen Hand schnell All-In ging. In einer Turnierpause in ein Cash Game zu wechseln, wie Bahring es offensichtlich getan hatte, hielt Sara für selbstmörderisch. Vielleicht war er spielsüchtig?
Bahring trug einen dunkelgrauen Anzug und ein fliederfarbenes Hemd, um den Hals hatte er ein schmales Tuch gebunden. Er schob seine Sonnenbrille, die eben noch sein Haar aus dem Gesicht gehalten hatte, zurück über seine Augen. Für Saras Geschmack war der Mann zu schmal. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wo sie ihn gesehen hatte – vielleicht bei der Fernsehübertragung eines Pokerturniers? Linus würde es ihr garantiert später sagen können.
Tanja Korhonen und Ted Ashen stiegen zusammen aus einem der Fahrstühle. Sie sprachen leise miteinander, verstummten jedoch, ehe sie ihre Plätze erreichten. Die Finnin warf ein Glas um, als sie sich setzen wollte. Sie unterdrückte einen Schrei und hielt sich die Hand vor den Mund. Bahring kicherte wie ein Mädchen. Sofort kam eine Kellnerin herbeigeeilt. Korhonen bückte sich trotzdem in Richtung des Glases.
»Lassen Sie, ich mache das schon«, sagte die Bedienung zu Korhonen.
Die Pokerspielerin richtete sich wieder auf, ohne Glas in der Hand, und stand etwas verloren vor ihrem Stuhl.
Obwohl Sara im Turnier bisher nicht mit ihr an einem Tisch gesessen hatte, kam ihr die Finnin beinahe wie eine alte Bekannte vor. Es gab wenige erfolgreiche Pokerspielerinnen. Sara hatte sich immer gefreut, wenn bei einem im Fernsehen übertragenen Turnier Korhonen mit am Tisch saß.
Die Finnin trug eine schlichte, schwarze Hose und ein weites, aber tief ausgeschnittenes Oberteil. Sara bemerkte, dass sich Korhonen im Gegensatz zu ihr für flache Schuhe entschieden hatte. Wahrscheinlich war das die bessere Wahl. Während der gesamten Zeit am Tisch bemerkte sowieso niemand, was für Schuhe jemand trug.
»Setz dich schon, Tanja«, raunte Ted Ashen ihr jetzt zu. Er war nach Dixons Tod der mit Abstand Älteste am Tisch. Außer Velasquez und Sara selbst war keiner über 30, vermutete sie.
Grigori Jarun, der nun Richtung Tisch schlenderte, war sogar erst Anfang 20. Die Kapuze seines Pullis hatte er in die Stirn hinein gezogen und er trug wieder eine Sonnenbrille – immerhin keine, die vollständig verspiegelt war. Sara musste ein Seufzen unterdrücken. Es würde hart werden, diesen Leuten etwas zu entlocken.
Wenigstens Mads Richardsen, der junge Däne, der aussah, als unterliege er noch der Schulpflicht, verzichtete auf die Sonnenbrille. Sara lächelte ihn über den Tisch an, nachdem er sich gesetzt hatte. Er lächelte zurück, allerdings nur sehr kurz. Seltsam, er wirkte eher niedergeschlagen als aufgeregt. Ob er Joel Dixon näher gekannt hatte?
Velasquez, der Spanier, tauchte spät auf. Er trug ein frisches weißes Hemd, sicher übernachtete er im Hotel und hatte sich während der Pause auf seinem Zimmer frisch gemacht.
Noch bevor er den Tisch erreichte, sprang Bahring auf und ging ihm entgegen. Er schien den Spanier etwas zu fragen, Sara konnte leider nicht verstehen was, sie sah nur Bahrings Rücken.
El Loco verschränkte die Arme, grinste breit und gab dann eine Antwort, die nur aus einem, höchstens zwei Wörtern bestehen konnte.
Sara sah, wie Bahring den Kopf schüttelte und gestikulierte.
Wieder sagte Velasquez nur ein oder zwei Wörter, neigte den Kopf zur Seite und ging dann, offensichtlich bester Laune, Richtung Tisch. Bahring ließ er einfach stehen.
Als Letzte stiegen Liam Newton und Kurt Hofmann aus dem Fahrstuhl. Sie unterhielten sich. Als sie näher kamen, hörte Sara das stark schweizerisch eingefärbte Englisch von Hofmann. Leider konnte sie nicht verstehen, worüber die beiden redeten.
Der Dealer war derselbe, der ihr vor der Zusammenlegung der Tische die Karten gegeben hatte. Sie würde ihn auf 35 bis 40 Jahre schätzen, mit seinem leicht schütterem, dunkelbraunem Haar, den buschigen Augenbrauen und einem etwas teigigen Gesicht. Er trug Hemd und Weste, wie alle seine Kollegen bei diesem Turnier, seine Hände steckten in weißen Handschuhen. Er nahm nun ein neues Deck, das aus der unter dem Tisch liegenden Mischmaschine kam, und teilte die Karten aus. Die Polizistin merkte, wie ihr Puls stieg. Für eine Weile hatte sie nur darüber nachgedacht, wie sie einen Mörder überführen konnte. Jetzt kam ihr wieder in den Sinn, dass sie am Final Table eines großen Turniers saß.
Ihr erstes Blatt, Karo-Neun und Herz-Fünf, warf Sara fort, nachdem vor ihr auch Velasquez gefoldet hatte.
»Das war ein ziemlicher Schock vorhin«, sagte sie leise, wobei sie sich in seine Richtung lehnte. Sara war froh, dass sie ihr Englisch in den vergangenen Monaten aufgebessert hatte.
Velasquez drehte sich zu ihr. Kurz spitzte er den Mund, zuckte mit den Achseln, sagte »Ja« und wandte sich wieder dem Geschehen am Tisch zu, wo Tanja Korhonen und Kurt Hofmann den Flop präsentiert bekamen. Dame. Sieben. Fünf.
»Hatten Sie öfter mit ihm zu tun, Herr Velasquez?«, fragte sie den Spanier. Sie lächelte ihn breit an, als er wieder zu ihr blickte.
»Wer hatte das nicht?«
Korhonen erhöhte, Hofmann ging mit, Sara achtete nicht darauf.
»Was meinte er, als er sagte, Sie müssten das Blatt anders spielen?«
Velasquez schürzte erneut die Lippen und bewegte den Mund, als würde er auf seiner Zunge kauen.
»Was interessiert dich das, Chica?« El Loco lüftete kurz seine Sonnenbrille, um Sara böse anzufunkeln. In seiner Stimme schwang Unmut mit.
Sara senkte den Kopf etwas, wobei ihr eine Haarsträhne ins Gesicht fiel. Sie war die harmloseste Person an diesem Tisch, erinnerte sie sich an ihre Masche in der frühen Turnierphase. Unsicher, gefühlsduselig.
»Er ist«, sie stockte, um betont schwer zu schlucken, »er ist direkt neben mir gestorben.« In Saras Stimme schwang ein Zittern mit, als sie das sagte. Es war nicht schwer, Betroffenheit einfließen zu lassen. Dixons Tod hatte sie tatsächlich erschüttert, nur würde sie das normalerweise nicht vor einem Fremden breittreten. »Ich habe versucht ihm zu helfen, aber es war bereits zu spät. Ich fühle mich fürchterlich. Und jetzt möchte ich wenigstens wissen, was seine letzten Sätze bedeutet haben. Verstehen Sie das?« Sie blickte auf die Spiegelflächen, hinter denen sich Velasquez’ Augen verbargen.
»Was hat er denn gesagt?«, mischte sich Grigori Jarun ein. Er hatte das Duell zwischen Dixon und dem Spanier nicht verfolgen können, da er am anderen Tisch gesessen hatte.
Die nächsten Handkarten, die der Dealer austeilte, retteten Velasquez davor, eine Antwort geben zu müssen. Er wendete sich einfach seinem Blatt zu und ignorierte Saras Frage.
›Ich werde dich schon noch knacken‹, dachte Sara.
Joel Dixon hatte eine der Suiten im H3 gemietet. 1.200 Euro Miete pro Nacht, sagte die Hotelmanagerin zu Linus Milkrath, als sie die Tür per Chipkarte öffnete.
Linus hatte seinen Reportercharme eingesetzt, damit er die Suite sehen konnte. Dazu gehörte die Andeutung, dass er das Hotel im Nachruf auf Joel Dixon besser beschreiben könne, nachdem er diesen Raum gesehen hätte. »Atmosphäre, wissen Sie«, hatte er der Managerin des Hotels gesagt. »Es geht doch darum, eine gute Atmosphäre zu vermitteln.« Und das möglichst vage Versprechen, sicher wieder einmal über das Hotel zu berichten. Das bereute er jetzt schon. Falls die Pressestelle hartnäckig war, würde er sich mit E-Mails, Anrufen, Einladungen zu Presseterminen und so weiter herumschlagen müssen. Selbstverständlich konnte er alles ausschlagen, aber auch das kostete Zeit und Nerven. Nun ja, damit würde er sich auseinandersetzen, wenn es so weit war. Und immerhin konnte er sich dann bei Sara beschweren, dass sie ihm das alles eingebrockt hatte. Linus mochte sich selbst kaum eingestehen, dass er überhaupt hier war. Eigentlich hätte er ihren Anruf ignorieren oder sich spätestens nach ihrem wilden Vortrag in der Lobby verabschieden sollen. Stattdessen half er ihr jetzt bei ihrem eingebildeten Mordfall. Er seufzte leise. Er war immer schlecht darin gewesen, Frauen etwas auszuschlagen. Selbst Exfreundinnen.
»Wir haben auch noch exklusivere Suiten, aber er bestand auf dieser«, sagte Espen-Langer, die Managerin, nachdem sie die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.
»Wissen Sie, warum?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Meines Wissens nach hat er einfach diesen Raum geordert.« Espen-Langer, Brille mit hellem Kunststoffgestell, die Haare zu einem exakt fallenden Bob frisiert, trug wie die anderen Hotelangestellten tiefblau. In ihrem Fall Jäckchen mit dicken, goldenen Knöpfen und einen halblangen, engen Rock aus einem festen Wollstoff. »Wir fragen bei so etwas nicht nach. Unsere Gäste sind uns keine Rechenschaft schuldig«, fügte sie noch hinzu.
»Selbstverständlich nicht«, murmelte Linus. »Vielen Dank, dass ich mir den Raum ansehen darf.«
Linus schluckte einen Hauch von Sozialneid herunter, als er sich umsah. Wenn das nicht das exklusivste Zimmer war, wollte er die anderen lieber gar nicht sehen. Er trat auf einen dunkelblauen Teppich, den Zimmermädchen wahrscheinlich dreimal täglich staubsaugten. Jeder Fussel musste darauf zu sehen sein. Ein Blumenstrauß, der auf einem Tischchen im breiten Flur stand, erfüllte den Eingang mit seinem Duft. Rechts herum ging es in ein Bad mit einer Marmorbadewanne, die mindestens 1,80 Meter lang war. Geradeaus kam erst ein kleinerer Raum mit Esstisch, Sitzecke und Fernseher. Dahinter lag das Schlafzimmer.
»Wirklich schön«, sagte Linus beiläufig.
»Falls Sie einmal einen Artikel darüber schreiben wollen. Wir haben einige Neuerungen«, sagte Espen-Langer.
»Hmmhm.« Nie im Leben, dachte er, würde er darüber schreiben, wie schön die Suiten in einem Hotel waren. Falls sich hier eingeschmuggelte Kasachinnen gegen ihren Willen prostituieren mussten, wäre das eine Geschichte, eine Veröffentlichung wert. Espen-Langer wusste gar nicht, wie glücklich sie sich schätzen konnte, dass Linus nur behauptete, er wolle über das Hotel schreiben.
»Eine Probeübernachtung lässt sich auch arrangieren.« So schnell ließ die Managerin nicht locker.
»Hmmhm.«
Die Suite sah nicht aus, als hätte hier jemand übernachtet. Kein einziges Wäschestück lag herum. Das Bett war frisch bezogen, nicht die kleinste Falte zeigte sich in der Überdecke. Kalt war es in dem Zimmer allerdings, und ein feines Rauschen erfüllte den Raum.
»Kühl ist es hier«, sagte Linus.
»Herr Dixon hat die Klimaanlage selbst so eingestellt.« Espen-Langer zuckte mit den Schultern. »Amerikaner.« Das schien als Erklärung auszureichen.
»Darf ich kurz das Bad benutzen?«, fragte Linus. Das konnte die Managerin kaum ablehnen.
Als er sich in Ruhe in dem Raum umsah, entdeckte er neben Rasierer, Deo und Zahnbürste einen halbleeren Blister. Irgendein Medikament, das er nicht kannte. Der Name stand auf der Rückseite. Bisoprolol. Er notierte ihn kurz, um es später zu googlen, dann legte er die Tabletten zurück.
Ein Blick in den Schrank im Schlafzimmer offenbarte einen Koffer, einen Mantel, daneben mehrere ordentlich aufgehängte Hemden und T-Shirts. Auf dem Esstisch stand ein Korb mit Früchten.
Dixons Handy lag auf dem Couchtisch. Linus wunderte sich, dass er es nicht bei sich getragen hatte. Wahrscheinlich war Telefonieren während des Turniers verboten. Direkt neben dem Handy stand ein geöffnetes Geschenkpäckchen. Linus hob den Deckel an. Zwischen rotem Papier lag eine goldene Kette mit einem herzförmigen Anhänger. ›Die Erinnerung stirbt nie – Jenna‹, war auf der Rückseite eingraviert. Es ließ sich öffnen, im Inneren befand sich das Foto einer jungen dunkelhaarigen Frau. Sie sah hübsch aus.
»Das gehört nicht zum Haus«, sagte Espen-Langer, als sie Linus’ Blick sah. Sie war im Türrahmen stehen geblieben, während Linus sich umgesehen hatte und schließlich ins tiefe Sofa gesunken war.
»Jenna – sagt Ihnen der Name etwas?« Er hielt den Zettel hoch.
Espen-Langer schüttelte den Kopf. »Nein, spontan sagt er mir nichts.«
»Hatte er das Zimmer für zwei …?«
Sie unterbrach ihn. »Herr Dixon ist ohne Begleitung angereist.«
»Und im vergangenen Jahr?«
»Ja, wenn ich mich nicht irre, kam er damals auch allein. Aber mehr kann ich über einen ehemaligen Gast nicht sagen, das müssen Sie verstehen.«
Vielleicht bereute sie schon, dass sie ihm das Zimmer zeigte, dachte Linus. Er sollte sich lieber beeilen.
»Dafür habe ich vollstes Verständnis«, sagte er, in der Hoffnung, dass die Floskel sie beruhigen würde. Linus zückte sein Handy und fotografierte Schachtel, Kette und Anhänger. Aus dem Augenwinkel beobachtete er Espen-Langer und passte den Moment ab, in dem sie einen Fussel von ihrem Jackett pflückte. Er steckte Dixons Handy ein.
›Das ist verboten‹, hätte Sara jetzt gesagt. Und: ›Wie kannst du nur?‹ Er freute sich schon darauf, es ihr zu sagen. Sie würde es hassen. Und trotzdem würde sie alles wissen wollen, was er dadurch erfahren hatte.
Das Spiel lief noch keine Viertelstunde, da verschwand Tanja Korhonen für lange Minuten. Ihre Chips, die Antes und Blinds, wurden weiter gesetzt. Inzwischen waren solche Pausen kostspielig. Hielt sie den Druck nicht aus? Oder war sie vielleicht die Mörderin und musste irgendetwas regeln, ihre Spuren verwischen? Sara fiel es schwer, sich auf das Spiel zu konzentrieren. Mit Karo-Dame und Kreuz-Sechs zahlte sie aus dem Small Blind heraus eine Erhöhung.
Als der Flop aufgedeckt wurde – Pik-König, Pik-Zehn, Herz-Sieben, ärgerte Sara sich sofort. Sie hatte nicht getroffen. Sie saß in der falschen Position.
Sara musterte ihren Gegenspieler. Liam Newton hatte sich zum Spielbeginn am Final Table eine dunkel getönte Fliegerbrille mit schmalem Goldrand übergestreift. Er drehte ein paar Chips in der linken Hand und kratzte mit der rechten an seinem Hals. Newtons strubbelige Haare standen zu allen Seiten hin ab. Manchmal fuhr er sich durch die Haare, aber nie, wenn er mitspielte. Vorhin hatte er ein paar Sätze mit Ted Ashen gewechselt, doch die zwei hatten so leise gesprochen, dass Sara nichts davon hatte aufschnappen können. Ansonsten schien er nur zu sprechen, wenn er ein Blatt spielte.
Sara kannte das Verhalten aus im Fernsehen übertragenen Turnieren. Vergangenes Jahr hatte Newton am Finaltisch der World Series gesessen. Dort war er allerdings unglücklich als Achter ausgeschieden. Der Brite suchte diese Gespräche gezielt, um seine Gegner besser einzuschätzen. Das war eine sinnvolle Taktik: Viele Spieler redeten munter mit, wurden aber plötzlich still, wenn ihr Blatt sich zur Gewinnerhand entwickelte.
Vielleicht konnte sie Newtons Masche später gegen ihn verwenden, dachte Sara. Wer sprach, gab zwangsweise etwas von sich selbst preis. Doch erst musste sie sich mit dem Blatt beschäftigten.
Es gab folgende Möglichkeiten, wie es nun weitergehen konnte.
Sie setzte und Liam Newton foldete – sehr unwahrscheinlich.
Sie setzte und Newton callte – wenig wahrscheinlich und schlecht für Sara.
Newton könnte weiter erhöhen, sodass sie noch mehr Chips verlor – am wahrscheinlichsten und sehr schlecht für Sara.
Oder sie tat nichts, klopfte nur auf den Tisch und gab ihm das Heft in die Hand. Dann würde er wahrscheinlich etwas setzen und sie hätte wenigstens nur den kleineren Betrag verloren. Aber damit würde sie Schwäche zeigen.
Sara klopfte. Sie hatte sowieso schon zu lange überlegt, während sie am Zug war.
»Du bist du dir sicher, dass du nichts setzen willst, Sara?« Als Newton lächelte, zeigten sich seine schiefen Schneidezähne. Er zog ihren Namen in die Länge – Säääraa. »Ist doch ein schöner Flop«, sagte er.
»Wenn er so schön ist, können Sie doch selbst etwas setzen, Herr Newton.« Sara versuchte, möglichst lässig zu klingen, aber sie beschlich das Gefühl, dass ihr Gegenüber sie trotzdem durchschaute.
»Okay«, sagte Newton schulterzuckend und legte ein paar Chips in die Mitte.
Als sie ihre Karten wegwarf, meinte El Loco: »Das Blatt musst du anders spielen. Das habe ich dir doch schon gesagt.« Er drehte sich zu Sara. Sie saßen eng beieinander, weshalb Sara sein Parfum deutlich roch. Die Note war zu moschuslastig, fand sie.
»Solche Sprüche hat Joel Dixon immer gebracht, wenn jemand bereits am Boden lag. Tat so, als wäre er ein netter Kumpel. Aber Dixon war niemand, der freundliche Ratschläge verteilt hat, sondern er hat nachgekartet. Er kam vielleicht sympathisch rüber, wenn man ihn nur im Fernsehen gesehen hat. Im echten Leben war hingegen er ein mieser Typ, glaub mir, Chica.«
»Aber er wusste, was Sie auf der Hand hatten.«
Der Spanier zuckte die Schultern. »Ist das so? Dann hattest du einen verdammt guten Read auf ihn.«
Sara lachte kurz auf. »Nein, wenn ich ehrlich bin, hatte ich nicht die geringste Ahnung, was Dixon auf Hand hatte oder dachte. Doch Sie waren leichter zu deuten. Sie hatten Buben. Und wenn ich das schon gemerkt habe, dann musste sich Dixon bestimmt nicht den Kopf zerbrechen.«
El Loco lachte laut. »Du hast keine Ahnung.«
»Doch, ich bin mir sicher«, log Sara. »Und Sie hätten die Hand höchstwahrscheinlich verloren, das weiß ich.«
»Weil du in seine Karten geguckt hast.« Er schnalzte mit der Zunge, hob eine Hand und wedelte mit dem Zeigefinger. »So etwas macht man doch nicht.«
Sara ignorierte die Bemerkung. Velasquez wollte sie bloß vom Thema abbringen.
»Warum haben Sie während der Hand etwas zu trinken bestellt? Und wieso hat dann auch Dixon etwas bekommen?«
»Habe ich das? Hat er?«
»Beantworten Sie meine Fragen, anstatt selbst neue zu stellen.«
»Aber warum, um Gottes willen, sollte ich das tun? Was habe ich davon?«
Sara versuchte, cool zu bleiben. »Ein Mann ist gerade eben gestorben und Ihnen geht es nur darum, was Sie davon haben?«
»Und weil jemand gestorben ist, soll ich dir meine Hand verraten? Das macht Joel Dixon nicht wieder lebendig.«
»Aber Sie hegten irgendeinen Groll gegen ihn«, sagte Sara, halb zu sich, halb zu Velasquez.
Wenigstens darauf gab er eine Antwort, statt wieder eine Gegenfrage zu stellen. »Nicht mehr, als viele andere auch.« Er drückte gegen seine Sonnenbrille, obwohl sie kein Stück nach vorn gerutscht war.
Verdammt, sie hatte sich das Nachforschen einfacher vorgestellt.
In diesem Moment bekam Sara gute Karten auf die Hand. Ass und Dame, beide in Karo – also suited, passend.
»Siebzigtausend.« Sara achtete darauf, ihre Chips weder zu schwungvoll noch zu desinteressiert vor sich zu platzieren. Sie hoffte, dass sie das tatsächlich so gut durchhielt, wie sie es sich vornahm. Sonst würde sie den anderen bloß Hinweise geben.
»All-In.« Das war Velasquez. Sein Stack war kleiner als der von Sara gesetzte Betrag. Alle anderen Spieler stiegen aus.
Der Spanier deckte ein Paar Zehnen auf.
Sara lehnte sich zurück. Ein typischer Coinflip. Die Chancen lagen nahezu bei 50 zu 50. Nun konnte sie sich zurücklehnen und abwarten, wer mehr Glück hatte.
Herz-Sieben, Karo-Neun, Karo-König.
Sara biss sich auf die Lippe. Jetzt durften alle sehen, dass sie angespannt war. Es würde ja nichts mehr an den Karten ändern.
Kreuz-Drei.
Und das Kreuz-Ass.
Sie hatte gewonnen, dachte Sara, innerlich jubelnd. Nur um gleich zu stocken. Jetzt konnte sie Velasquez nicht weiter befragen. Verdammt. Er reiste bestimmt direkt ab. Sie musste Linus Bescheid geben. Fast wäre sie aufgesprungen.
Velasquez lehnte sich zu ihr. »Viel Glück noch. Und auch wenn ich es irgendwann bereue, das jetzt zu verraten: Du lagst richtig. Ich hatte vorhin Buben. Ich bezweifle allerdings, dass du Dixon vernünftig im Blick hattest. Dir ist nämlich entgangen, dass er während des Austeilens der Karten sein nächstes Wasser geordert hatte.« Er zwinkerte ihr zu. »Alle Fragen beantwortet? Nein, eine hattest du noch. Die Antwort ist: Ich hatte Durst.« Wie sein Englisch klang: »I was thürstiiee.« Er nahm seine Sonnenbrille ab und grinste. Sara blickte in tiefgrüne Augen.
»Oh. Danke.« Sie mühte sich, ihren Mund nicht herunterklappen zu lassen.
»Dann noch viel Erfolg hier, Chica. Mach was aus meinen Chips.« Er klopfte ihr auf die Schulter.
Als er sich abgewendet hatte und mit federnden Schritten davonging, sah Sara dem Spanier hinterher. Hatte er tatsächlich nichts mit Dixons Tod zu tun? Das konnte sie selbst nicht mehr ergründen. Wie gut, dass Linus im Hotel war.