Limp in

»Misses Dixon, mein Name ist Linus Milkrath. Ich möchte Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen. Wir sind hier alle sehr betroffen vom Tod Ihres Mannes.«

»Wer spricht denn da?«

Zum Glück fragte sie nicht, woher er die Telefonnummer hatte. ›Vom Handy Ihres toten Mannes, Misses Dixon‹, wäre die ehrliche Antwort gewesen. Linus hätte sich etwas einfallen lassen müssen.

»Ich war im Saal in Hamburg, als es passiert ist«, log er. »Ich bin Journalist und schreibe einen Nachruf.« Im englischsprachigen Raum waren Nekrologe, ›Obituaries‹ genannt, eine angesehenere Disziplin als in Deutschland, das wusste Linus. Er hoffte, dass ihm dieser Umstand helfen würde, an Informationen zu gelangen. »Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen, wenn das für Sie in Ordnung geht. Ich fasse mich auch kurz, versprochen.«

Linus hatte es sich in einer Sitzecke im 16. Stock gemütlich gemacht. Um diese Zeit war hier nichts mehr los. Er war optimistisch, das Telefonat ohne Störungen führen zu können.

»Na gut. Fragen Sie.«

Die Stimme hatte einen kratzigen Unterton, Raucherin, vermutete Linus. Die wenigen Fotos, die er auf die Schnelle von Francine Dixon gefunden hatte, waren fünf oder sechs Jahre alt und zeigten eine Frau mit unnatürlich großen Lippen und vom Chirurgen gestraffter Gesichtshaut. Er betrachtete das wohl aktuellste Foto auf seinem Tablet geöffnet vor sich, das er von ihr entdeckt hatte. Linus mochte es, sein Gegenüber im Gespräch vor Augen zu haben. Die Witwe klang ausgesprochen gefasst. Kein Zittern, das Weinen ankündigte. Keine sich überschlagenden Töne. Ihre Trauer schien sich wohl in Grenzen zu halten.

»Wann haben Sie denn erfahren, dass …«

»Ein Freund hat mich angerufen. Inzwischen hat sich auch unser Botschafter aus Hamburg gemeldet, ein wirklich höflicher Mann.«

Natürlich, dachte Linus. Bei so einem Todesfall wurde die Botschaft informiert.

»Sie scheinen nicht sehr überrascht.«

»Joel war weder der jüngste noch der gesündeste Mann«, sagte sie.

»Werden Sie jetzt nach Hamburg fliegen?«

»Nein. Er wird hierher gebracht. Ich hole ihn vom Flughafen ab.« Sie sog Luft ein, offensichtlich hatte sie sich eine Zigarette angezündet. »Das erste Mal in diesem Jahrzehnt, das ich an einem Flughafen auf ihn warte. Und das letzte Mal überhaupt. Seltsam, oder?«

»Er würde das sicher zu schätzen wissen«, sagte Linus. »Was für ein Typ Mensch war Ihr Mann?« Die Antwort darauf würde Sara kaum weiterhelfen, aber er wollte die Witwe erst einmal zum Reden bringen, ehe er zu den pikanteren Fragen überging.

»Er war ein Draufgänger.« Sie zog wieder an ihrer Zigarette, atmete aus. »Beim Pokern konnte er eiskalt sein, sonst wäre er niemals so erfolgreich gewesen. Abseits des Tisches dagegen war er meist impulsiv. Wissen Sie, dass wir in Vegas geheiratet haben?«

»Ja«, log Linus. Er hatte bisher nur gewusst wann – das war tatsächlich in Dixons Wikipedia-Eintrag vermerkt.

»Da kannten wir uns gerade eine Nacht lang.« Sie seufzte. »Es waren verrückte Zeiten.«

»Die Frage ist vielleicht etwas seltsam, aber: Sagt Ihnen der Name Jenna etwas?«

Wieder eine Pause. »Nein. Sollte er?«

»Im Hotelzimmer Ihres Mannes lag ein Geschenk, das von einer Jenna kommt.«

Seufzen am anderen Ende der Leitung. »Wahrscheinlich eine seiner Liebschaften. Ich habe schon in den Siebzigern aufgehört, mir deren Namen zu merken. Und damals war mein Gedächtnis besser als heute, das können Sie mir glauben.«

»Darf ich fragen, wie es um Ihre Ehe stand?«

»Fragen dürfen Sie, aber antworten muss ich nicht.« Kurze Pause. »Wir hatten unsere Höhen und Tiefen. Die vergangenen Monate haben wir uns wenig gesehen, die zählten also zu den Höhen. Trotzdem haben wir uns nicht getrennt. Die Macht der Gewohnheit könnten Sie das nennen.«

»Wer erbt sein Vermögen?«

Sie lachte kurz auf, krächzend ging das Geräusch in ein Husten über. »Ich sage es Ihnen, aber aufschreiben dürfen Sie es nicht. Wenn es ein Vermögen gäbe, würde der größere Teil bei mir landen. Aber ich fürchte, Joel hat kürzlich eine Menge Geld in den Sand gesetzt mit irgendeiner Pokerplattformidee, die nicht funktioniert hat. Ich kenne keine Details. Das meiste davon hat er angestellt, ohne mir irgendwas davon zu erzählen. Er hätte auf mich hören und die Finger davon lassen sollen. Immerhin war die Hälfte des Geldes, das er dabei verloren hat, meins.«

»Tut mir leid, das zu hören.«

»Muss es nicht. Ich werde schon zurechtkommen, das bin ich immer. Sind Sie verheiratet?«

»Ach, ich bin bloß ein langweiliger Journalist«, sagte Linus. So weit kam es noch, dachte er, dass sie hier anfing, die Fragen zu stellen.

»Eine Frage noch, Misses Dixon, dann lasse ich Sie in Ruhe, versprochen. Hatte Ihr Mann Feinde? Gab es jemanden, der ihm schaden wollte?«

»Hmm …«, kurzes Schweigen. »Feinde – das ist ein großes Wort. Gibt viele Leute da draußen, die nicht gut auf ihn zu sprechen sind, klar. Aber Feinde? Eine Menge enttäuschter Frauen, wahrscheinlich. Die glaubten alle, sie hätten sein Herz erobert und haben nicht gemerkt, dass er bloß seinen Spaß haben wollte.« Wieder das krächzende Lachen.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte Linus.

»Ich weiß, ich weiß. Und mir erst«, antwortete die Witwe. »War es das jetzt?«

»Ja, vielen Dank. Sie haben mir sehr geholfen. Kann ich mich noch einmal melden, falls ich etwas vergessen habe?«

Seufzen. »Rufen Sie einfach wieder an. Aber ich gebe keine Garantie, dass ich rangehe.«

»Danke, Misses Dixon.«

Linus fragte sich, ob die Witwe etwas mit dem Mord zu tun hatte – falls es denn einer war. ›Verlassene Frauen? Eifersucht?‹, tippte Linus in sein Tablet. ›Erbe? Schulden? Online-Poker?‹ Und die Frage: ›Wer ist Jenna?‹ Anschließend navigierte er sich durch die Nummern in Dixons Handy. Glücklicherweise war das Gerät angeschaltet gewesen und nicht geschützt, sodass er auf alles zugreifen konnte. Unglücklicherweise schien es Dixon tatsächlich nur zum Telefonieren genutzt zu haben. Fotos fanden sich keine, obwohl das Gerät über eine Kamera verfügte. Und entweder hatte der Amerikaner alle SMS sofort gelöscht oder aber nie welche bekommen beziehungsweise geschrieben. Vielleicht war er ein Technikmuffel gewesen? Passte das zu jemandem, der Geld mit Onlinepoker verdienen wollte? Linus wurde noch nicht schlau daraus.

Immerhin waren im Handy diverse Nummern gespeichert, ein kurzes Überschlagen zeigte, dass auf jeden Mann drei Frauen kamen – aber leider keine Jenna. Alter Schwerenöter, dachte Linus. Er musste Sara fragen, ob sie Joel Dixon attraktiv gefunden hatte.

*

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König, Junge – beide in Kreuz, Sara erhöhte. Tanja Korhonen hatte sich vorher als einzige eingelimpt – sie hatte nicht mehr gesetzt als den aktuellen Big Blind. Jetzt ging sie mit. Gut, dachte Sara, genau das hatte sie gehofft.

»Er war ein guter Kerl, müssen Sie wissen«, sagte die Finnin mit leiser Stimme. »Ich habe gehört, was Velasquez gesagt hat, das stimmt so nicht. Velasquez kannte nur Dixons, tja, Pokerface. Wenn er nicht spielte, war Joel anders.«

Ihr Blick bohrte sich in Saras. Sie trug keine Sonnenbrille, verdeckte ihr Gesicht nicht mit einer Schirmmütze. Über den Tisch hinweg konnte Sara die großzügig aufgetragene Schminke erkennen, die sich in die kleinen Fältchen um die Augen und die Gruben unter den Nasenflügeln gelegt hatte.

»Kannten Sie ihn gut?«, fragte Sara.

Der Dealer deckte den Flop auf.

KaroAcht_SW.jpgHerzBube_SW.jpgPikVier_SW.jpg

Karo-Acht, Herz-Junge, Pik-Vier. Sara setzte. Korhonen zögerte kurz, erhöhte dann.

»Ja«, antwortete die Finnin auf ihre Frage.

Sara spürte ihr Herz schlagen. Nach dem Flop hatte sie mit großer Wahrscheinlichkeit das bessere Blatt, und so wie Korhonen seit Wiederaufnahme des Turniers gespielt hatte, ging sie wahrscheinlich mit allem mit. Sara hatte das sichere Gefühl, dass sie vorn lag. Außerdem brauchte sie mehr Antworten.

»Er hat mir viel beigebracht«, murmelte Korhonen und kratzte sich dabei an der Nase.

Eine Kreuz-Fünf ergänzte den Flop auf dem Tisch.

»Ich fand ihn beeindruckend.« Sara beschloss, der Finnin einfach beizupflichten. Sie musste dafür ja nicht einmal lügen. »Habe alle seine Bücher gelesen.«

»Es waren doch nur zwei«, sagte Korhonen mit einem schüchternen Lächeln und klopfte auf dem Tisch. Sie checkte also nur. Seltsames Vorgehen, dachte Sara, die sofort setzte. Die Finnin zögerte, blickte unter ihre Karten, erhöhte dann – Check-Raise hieß dieser Spielzug. Jetzt war es an Sara, kurz zu überlegen.

Freizeitspieler begingen oft den Fehler, dass sie starke Blätter nicht noch einmal ansahen, nachdem der Flop aufgedeckt worden war, schwache schon. Sara selbst hatte es zu Beginn nicht anders gemacht. Warum sollte man auch zum zweiten oder dritten Mal nachschauen, was man auf der Hand hatte, wenn es zwei Asse oder zwei Könige waren? Das behielt man immer im Kopf. Aber ob es nun Junge-Sieben oder Junge-Acht gewesen war? Und die Kreuz- oder Pik-Sieben? Das konnte man schon mal vergessen – und musste sich vergewissern. Sieh ein zweites Mal unter jedes Handblatt oder unter keines, war jetzt Saras Regel. Es sei denn, das Nachschauen ließ sich dazu einsetzen, einen Gegner in die Irre zu führen. Diese Ausnahme von der Regel galt natürlich.

In den vergangenen Stunden hatten die anderen Spieler äußerst selten ihre Handkarten ein zweites oder drittes Mal gemustert.

Sara war bewusst, dass sie zu den vorsichtigeren Spielern zählte. Sie erwartete ständig einen Hinterhalt. Sie war froh, dass sie nie erfahren würde, wie oft sie in den vergangenen Stunden das bessere Blatt gefoldet hatte, weil sie auf einen Bluff hereingefallen war. Auch jetzt schoss ihr durch den Kopf, dass es ein ausgefeilter Plan von Korhonen sein konnte, sich ihre Karten noch einmal anzuschauen, so als hätte sie eine schwache Hand. Allein: Ihrer Gegnerin traute sie das in diesem Augenblick nicht zu. Und eine Fünf hatte die Finnin mit Sicherheit nicht auf der Hand. Sie hing so sehr ihren Gedanken an Joel Dixon nach, dass sie schlecht spielte. Ja, so musste es sein.

»Joel hätte Sie sicher gemocht«, sagte Korhonen zu Sara. »Er meinte immer, das Schlimmste am Poker sei, so viel Zeit in reinen Männerrunden verbringen zu müssen.«

»Seien Sie doch so nett und holen mir noch einen Wein«, sagte Clemens Bahring deutlich lauter als nötig zu einer Kellnerin. Dann seufzte er. »Kommt ihr langsam zu Potte, ich will auch wieder Karten sehen.« Sara sah nicht zu ihm hinüber und registrierte, dass Korhonen den Deutschen ebenfalls ignorierte.

Der Dealer legte die letzte Karte auf den Tisch. Karo-König. Der Flop war also:

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Sara lehnte sich zurück. Traumhaft. Weder war ein Flush möglich, noch eine Straße – und sie hatte die zwei höchsten Paare. Das Blatt hatte sie gewonnen.

Korhonen biss sich, nur ganz kurz, auf die Unterlippe, bevor sie klopfte. Sie lächelte Sara an, ein typisches Friedensangebot. ›Komm, der Betrag reicht doch, lass uns die Karten ansehen und dann gewinnt die Glücklichere von uns beiden‹, signalisierte die Finnin. Aber so günstig ließ Sara sie nicht davon kommen.

»Gab es viele, die Dixon nicht mochten, so wie Velasquez? Jemanden, der vielleicht noch mehr Groll gegen ihn hegte?« Ein Seitenblick auf Ted Ashen. Dixons alter Freund schaute offenbar verärgert mit zusammengekniffenen Augen drein. Er hielt sich jedoch aus dem Gespräch heraus.

Gleichzeitig überlegte Sara, wie viel sie setzen konnte, um Korhonen noch zum Mitgehen zu bewegen. Zu groß durfte der Betrag nicht sein, sonst würde die Finnin aussteigen. Eine zu kleine Summe würde bedeuten, dass sie wichtige Chips verschenkte. Sie setzte das Anderthalbfache von dem, was im Pot lag.

Korhonen wippte auf ihrem Stuhl hin und her.

»Sie machen es mir nicht einfach«, sagte sie, Saras Frage ignorierend. Die Finnin schüttelte kurz den Kopf, ganz so, als würde sie ›Was soll’s, wenn ich schon verliere, dann auch richtig‹ denken – und erhöhte ums Zweieinhalbfache.

Sara schluckte. Das war der größte Pot, den sie bisher gespielt hatte. Wenn sie den gewann, rückte sie ein deutliches Stück weiter nach vorn. Aber dafür musste sie eine ansehnliche Portion ihres Stacks in die Mitte schieben. Sie riss ihren Blick von den Chips los und schaute hinüber zu Korhonen. Die Finnin hatte die Ellbogen auf den Tisch gelegt und beugte sich nach vorn. Die von der Klimaanlage entfeuchtete Luft kratzte plötzlich in Saras Hals. Neben Sara räusperte sich Grigori Jarun und klapperte mit drei Chips, die er unentwegt durch seine Finger gleiten ließ. Mehrere der Männer am Tisch spielten ständig mit den Plastikmünzen, was den Raum mit einem permanenten Klicken erfüllte. Nach vielen Stunden an Pokertischen konnte Sara das Geräusch meist ausblenden, jetzt aber drang es in ihr Bewusstsein und zehrte an ihren Nerven.

›Wenn du nichts wagst, wirst du nicht gewinnen‹, dachte Sara. Sie callte.

Korhonen deckte zwei Achten auf, damit hatte sie einen Achter-Drilling. Sie hatte von Anfang an das bessere Blatt gehabt. Saras Blut sackte weg, irgendwo in den Bereich ihrer Füße. Wobei die sich plötzlich erstaunlich kalt anfühlten. Da sie ihr Blatt nicht zeigen musste, warf sie es weg, ohne aufzudecken. Korhonen hatte sie reingelegt. Die Finnin lehnte sich zurück, nachdem sie die gewonnenen Chips vor sich aufgestapelt hatte, und lächelte plötzlich wie die Mona Lisa.

Der Dealer teilte die nächsten Karten aus, die Sara, fast ohne sie zu beachten, foldete. Sie musste das Geschehene begreifen, ehe sie die nächste Partie wagte. Sie war in eine Falle gelaufen, ihrer eigenen in der frühen Turnierphase recht ähnlich. Scheinbar abgelenkt und ahnungslos hatte Korhonen in Wirklichkeit nur darauf gewartet, dass Sara das Setzen übernahm, um einen möglichst großen Betrag aus ihr herauszuquetschen. Und Sara war hineingetrampelt, hatte sich mit zwei jämmerlichen Paaren für unschlagbar gehalten, während Korhonen längst ihr Handpaar getroffen hatte. Sara bemerkte erst jetzt, dass die Frau sie von der gegenüberliegenden Seite des Tisches weiter im Auge behielt. Korhonen hatte sich ebenfalls aus der nächsten Partie herausgehalten. Ashen, Bahring und Jarun sahen gerade einen Flop, doch der Verlauf der Hand ging an Sara vollkommen vorbei. Sie zählte ihre Chips. Jetzt lag sie weit hinten, nur noch Bahring hatte einen kleineren Stack.

Wenn Korhonen sie mit ihrem Blatt so mühelos getäuscht hatte, spielte sie vielleicht auch die Trauer um Joel Dixon nur vor. Sara kniff die Augen zusammen, als sie die Finnin direkt anblickte. Korhonen sah nicht weg, sondern setzte ein Lächeln auf.