Sara beendete ihr Grübeln und stand auf. Sie verließ den Tisch nur ungern, weil sie an die Antes und Blinds dachte, die unaufhörlich ihren nun ohnehin mageren Stack verkleinerten, während sie fort war. Aber sie musste mit Linus sprechen. Die Garderobe lag in der Nähe der Fahrstühle, dort holte sie ihr Handy.
»Linus, kannst du in den obersten Stock kommen?«
»Klar.«
Sara ging noch einmal ihr Gespräch mit Velasquez sowie die Hand mit Korhonen durch, während sie auf Linus wartete. Er schien sich Zeit zu lassen, warum dauerte das so lange? Sara nahm die Hand aus dem Gesicht. Sie hatte auf einem Fingernagel herumgekaut. Verdammt, das war ihr lange nicht mehr passiert. Wenigstens hatte sie sich nicht noch einmal auf die Lippe gebissen.
Als Linus endlich auftauchte, kam er nicht aus dem Fahrstuhl, sondern aus einer anderen Richtung auf sie zu.
»Gar nicht einfach, hier ein Treppenhaus zu finden«, sagte er. Als sie eine Augenbraue hochzog, schob er sofort hinterher: »Ich war nur zwei Stockwerke drunter, da nimmt man doch nicht den Fahrstuhl.«
»Und deswegen hast du so lange …? Hast du eigentlich eine Ahnung, was …? Ach, vergiss es.«
Linus lächelte sie an. »Also ich würde sagen: Ich bin nicht zu spät, sondern du bist zu früh, Sara. Wir hatten doch verabredet, dass unser Date erst in einer Stunde ist.«
»Das ist kein Date.« Sie gab sich keine Mühe, ihren Ärger zu verbergen.
Linus seufzte theatralisch. »Also gut. Was gibt es denn zu besprechen?«
»Velasquez, der Spanier, ist ausgeschieden. Redest du mit ihm? Er müsste hier im Hotel wohnen.«
»Klar, das kann ich versuchen. Aber erkläre mir vorher noch einmal genau, warum du ihn verdächtigst. Das war vorhin etwas …«, Linus zögerte einen Moment, »unklar.«
Hatte er ›wirr‹ sagen wollen? Oder ›seltsam‹? Sara überging es. Für solche Spielchen hatte sie keine Zeit. »Das liegt doch auf der Hand. Er hat direkt von Dixons Tod profitiert.«
»Wie denn?«
»Er hat seinen Stack fast verdoppelt und ist dadurch im Turnier weiter gekommen.«
Linus zog die Stirn kraus. »Sagtest du nicht eben, er sei ausgeschieden?«
»Ja, aber ohne Dixons Tod hätte er einen schlechteren Platz belegt.« Sara stockte. Das stimmte nicht. Velasquez war Zehnter geworden. Die gewonnene Hand hatte sein Ausscheiden zwar verzögert, doch seine Position im Turnier nicht verbessert.
»Sara, ich glaube, du verrennst dich da in etwas.«
»Dixon wurde umgebracht«, fiel sie ihm sofort ins Wort. »Das bilde ich mir nicht ein.«
»Das meinte ich nicht. Ich bin, was deine Mordtheorie angeht, völlig offen, wirklich.« Er hob abwehrend die Arme. »Aber was du mir bisher zum Motiv von Velasquez erzählt hast, klingt – Entschuldigung, wenn ich das so sage –, hanebüchen. Du meinst, er hat den Tod von Dixon arrangiert, nur um ein paar Chips zu bekommen?«
»Ja«, Sara stockte kurz, »na ja, so etwas in der Art. Irgendwie.«
»Und deshalb hat er ihn auf die Sekunde genau vergiftet. Ehe Dixon ihn – wie war das Wort noch mal?«
»Callen«, sagte Sara.
»Genau, ehe Dixon ihn callen konnte. Ich habe keine Ahnung vom Pokern«, sagte Linus jetzt, »deswegen musst du es mir genauer erklären. Wann wusste Velasquez, dass er mit seinem Blatt verloren und Dixon gewonnen hatte?«
»Es lagen drei Karten derselben Farbe im Flop. Und die Farbe hatte Velasquez nicht auf der Hand, Dixon aber.«
»Und damit hätte Dixon am Ende hundertprozentig gewonnen?«
»Hmm … nein. Nicht hundertprozentig.« Sara zählte im Kopf, welche Outs Velasquez noch geblieben waren. Immerhin hatte er einen Drilling mit Buben gehabt, als noch eine Karte ausstand. Der vierte Bube hätte ihn gerettet. Ebenso eine zweite Zwei, eine zweite Acht oder eine zweite Zehn, womit er einen Full House gehabt und Dixons Flush geschlagen hätte. Velasquez’ Chancen hatten also immer noch gut 20 Prozent betragen.
»Zu knapp 80 Prozent hätte Dixon gewonnen«, sagte Sara schließlich.
»Konnte Velasquez das genau wissen?«
»Nein. Er wusste ja nicht, was Dixon hatte. Es sei denn, er hätte die Karten manipuliert. Vielleicht war das ja der Fall!«
»Ach Sara, aber dann hätte er sie doch so manipuliert, dass er gewinnt, ohne jemanden zu töten. Das ist eine völlig abstruse These. Du verrennst dich.«
»Hast du schon mit den Kellnerinnen gesprochen? Vielleicht steckt eine von ihnen mit Velasquez unter einer Decke. Er hat zwar behauptet, Dixon hätte sein letztes Getränk selbst geordert, aber das könnte gelogen sein.«
Linus machte eine kurze Pause, in der Sara ebenfalls schwieg. »Kennst du Ockhams Rasiermesser?«, fragte er schließlich.
»Keine Ahnung. Irgendeine berühmte Tatwaffe?«, murmelte Sara. »Du wirst es mir sicher gleich erklären.« Linus hatte es immer geliebt, mit seinem Wissen angeben zu können. Keiner seiner sympathischen Charakterzüge.
Linus zog seine Mundwinkel nach oben. »Den Spruch muss ich mir merken, der ist gut. Nicht ganz. Hat etwas mit Wissenschaftstheorie zu tun. Im Prinzip sagt es aus, dass man immer die einfachste Lösung bevorzugen sollte – und nicht komplizierte Theorien, um die man mehr und mehr herumdichten muss, damit sie irgendwie passen. Dass dieser Velasquez ein Mörder – der Mörder – ist, das lässt sich nicht einfach erklären. Deshalb beginnst du schon mit dem Fabulieren. Das deutet darauf hin, dass deine Grundannahme falsch ist.«
Sara atmete tief ein und wieder aus, ehe sie antwortete. Dass ihre These zu Velasquez Lücken hatte, war wahrscheinlich noch freundlich formuliert. Außerdem hatte sie ja auch vor, die anderen Mitspieler zu durchleuchten. »Er hat gesagt, dass Dixon extrem unbeliebt war«, sagte sie daher in der Hoffnung, das Gespräch in konstruktivere Bahnen zu lenken.
»So unbeliebt, dass ihn jemand umbringt?«
Sara zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Ich habe versucht, Tanja Korhonen zu befragen, die Finnin. Aber bisher mit wenig Erfolg. Die beiden standen sich nahe, das ist jedenfalls klar.«
»Er stand wohl einigen Frauen nahe«, warf Linus trocken ein.
»Wie kommst du darauf?«
»Ich habe mit seiner Witwe telefoniert.«
»Echt? Wie hast du das hinbekommen?«
»Ich habe Dixons Handy geklaut.«
Das Grinsen von Linus war Sara deutlich zu selbstgefällig. »Was hast du getan? Das ist …«
»… verboten, ich weiß. Diebstahl, schrecklich. Wobei: Wer soll mich anzeigen? Joel Dixon? Der ist über diese Phase hinweg. Und seine Frau klang nicht so, als wüsste sie überhaupt, wie viele Handys ihr Mann besessen hat. Und großes Interesse zeigte sie erst recht nicht.«
Sara wusste nicht, was sie antworten sollte. So war es ihr mit Linus häufig ergangen. Sie fühlte sich ausgetrickst, vorgeführt, wie vorhin von Korhonen. ›Er forscht für dich nach‹, sagte sie sich selbst, ›da muss er auch seine Methoden anwenden dürfen.‹ Sie gab sich geschlagen.
»Hat sie Korhonen erwähnt?«
»Nein, sie hat überhaupt keine Namen genannt. Ich bekomme mehr über deine Mitspielerin heraus. Ebenso wie über die anderen, die noch am Tisch sitzen. Das dauert nur alles ein bisschen, Sara.« Er musterte sie, blickte dann den Gang entlang, der zu dem großen Raum führte, in dem das Spiel am Final Table weiterlief. »Musst du nicht wieder spielen?«
»Ja, gleich. Was hat Dixons Witwe noch gesagt?«
»Sie meint, er hätte einen Teil seines Vermögens mit irgendeiner Internet-Poker-Sache in den Sand gesetzt. Ach ja, und auf Dixons Zimmer lag ein Geschenk von einer Jenna. Eine Kette mit Anhänger.« Er zeigte ihr die Fotos, die er geschossen hatte.
»Wie hast du die Fotos …? Ach, wenn ich darüber nachdenke, will ich es gar nicht wissen. Vielen Dank, Linus.«
»Da nicht für.«
Mit einiger Mühe zwang sich Sara, langsam zurück zum Tisch zu gehen anstatt zu sprinten. Sie hatte mehr als genug Hände verpasst. Aber nun hatte sie zumindest neue Ansatzpunkte.
*
Linus blickte Sara nach. Sie sah verdammt gut aus in diesem Outfit. Wenn sie erfuhr, dass er ihr etwas verheimlicht hatte, würde sie sauer sein. Aber darüber machte er sich jetzt noch keine Gedanken.
Das Medikament in Dixons Badezimmer hatte sich als Betablocker entpuppt. Das hatte er gerade eben nachgeschaut. Dixons Herz war offenbar nicht mehr im besten Zustand gewesen. Seine Witwe hatte ebenfalls gesagt, er habe nicht den gesündesten Lebensstil geführt. Wahrscheinlich war der Mann wirklich einem simplen Infarkt erlegen.
Als Linus das Treppenhaus suchte, hatte er sich vorgenommen, es Sara zu sagen. Doch in dem Moment, in dem er sie dort stehen sah – wie sie ihn mit hellwachen Augen anblitzte, brachte er es nicht übers Herz.
Sie wollte einen Fall lösen, sie wollte dieses Turnier gewinnen. Er war zwar ihr Ex und vieles zwischen ihnen war schlecht gelaufen, sodass er sie auch hätte hassen können. Aber dem war nicht so. Und er wollte ihre Träume nicht zerstören. Also suchte er lieber nach einem Mordmotiv, während sie ihr Turnier spielte. Wer weiß, vielleicht stolperte er dabei über die eine oder andere interessante Geschichte – den Nachruf auf Dixon konnte er nebenbei schreiben. Und für den extrem unwahrscheinlichen Fall, dass Sara doch recht hatte, würde er auch gewappnet sein, denn er wollte auf jeden Fall mehr herausfinden als sie. Wäre doch gelacht, wenn sie mit ein paar Verhörtechniken am Pokertisch weiterkäme als er mit seinen Recherchen im Hotel und im Internet. Er stieg in den Fahrstuhl: Es war Zeit, sich mit diesem Velasquez zu unterhalten.