»Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für dieses Gespräch nehmen, Herr Velasquez«, sagte Linus zum Einstieg.
»Kein Problem, der einzige Termin, der heute auf meinem Zettel stand, ist um.« Ein golden überkronter Backenzahn blitzte auf, als Velasquez breit lächelte. Der Hinweis, dass er einen Nachruf schreiben wollte und sich zudem für die Pokerszene interessierte, hatte gereicht, um Velasquez zu einem Gespräch zu bewegen. Er solle ihm nur eine Viertelstunde Zeit für eine Dusche geben, hatte der Spanier vorhin gesagt, als Linus ihn vom Foyer aus über Zimmertelefon angerufen hatte.
Nun saßen sie in Velasquez’ Suite, die sich auf der gleichen Etage wie Dixons befand. Seine Sonnenbrille lag auf dem Couchtisch, daneben stand ein Bier. Ein Satz Spielkarten lag dort ebenfalls. Das Zimmer war deutlich wärmer als das von Dixon, was Linus sehr recht war. Fehlte noch, dass er sich bei diesem Sondereinsatz erkältete.
»Erzählen Sie mir, was Sie von Joel Dixon gehalten haben.«
»Wollen Sie einen schönen Satz für Ihren Artikel? Dann können Sie schreiben, dass er fürs Pokern geboren war. Das klingt doch gut, oder? Ich persönlich konnte ihn nie leiden, aber man soll ja immer gut über die Toten sprechen – deshalb lassen Sie Letzteres bitte weg.«
Linus kritzelte den Satz dennoch in sein Notizbuch. Er hatte zwar nicht vor, ihn für einen Artikel zu verwenden, aber es wirkte immer gut, wenn man mitschrieb. Es gab dem Gegenüber ein Gefühl, welche Äußerungen notiert wurden und welche nicht – und seine erste Aussage über Dixon wollte Velasquez schließlich notiert wissen.
Auf das Aufnahmegerät hatte er bewusst verzichtet. Manche Leute verspannten sich, wenn alles mitgeschnitten wurde. Da er nicht wusste, ob Velasquez zu dieser Fraktion gehörte, wollte er lieber kein Risiko eingehen. Es kam bei diesem Gespräch ohnehin nicht auf den Wortlaut an.
»Wie lange kannten Sie sich schon?«, fragte Linus.
»Wir kannten uns seit, lassen Sie mich überlegen, elf oder zwölf Jahren. Flüchtig. Irgendwann habe ich mal einen mit ihm zusammen getrunken. Auf Hawaii war das, ja. Muss zehn Jahre her sein.«
»Also waren Sie eher Bekannte oder Gegner?«
»Bekannte trifft es am besten. Oder Kollegen. Ja, Kollegen passt noch besser.« Er lachte. »Haha, lauter Kollegen und kein Boss, es ist ein toller Job.«
»Haha, sehr lustig«, murmelte Linus aus Höflichkeit, ehe er zur nächsten Frage überging.
»Gibt es ein Ereignis, dass Ihnen sofort einfällt, wenn Sie an Dixon denken?«
Velasquez trank einen Schluck, lehnte sich mit der Flasche in der Hand zurück aufs Sofa.
»In Sydney vor drei Jahren, da hatten wir diese irre Hand. Es war in der Endphase des Turniers. Mein Stack war deutlich größer als Dixons, als ich ihn callte. Er war vor dem Flop All-In gegangen. Das tat er immer, wenn sein Stack unter dem Zwölffachen des Big Blinds lag, darauf konnte man sich verlassen. Dann ging er nur noch All-In oder foldete.«
Linus sah ihn fragend an.
»Für Sie verständlich: Er spielte quasi nur noch Alles oder Nichts. Mir passte dieses All-In total in den Kram. Ich hatte ein Paar Könige auf der Hand, die beiden roten. Er Zehn und Neun in Kreuz. Suited Connectors hat er gerne gespielt in solchen Situationen. Und dann kommt der Flop, den werde ich nie vergessen. Karo-Acht, Pik-König, Kreuz-Dame. Ich lehne mich schon zurück, weil ich das Ding gewonnen habe. Dann kommt der Kreuz-König. Ich habe einen Poker, will schon feixen, aber es fehlt ja noch der River. Der verdammte River. Sie wissen, was dann passiert ist?«
»Ich bin gespannt«, sagte Linus. Tatsächlich hatte er keine Ahnung, wovon Velasquez überhaupt sprach.
»Der Dealer dreht den Kreuz-Jungen um. Die einzige, verdammte Karte im ganzen Deck, die Dixon noch den Arsch rettet.«
»Wie das denn?«
Velasquez guckte ihn mit zur Seite geneigtem Kopf an. »Sie haben nicht ganz aufgepasst, was? Er hatte einen Straight Flush. Vom König bis zur Zehn. Zweitbeste Kartenkombination, die es gibt.«
Velasquez griff sich die Spielkarten und begann, sie auf den Tisch zu legen.
»Äh, ich verstehe«, sagte Linus.
Velasquez legte die Karten noch einmal um.
»Das war nun Dixons Blatt. Ich dagegen hatte ›nur‹ 4 Könige. Der phänomenalste Bad Beat meiner Karriere.« Velasquez lachte kurz. »Ich bin beinahe in Ohnmacht gefallen. Ich war so geschockt, dass ich kurz danach ausgeschieden bin, deutlich vor Dixon. Und glauben Sie, er hätte sich entschuldigt? Nein, nicht Joel Dixon.«
»Eine persönlichere Erinnerung an ihn haben Sie nicht?«
Velasquez lachte wieder. »Sie sind lustig. Für mich ist die sehr persönlich.« Er schob die Karten wieder zusammen. »Ich hoffe, wenn ich das nächste Mal so ein verrücktes Blatt sehe, bin ich der Gewinner.«
»Wissen Sie, ob er Feinde hatte? Neider?«
Velasquez nahm einen weiteren Schluck Bier, bevor er antwortete. »Sicher hatte er welche. Er hat ein Vermögen damit verdient, anderen Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Mit einem Glücksspiel. Da bleibt es nicht aus, dass man jemanden gegen sich aufbringt, sich Feinde macht. Und Neider, die gibt es doch überall. Jetzt gerade bin ich auch neidisch auf die, die da oben noch spielen.« Er deutete Richtung Decke, der achtzehnte Stock lag zwei Etagen über ihnen.
»Glücksspiel, sagen Sie? Ich dachte, es geht ums Können.«
»Natürlich ist das wichtig. Am Ende des Tages spielt jedoch das Glück auch eine Rolle. Hätte Dixon damals nicht noch den Kreuz-Jungen bekommen, wäre das Turnier in Sydney vielleicht anders ausgegangen. Und hätte ich vorhin meine Zehnen getroffen und die Blonde nicht ihr Ass, würde ich vielleicht noch am Tisch sitzen.«
»Da oben.« Linus hob ebenfalls den Finger.
Velasquez grinste. »Ja, aber man hört schnell auf, solchen Momenten hinterherzutrauern, selbst wenn man sie im Gedächtnis behält. Wer sich zu lange über Bad Beats ärgert, taugt nicht zum Pokern.«
»Kommen wir zurück auf Dixon.«
»Und seine Feinde, ja. Ehrlich gesagt: Einen Namen habe ich nicht parat. Jarun hat oft ziemlich schlecht über Dixon geredet, aber er macht jeden mies, wenn man ihn lässt. Hey, ich habe auch das ein oder andere Mal schlecht über Dixon geredet. Er konnte halt ein ziemlicher Stinkstiefel sein, wissen Sie?«
»Haben Sie irgendetwas Ungewöhnliches über Dixon gehört in letzter Zeit?«
»Er wollte eine Online-Pokerplattform aufmachen. Nachdem er den ersten großen Run aufs Internet verschlafen hat, wollte er was Eigenes aufziehen. Und nicht als zehnter oder zwanzigster Profi bei einer der großen Plattformen anheuern. Aber das Ding ist den Bach runtergegangen, ehe es an den Start ging. War sicher kein Spaß. Habe gehört, dabei ist eine Menge Geld versenkt worden.«
»Wissen Sie, ob er allein in diese Plattform investiert hat?«
»Liam Newton hat mir vorgeheult, wie viel Geld er dabei verloren hat. Daher weiß ich überhaupt davon. Sie wollten das zu zweit durchziehen.«
»Liam Newton? Der spielt heute mit, oder?«
»Ja.«
»Eine Frage noch: Kennen Sie eine Jenna, die etwas mit Dixon zu tun hatte?«
»Nein, warum?«
»Der Name tauchte auf, ich dachte, vielleicht könnte ich mit ihr sprechen.«
»Nein, sagt mir überhaupt nichts. Vielleicht kennt die einer von den anderen, die noch spielen. Ashen oder Korhonen. Die hatten beide viel mehr mit Dixon zu tun als ich.«
Linus nickte. Er hatte genug gehört.