Hauptsache, ich komme überhaupt!, spreche ich mir selbst Mut zu, als ich zum zweiten Mal in dieser Woche die Treppe hinaufhetze und zehn Minuten nach Unterrichtsbeginn (hey, was ist das schon im Vergleich zu fünfundvierzig quälenden Minuten Latein?) schnaufend vor der Tür stehen bleibe.
»Gallia est omnes divisa in partes ...«, ertönt es aus dem Klassenraum. Schneeweißchen ist also wieder voll in seinem Element! Horror!
Zwei Seelen kämpfen in meiner Brust: Wenn ich mich dafür entscheide, den Rückzug anzutreten, sollte ich schlauerweise folgende drei Punkte bedenken:
Ich brauche eine Entschuldigung fürs Fehlen.
Ich muss den ganzen Mist nachholen.
Ich könnte eine Eisschokolade trinken gehen!
Aber so sehr ich auch Eisschokolade liebe, ich fürchte, ich muss jetzt tapfer sein! Ganz tapfer! Also klopfe ich zaghaft und trete ein. Nicht ohne meinen Kopf ein wenig zu senken, was mich kleiner erscheinen lässt, als ich ohnehin schon bin.
»Ach, wen haben wir denn da?«, fragt Dr. Matthias von Weißendorf und sieht mich strafend an. Wie Mom, wenn ich statt Bionade heimlich Cola trinke.
»Die Frau von Trüffel.«
Meine Güte, wie albern ist das denn? Nur weil unser Lateinlehrer ein Vonundzu ist, heißt das noch lange nicht, dass alle seinem Beispiel folgen und Teil seiner adligen Community sein müssen.
»Morgen«, piepse ich und setze mich blitzschnell neben Yella, die Grimassen schneidet.
»Und was hat uns diesmal daran gehindert, hier pünktlich zu erscheinen?«
Also »uns« ist ja schon mal ganz falsch, denn im Gegensatz zu mir war er ja augenscheinlich rechtzeitig da. Soll ich jetzt die Wahrheit sagen? Hm, besser nicht!
»Also, das war so ...«, beginne ich und hole tief Luft. Ich schwindle nicht gern, auch nicht im Notfall. Aber diesmal geht es wohl wirklich nicht anders. »Mein Fahrrad hatte einen Platten, und deshalb musste ich zu Fuß gehen.«
Schneeweißchen mustert mich aus seinen zusammengekniffenen, kleinen Schweinsäuglein. Tut mir leid, das so sagen zu müssen, aber unser Pauker ist alles andere als ein Dreamboy. Er ist schwabbelig, riecht streng und neigt zu ungesunder Blässe. Sollte vielleicht mal öfter an die frische Luft gehen, der Mann! Außerdem trägt er mit Vorliebe weiße Hemden und sieht damit aus wie ein Milchbrötchen. Ein teigiges, aufgequollenes Milchbrötchen! Bäh!
»Und gestern hattest du verschlafen, wenn ich mich recht erinnere!«
Von Weißendorf lässt nicht locker und schraubt demonstrativ die Kappe von seinem Füllfederhalter. Dann schlägt er das Klassenbuch auf. Langsam und genüsslich. Schülerquäler! Sadist!
»Ich notiere: Pamela Trüffel zum zweiten Mal in dieser Woche zu spät erschienen. Gestern eine Viertelstunde, heute zwanzig Minuten.«
Huch? Das waren sogar zwanzig und nicht nur zehn?
»Wann gedenkst du denn morgen zu kommen? Erst zur zweiten Stunde?«
Ich schweige betreten, was soll ich auch sagen? Dass ich diesen Vorschlag super finde? Yella stößt mich unter dem Tisch an. Ihre Schuhe donnern unsanft gegen meinen Knöchel. Aua!
»Bitte entschuldigen Sie, ich werde ab morgen wieder rechtzeitig da sein, versprochen!« Ist es das, was meine Freundin von mir hören wollte? Offenbar ja. Yella entspannt sich wieder und atmet tief aus.
Zum Glück drängt es Weißendorf, uns noch vieles aus »De Bello Gallico« zu zitieren, sodass ich in Konkurrenz zu Cäsar schnell den Kürzeren ziehe. Soll mir recht sein, ich steh eh nicht so besonders drauf, wenn alle mich anstarren.
»Mensch, Pomelo, was war denn los?«, zischt Yella nach der Stunde und macht einen auf strebsam. Macht sie in letzter Zeit häufiger und nennt das Erwachsenwerden. Ich nenne es nervig!
Falls sich übrigens jemand wundert, weshalb sie mich Pomelo nennt, anstatt Pamela, hier ist die Antwort:
1970 war ein wichtiges Jahr.
Die Rockband Queen entstand; meine Eltern lernten sich kennen (Sandkastenliebe! So was gibt's heute kaum noch), und in Israel wurden Pampelmusen mit Grapefruits gekreuzt. Die hießen dann Pomelos. Jahre später kreuzten sich die Gene meiner Eltern, und im Bauch von Mom reifte die Frucht der Liebe heran – ich.
»Sieh mal, wie rund ihr Gesichtchen ist«, hauchte sie, als sie mich nach der Geburt im Arm hielt.
»Und sie duftet wie eine Zitrusfrucht«, jubelte mein Dad, beseelt von dem Wunder, das die beiden zustande gebracht hatten.
»Nenn mich verrückt, aber ich würde unsere Kleine gern Pomelo nennen«, seufzte Mom (sie seufzt gern und viel!) und liebkoste mein flaumweiches, helles Haar.
»Ich dachte, wir wollten sie Pamela nennen?«, fragte Papa verwundert und beschloss dann, energisch zu werden und der romantisch-verspielten Ader meiner Mutter einen Riegel vorzuschieben. »Lisa, Schatz. Ich finde, wir sollten es dabei belassen. Es gibt doch schon jede Menge Kinder mit merkwürdigen Namen. Diesen Unsinn müssen wir doch nicht mitmachen!«
Und so kam es, dass ich mich nicht in das Ranking von missglückten Vornamen wie Daisy Boo, Poppy Honey oder Moon Unit einreihen musste, sondern auf den bürgerlichen Namen Pamela Trüffel getauft wurde, aber alle Welt mich Pomelo nennt.
Weil ich eben so aussehe und so dufte.
Ich persönlich finde Pomelo cool. So heißt sonst niemand, und ich hebe mich ganz gern von der Masse ab. Zumindest positiv.
***
Aber halt, ich muss ja noch Yellas Frage nach dem Grund für mein Zuspätkommen beantworten. »Ganz einfach. Ich habe schon wieder verschlafen!«, erkläre ich und warte auf ihre Reaktion. Welche auch prompt erfolgt.
»Habt ihr denn keinen Wecker?«
Gute Frage. Und sehr erwachsen!
»Doch, aber der hat gerade die Biege gemacht«, murmle ich. Normalerweise bin ich immer pünktlich.
»Schon mal an neue Batterien gedacht?«, fragt Julia, unsere Klassensprecherin, die offenbar nichts Besseres zu tun hat, als unser Gespräch zu belauschen.
»Hey, wer hat dich eigentlich gefragt?«, faucht Yella.
Julia und sie können sich nicht leiden, und das vom ersten Schultag an. Mir persönlich ist Julia eigentlich egal. Wir machen zusammen die Schülerzeitung, und das ist so weit ganz okay. Ich muss sie ja nicht heiraten!
»Schon gut, ich wollte nur helfen«, antwortet Lovely Juliet, wie Yella sie verächtlich nennt, und wirft ihr langes, blondes Haar in den Nacken. Dann trabt sie ab.
»Bei uns herrscht momentan ein wenig Durcheinander«, versuche ich die Umstände meiner kleinen Pechsträhne zu erklären. »Papa hat gerade ein neues Kochbuch herausgebracht, das bei uns im Laden präsentiert wird. Da haben Mom und Dad natürlich alle Hände voll zu tun. Und mein Bruderherz Levin hat eine Art Identitätskrise. Momentan glaubt er, ein Vampir zu sein.«
Yella kichert. Sie kennt meine Chaosfamilie und liebt sie heiß und innig. »Und du selbst konntest keine Batterien kaufen?«, fragt sie spitzfindig.
»Ich, öhm, ich war beschäftigt!«
»Ein neuer Roman?« Ich nicke. Ich bin eine Leseratte, wie sie im Buche steht. Und wenn ich erst mal in einer Geschichte abtauche, bringt mich so schnell nichts wieder auf den Boden der Tatsachen. Leider umfasst diese Leidenschaft vorwiegend Krimis, Komödien und Fantasy-Bücher. Latein ist da eher zweitrangig. Und sowieso 'ne tote Sprache!