Unverhofft kommt oft

»Guten Morgen, Plaudertasche«, begrüße ich unsere Wasserschildkröte, die dick und träge auf dem Holzsteg liegt, den Papa gebaut hat, damit sie leichter auf die Terrasse unseres Bootshauses klettern kann. Das Tier scheint allerdings noch nicht in Stimmung zu sein und dreht mir den Rücken zu. Mache ich übrigens auch oft, wenn Mom mich wecken will. Ich ziehe mir die Decke ganz weit über den Kopf und hoffe, dass sie mich nicht sieht. Was natürlich kompletter Unsinn ist, wo sollte ich schon groß sein? Aber ich hasse es, früh aufzustehen, daher auch mein gestörtes Verhältnis zu Weckern.

»Pomelo, Frühstück«, schallt es über den Bootssteg, der sich in der frühen Sommersonne im Wasser des Isebekkanals spiegelt.

»Komme gleich!«, rufe ich zurück und winke Hedwig Schnuppe zu, der alten Kapitänswitwe aus dem ersten Stock, die den Kopf aus dem Fenster steckt. Mit ihren fünfundachtzig Jahren braucht sie anscheinend nicht mehr so viel Schlaf. Beneidenswert! Wenn es nach mir ginge, würde ich bis mittags im Bett liegen und vor mich hin träumen. Doch heute geht das nicht, denn es steht eine Mathearbeit auf dem Programm. Außerdem darf ich diesmal auf gar keinen Fall zu spät kommen!

»Morgen, Bruderherz«, begrüße ich Levin und schmatze ihm einen Kuss auf die Wange. »Toll siehst du aus!«

Mein sechsjähriger Bruder macht heute einen auf Vampir. Levin liebt es, sich zu verkleiden, und ist darin ziemlich kreativ. Diese Woche ist er der imaginäre Bruder von Rüdiger von Schlotterstein, dem Helden der beliebten Kinderbuchserie Der kleine Vampir. Er trägt einen schwarzen Umhang, sein Gesicht ist geschminkt, und auf dem Kopf sitzt eine Plastikspinne. Igitt!

»Hast du meine Vampirrüffel?«, will Levin von Mom wissen und hält ihr eine quietschgelbe Plastikdose entgegen. Die Buchstaben »T« und »R« in Kombination zu sprechen, fällt meinem Brüderchen noch etwas schwer, weshalb aus den Pralinen »Rüffel« werden.

»Oh, Schätzchen, die hätte ich ja fast vergessen«, ruft Mom und springt auf.

Im Kühlschrank warten eigens für den Anlass gezauberte Trüffel, die Levin heute in die Vorschule mitnehmen wird. Meiner Mutter gehört nämlich der Laden Buchtrüffel, in dem es neben Büchern auch Trüffelpralinen gibt, die sie selbst macht. Und die sie selbst gern isst, was sie auch immer lautstark beklagt und uns jeden Morgen am aktuellen Stand ihres Gewichts teilhaben lässt.

Vergnügt versenkt Levin eine der rötlichen Kugeln in seinem Mund, den Rest in der Box.

Wieso muss ich eigentlich immer was Gesundes essen, und mein Bruderherz darf sich schon am frühen Morgen mit Schoki vollstopfen? Die Welt ist manchmal wirklich ungerecht! Ich beschmiere mein Dinkelvollkornbrot mit Bio-Champignonpaste, auch wenn ich mehr Appetit auf Geflügelwurst hätte. Noch lieber äße ich allerdings Leberwurst. Aber so was gab's hier schon seit Ewigkeiten nicht mehr.

»Und? Was macht ihr heute in der Vorschule?«, frage ich, weil ich wissen möchte, ob Levin vorhat, in diesem Aufzug nach draußen zu gehen. Wenn ja, werde ich bestreiten, auch nur im Ansatz mit ihm verwandt zu sein, wenn ich ihn mittags abhole.

»Das verrate ich nicht, das ist ein Geheimnis«, antwortet er mit Grabesstimme.

»Könntest du dich bitte wenigstens beim Frühstück von deinem Umhang trennen, die Ärmel hängen im Kakao«, schimpft Dad, der sich bislang hinter der Zeitung verschanzt hat, und zieht das nasse Stück Stoff aus der heißen Schokolade. Mein Vater ist kein Morgenmensch, womit eindeutig bewiesen ist, dass ich seine Tochter bin.

»Vampire ziehen sich nie aus!«, protestiert mein Bruder, und ich überlege, ob das stimmt. Habe ich Robert Pattison von »Twighlight« und seine Kollegen jemals »oben ohne« gesehen? Die Antwort auf die Frage erübrigt sich, weil ich schon wieder zu spät dran bin.

»Ciao«, grüße ich lässig in die Runde, schnappe mir einen Apfel (Bio!) und will gerade zu meinem Fahrrad, als ich etwas Seltsames sehe: Unsere roten Rosen, der ganze Stolz meiner Mutter, liegen zertrampelt auf dem Boden. Manche haben sogar ihre Köpfe verloren. Was ist denn hier passiert? Ob ich es Mom gleich sagen soll? Ein Blick auf die Uhr überzeugt mich davon, nichts dergleichen zu tun, sondern mich schnurstracks auf den Weg zum Helena-Lingen-Gymnasium zu machen. Ich öffne den Holzverschlag, wo unsere Fahrräder und Levins alte Bobby-Cars stehen, und traue meinen Augen kaum. Was um Himmels willen ist das denn jetzt? Ich schließe und öffne die Tür noch einmal, in der Hoffnung, dass sich etwas ändert. Doch das tut es nicht – mein Rad steht nicht da, wo es normalerweise steht. Ich sehe mich hektisch um, ob es jemand woanders hingestellt hat. Leider Fehlanzeige! Panik macht sich breit. Wenn ich heute nochmal zu spät zur Schule komme, bin ich geliefert!

»Papaaaaaaaaaaaa«, brülle ich, so laut es geht, und bin echt froh, dass Dad Sekunden später neben mir steht.

»Pomelo, was ist los? Ist alles in Ordnung mit dir?« Hektisch scannt er ab, ob mir ein Arm fehlt oder ein Bein.

Ich murmle was von »Mist«, »Komme zu spät«, »Katastrophe« und »Jemand hat mein Rad geklaut!«.

Dad ist jetzt zum Glück wach und kapiert binnen kürzester Zeit, dass nun sein Einsatz als Helden-Papa gefragt ist. Also auf zum Auto, das vor unserem Bootshaus parkt. Ich steige ein, Dad dreht den Schlüssel, und wir fahren los. Was zum Teufel ist denn jetzt schon wieder los? Irgendwie befindet sich der Volvo in leichter Schräglage. Papa bremst, öffnet die Tür, und dann höre ich ihn fluchen. An sich ist mein Vater die Ruhe in Person, aber wenn er erst mal so richtig in Fahrt ist, sollte man sich schleunigst aus der Schusslinie bringen! Ich wiederhole jetzt mal lieber nicht wortwörtlich, was er ruft, aber zusammenfassend lässt sich sagen, dass er echt sauer ist. Der Wagen hat nämlich einen Platten.

Meine Panik steigt ins Unermessliche. Wie soll ich es denn jetzt noch schaffen, pünktlich zu kommen?

»Sorry, aber ich muss echt los! Kann ich dich allein lassen?«, frage ich eher rhetorisch und flitze los, was meine Beine hergeben. Bis zur Schule sind es zu Fuß zehn Minuten. Und der Unterricht hat bereits begonnen ...

Ich halte mich erst gar nicht mit diskretem Klopfen auf, sondern stürme direkt in den Klassenraum. Ich sage wieder brav »Guten Morgen« – diesmal zu Jutta Kramer, unserer Klassenlehrerin – und will gerade zu einer dramatischen Entschuldigung ansetzen (Mein Fahrrad wurde gestohlen. Irgendjemand hat es auf mich abgesehen!), doch interessanterweise ist sie mit etwas anderem beschäftigt, als mir sofort verbal den Garaus zu machen. Dieses »Etwas« steht neben ihr, ist schlaksig, relativ groß (zumindest im Vergleich zu mir), hat strubbelige, braune Haare, die nach allen Seiten abstehen, und hört auf den Namen Max Locke. Lachhaft! Wie kommt jemand mit diesen glatten Haaren zu so einem Nachnamen? Und was macht dieser Typ überhaupt hier? Das Kichern vergeht mir schnell, als Frau Kramer sagt, dass Max sich neben Yella setzen soll.

»Moment mal, das ist mein Platz!«, protestiere ich, während Yella das Ganze scheinbar ungerührt hinnimmt. Wo bitte bleibt da die weibliche Solidarität?

»Ab jetzt nicht mehr«, antwortet meine Lehrerin. »Pomelo, du kannst dich nach hinten neben Sabine setzen. Dann habe ich Max in meiner Nähe.«

Na toll! Ausgerechnet ich Blindschleiche mit Brillenphobie muss in die hinterste Reihe. Weshalb eigentlich? Als Strafe fürs Zuspätkommen? Krass!

»Max ist euer neuer Mitschüler aus München«, erklärt Jutta Kramer die Anwesenheit des Lockenkopfes, der keiner ist. »Er kommt vor den Sommerferien zu uns, weil sein Vater kurzfristig einen Job bei den Hamburger Wasserwerken bekommen hat. Bitte helft Max, so gut ihr könnt. Julia und Yella, ich zähle auf euch.«

Lovely Juliet smilt, was ihre Punschlippe hergibt (der Ausdruck stammt übrigens von Yella, nicht von mir!), und wird die große Verantwortung bestimmt sehr gern tragen. Yella hingegen guckt etwas dumm aus der Wäsche. Wahrscheinlich dämmert ihr erst jetzt, dass sie gerade ihre Banknachbarin losgeworden ist. Langsamschnallerin! Von wem will sie in Zukunft Bio abschreiben? Na?

»Grüß Gott!«, sagt Max und lächelt schief in die Runde, bevor er sich setzt.

»Hi Sabine«, sage ich und setze mich ebenfalls. Leider kann ich von hier aus nicht mehr erkennen, welche Augenfarbe unser Neuzugang hat. Und ich kann auch nix mehr an der Tafel lesen. Schöner Mist!

Und wo bekomme ich jetzt auf die Schnelle ein neues Fahrrad her?