Neue Besen kehren gut

»Aber wer sollte denn deine alte Rostlaube klauen?«, fragt Yella, als der Unterricht zu Ende ist und ich ihr von dem gemeinen Diebstahl erzähle.

»Hey, Vorsicht! Beleidige nicht mein Rad. Es ist zwar nicht modisch, dafür aber einzigartig. Oder kennst du noch eins, das einen gelben Sattel und eine orangefarbene Klingel hat?« Frechheit!

»Dann nimm doch so lange das da«, grinst Yella und deutet auf meinen Drahtesel, der zusammen mit vielen anderen im Fahrradständer steht.

Ups, das muss ich wohl gestern dort vergessen haben, weil ich zusammen mit Yellas Mom im Wagen heimgefahren bin.

»Klarer Fall von schlechtem Gedächtnis, würde ich sagen«, lacht Yella. »Tschüss, Süße, bis morgen, muss los! Und konzentrier dich demnächst ein bisschen besser, bevor du alle Pferde scheu machst!«

***

»Na, Fürst der Finsternis, alles klar?«, frage ich mein Brüderlein, als ich ihn ein paar Minuten später an der Kita einsammle.

Ich muffle vor mich hin. Yella kann manchmal echt arrogant sein, das nervt! Obwohl sie natürlich recht hat, wenn ich ganz ehrlich bin …

Levin schenkt mir einen Blick, der in etwa sagen will: »Schwester, du bist voll peinlich, mach 'ne Fliege!« Sein Mund ist komplett verschmiert, eine Mischung aus blutrotem Lippenstift und Schokoküssen, sagt mein Expertinnenblick. Ich bin ja Süßigkeiten gegenüber generell nicht abgeneigt, aber Schokoküsse rangieren auf der Leckereien-Skala eindeutig ganz weit oben! Am liebsten würde ich ihn an mich reißen und ihn abknutschen. Aber Levins Blick signalisiert, dass er es begrüßen würde, wenn ich mich umgehend in Luft auflöse. Sorry, kommt nicht in Frage!

»Komm, Mom wartet auf uns«, sage ich energisch. Manchmal nervt es, dass seine Vorschule direkt auf meinem Heimweg vom Gymnasium liegt, weil es ganz oft an mir hängenbleibt, meinen Bruder abzuholen. Wenn Papa wieder eines seiner wilden Rezepte ausprobiert (dabei die Küche in Schutt und Asche legt) und meine Mutter im Laden die Seelentrösterin für die gesamte Nachbarschaft spielt, muss eben ich herhalten. Ich, die große, vierzehn Jahre alte Schwester. Mit mir kann man's ja machen! Einen Vorteil hat die Sache allerdings: Um immer erreichbar zu sein, haben mir die Eltern ein Handy spendiert. Aber leider nur so 'ne alte Krücke, mit der man auch gut Tischtennis spielen könnte, so groß ist das Teil. (Spare auf das pinkfarbene Ding von Nokia. Dauert aber wohl noch, bis ich die Kohle dafür zusammenhabe.)

»Tschüss Levin«, sagt Kathinka, die Leiterin der Kita am Kaiser-Friedrich-Ufer, zu der auch die Vorschule gehört. Wortlos schlurft mein kleiner Vampir neben mir her, während ich mein Fahrrad schiebe. Ich bin auch in Gedanken versunken, denn es gibt viel zu bedenken: Ich habe heute eindeutig die Mathearbeit vergeigt. Schuld daran ist unter anderem die neue Sitzordnung. Extremst ungünstig! In Sachen Bio und Mathe bilden Yella und ich normalerweise ein unschlagbares Team. Ich kann Bio, sie Mathe. Was Sabine kann, weiß ich noch nicht genau, aber ich vermute stark, es ist so etwas wie Religion. Ich weiß ziemlich wenig von Sabine, weil sie das ist, was man wohl gemeinhin eine graue Maus nennt. Deshalb ist sie auch die ideale »Dienerin« für Lovely Juliet, die immer jemanden für ihren Hofstaat braucht. Sabine himmelt Julia von morgens bis abends an, dass einem schlecht werden kann. Kein Wunder, dass sie Mathe nicht auf dem Plan hat! Mist, dieser Tag war bislang eine einzige Aneinanderreihung von Katastrophen! Erst die Sache mit dem »verschwundenen« Fahrrad (wie erkläre ich das nur meinen Oldies?), dann das Zuspätkommen, der neue Mitschüler, die neue Sitzordnung, die Mathearbeit ... und was kommt als Nächstes? Als wir uns unserem tomatenroten Zuhause mit den knallweißen Türen und Fensterläden nähern, entdecke ich einen Polizeiwagen, der vor dem Bootshaus parkt.

»Cool!«, ruft Levin begeistert, reißt sich von meiner Hand los, stürmt nach vorne und liegt dann – platsch! –auf der Nase. Tja, so kann's gehen, wenn man die falschen Klamotten anhat. Lange Umhänge sind eben nix für jeden Tag! Ich helfe meinem Bruder auf die Füße, und dann rutscht mir vor Angst das Herz in die Hose. Was, wenn die Polizei meinetwegen hier ist? Vielleicht hat Jutta Kramer bereits das Jugendamt über meine wiederholte Unpünktlichkeit informiert, und die arbeiten Hand in Hand mit der Polizei? Fliege ich von der Schule?

Komme ich wegen dreimaliger Verspätung in den Knast?

Oh, oh – am liebsten würde ich gar nicht erst reingehen. Mom und Dad verabschieden sich gerade von den zwei uniformierten Beamten, die ernste Mienen zur Schau tragen und jetzt direkt auf mich zukommen. Bestimmt sind sie wegen der Sache heute Morgen hier. Erde, tu dich auf und verschling mich und mein Rad!

Levin himmelt erst die beiden an, dann den Wagen. Er umrundet ihn, gefolgt von seiner Schleppe, mit der er mittlerweile den halben Weg entlang des Isebek-Kanals aufgewischt hat. Zuletzt habe ich ihn so begeistert gesehen, als unsere Müllmänner ihn auf ihr Auto gehievt haben. Jungs! Nix als Technik im Kopf!

»Ihr seid dann wohl die beiden Trüffel-Kinder«, sagt einer der beiden Polizisten und lächelt mich an. Dann guckt er auf mein Rad, doch sagt zum Glück nichts. »Schönen Tag noch euch beiden.«

»Ihnen auch«, antworte ich mit zittriger Stimme.

Offenbar bin ich doch nicht das Objekt ihrer Begierde. Schwein gehabt!

Sein Kollege spricht noch irgendetwas in das Funkgerät, und schon sind die beiden verschwunden. Levin sieht ihnen traurig hinterher. Ich ahne es: Morgen macht er einen auf Großstadtcop und legt mir Handschellen an. Schnell werfe ich das Fahrrad ins hohe Gras vor dem Haus und hoffe, dass es keiner sieht und Levin die Klappe hält.

Papa schiebt uns zur Tür hinein. Mama sieht aus, als hätte sie geweint.

»Kinder, setzt euch«, sagt sie.

Mein Magen knurrt, ich habe furchtbaren Hunger! Doch auf dem Tisch steht nichts, das essbar aussieht. Noch nicht einmal eine Schale Dinkelkekse oder ähnlich unleckeres Zeug.

»Die Polizei war hier, weil nicht nur meine Rosen hinüber sind« – kleiner Schluchzer! –, »sondern auch Papas Wagen einen Platten hat und Pomelos Fahrrad gestohlen wurde«, erklärt meine Mom.

Ich hüstle und verschlucke mich beinahe. Wäre es jetzt nicht an der Zeit zu beichten, dass ich nur mal wieder schusselig war?

»Die Beamten haben eine Anzeige gegen unbekannt aufgenommen und raten uns, in Zukunft alles gut zu verschließen. Sie glauben an einen Dumme-Jungen-Streich. Also passt bitte in Zukunft gut auf eure Sachen auf und gebt uns Bescheid, wenn jemand auf dem Gelände ist, den ihr nicht kennt.«

Levin findet das alles spannend, wenn ich sein Lächeln richtig deute. »Kommen die jetzt ins Gefängnis?«, fragt er mit leuchtenden Augen.

»Nein, mein Schatz. Noch ist ja gar nicht klar, wer für das alles verantwortlich ist. Aber habt keine Angst, uns allen wird nichts passieren. Wenn überhaupt, dann wollte uns nur jemand ärgern!«

»Pomelos Rad wurde doch gar nicht geklaut«, ereifert sich Levin nun.

Na toll, jetzt brauche ich gar nicht erst nach einem passenden Moment für mein Geständnis zu suchen.

Mom und Dad sind lebende Fragezeichen, ich selbst bin rot wie ein Feuerlöscher.

»Das ist jetzt nicht dein Ernst«, sagt Papa mit drohendem Unterton. »Und deshalb wolltest du mich am frühen Morgen dazu bringen, dich zur Schule zu fahren?«

Mein Herz pocht laut. »Ich, ähm, ich wollte nicht ...«, stottere ich. Warum muss mir auch immer wieder so ein Mist passieren? »Ich habe dich nicht angelogen, Paps. Ich dachte wirklich, mein Rad sei gestohlen worden. Dabei hatte ich es gestern nur an der Schule stehenlassen.«

Papa guckt böse, vermutlich weiß er nicht, ob er mir glauben soll, obwohl er mich ja eigentlich kennt.

Zum Glück hat Mom Mitleid mit mir.

»Jetzt aber Schluss mit dem blöden Thema. Pomelo, pass bitte in Zukunft besser auf deine Sachen auf, okay? So, ihr Lieben, was haltet ihr von Pizza?«

Schwein gehabt!

»Au ja«, juble ich, halbtot vor Hunger. Hätte ich doch bloß meinen Apfel gegessen. Aber bei all der Aufregung um die neue Sitzordnung, die Mathearbeit und Max Locke habe ich das total vergessen.

Bis die Pizza geliefert wird, verkrümle ich mich in mein Zimmer und schmeiße mich quer übers Bett. Mein Schädel platzt gleich, und in meinem Kopf geht es rund. Ich kann nichts dagegen machen – trotz der dummen Sache mit dem Rad und Stress mit Dad taucht immer wieder das Gesicht von Max in meinen Gedanken auf ... Das passt mir überhaupt nicht. In meinem Kopf ist kein Platz für so was, der wird für anderes gebraucht. Für Wichtigeres! »Jungs sind doof, das weiß doch jeder!«, sage ich energisch und starre an die Wand. In dieser Beziehung sind Yella und ich uns nämlich einig. Jungs hängen am liebsten vor ihren dummen Spielkonsolen ab und spielen sinnfreie Egoshooter-Games. Wenn sie nicht mit glasigen Augen vor dem PC hocken, dann vor der Glotze, weil ja ständig und überall Fußball läuft. Total eindimensional! Ich persönlich finde diesen Sport seit der WM ja auch ganz gut, wenn ich ehrlich bin. Das liegt aber in erster Linie an Torsten Frings, mit seinen schönen langen Haaren und den Tattoos. Die Typen aus meiner Klasse – allen voran Robby (heißt eigentlich Robert) und Richy (im wahren Leben Richard) – stehen auf Schweinsteiger und Podolski, diese Schwachmaten. Sieht doch jeder aus zehn Kilometer Entfernung, dass deren IQ gerade mal knapp über Raumtemperatur liegt! Obermegagigapeinlich finde ich aber, dass die beiden sich nicht zu doof sind, um ihren Stars auch noch Kosenamen wie »Schweini« und »Poldi« zu geben. Unfassbar!

Ich nenne doch Amy Winehouse auch nicht ... o ja, stimmt – ihr Name endet ja schon auf »i« beziehungsweise »y« ungünstiges Beispiel!

Ob Max wohl auch Fußballfan ist? Wer aus München kommt, steht bestimmt total auf die Bayernmannschaft, diese zusammengekaufte Elitetruppe. Vielleicht spielt er ja sogar selbst, könnte ich mir gut vorstellen.

Was er wohl für Musik hört?

Halt! Stopp! Jetzt ist aber echt Schluss! Was ist denn auf einmal los mit mir? Habe ich jetzt echt nichts Besseres zu tun, als über den Neuen nachzudenken? Bescheuert! Muss dringend ein Gedanken-Gegenprogramm starten. Aber welches?