Andere Länder, andere Sitten

Endlich Freitag und endlich pünktlich! Heute hat Mom mich extra eine halbe Stunde früher geweckt, damit ganz bestimmt nichts schiefgeht. Außerdem hat sie versprochen, Jutta Kramer anzurufen und sich dafür zu entschuldigen, dass sie mich zweimal nicht rechtzeitig zur Schule geschickt hat. Hoffentlich denkt meine Klassenlehrerin jetzt nicht, ich bin ein Baby, das ohne Mamas Hilfe keinen einzigen Schritt machen kann.

Ratlos stehe ich vor dem Spiegel, der im Inneren meines Kleiderschrankes befestigt ist. Draußen lacht die Sonne sich ins Fäustchen – Zeit für mein orangefarbenes T-Shirt mit dem gelben Muster, würde ich sagen. Leider hat mein zitronenfarbener Leinenrock einen großen Fleck (Schokoküsse?), sodass ich umdisponieren muss. Schwierig, schwierig! Hüftjeans oder weiße Shorts lautet die Frage der Stunde. Ich entscheide mich für die Jeans, das ist auf alle Fälle lässig. Dass unten am Saum ein paar Fäden raushängen, ignoriere ich für den Moment. Ist doch auch sehr vintage.

Als ich Richtung Kaifu-Ufer abbiege, höre ich ein fröhliches »Grüß dich«. Ich bin irritiert. In Hamburg sagt man so etwas nicht; nur in Bayern.

»Hallo!«, antworte ich, steige vom Rad und ärgere mich, dass meine Stimme ein wenig zittert. Was heißt ein wenig – ein Zitteraal ist die Ruhe selbst gegen mich.

»Das ist ja toll, dass ich dich hier treffe«, sagt Max und strahlt mich an. (Wichtiger Beschluss: Werde ab heute nur noch zu Fuß zur Schule gehen!)

»Ich wollte dich nämlich zwei Sachen fragen.«

Herz, könntest du jetzt wohl bitte einen Moment damit aufhören, im Dreieck zu springen? Du wirst noch gebraucht!

»Was denn?« Jetzt bloß keine Freude anmerken lassen!

»Erstens wollte ich wissen, ob es wirklich okay für dich ist, ab jetzt hinten zu sitzen, und zweitens wollte ich fragen, ob wir beide mal was zusammen unternehmen können.«

Mir wird heiß, ich fange an zu schwitzen und bete, dass Max das nicht bemerkt. Habe ich eigentlich heute Morgen Deo benutzt?

»An was hattest du denn dabei gedacht?«, frage ich und schaue verlegen auf den Boden, während ich meinen Drahtesel schiebe. Jetzt nur nicht vor Aufregung längs hinschlagen! Gleich sind wir bei der Schule, dann habe ich's geschafft.

»Keine Ahnung, ich kenne mich hier ja noch nicht so gut aus ...«

Scheint, als wäre echte Kreativität gefragt!

Und ich bin kreativ – oder etwa nicht?

»Ich denk mal drüber nach«, fahre ich fort, während um mich herum sich alles dreht wie ein Karussell. »Und was den Sitzplatz betrifft, da mach dir mal keinen Kopf. Das Schuljahr ist ja nicht mehr lang, ich werde es vermutlich überleben.« Was ich allerdings nicht überlebe, ist der Blick aus diesen megasüßen Augen. Nun weiß ich es – sie sind dunkelbraun. Schokobraun. Braun, wie Schokoküsse! Mhmmmmm ...

Jetzt sind wir fast an der Tür, und ich wünschte, ich könnte die Zeit anhalten, so schön finde ich es, mit Max zusammen zu sein. Doch das geht leider nicht. Was stattdessen anhält, ist der Wagen von Julias Vater, ein schnittiger Porsche Cayenne. Aus selbigem entsteigt Lovely Juliet mitsamt ihren ellenlangen Beinen, die heute in einem ultrakurzen Mini stecken. Oder ist das ein Gürtel, und Julia hat den Rock vergessen? Max ist plötzlich wie paralysiert und glotzt. Ob auf den Porsche oder Julias Beine kann ich nicht sagen, aber beide Möglichkeiten nerven kolossal. Ich schaue an mir hinunter. Warum habe ich mich nur gegen die Shorts entschieden?

»Hallo Max«, strahlt Julia, lächelt ihrem Vater kurz zu und baut sich vor uns auf.

Hallo Julia, ICH stehe auch hier!

»Grüß dich!«, antwortet Max, und Julia grinst.

»Lektion eins: In Hamburg sagt man zur Begrüßung hallo. Und zum Abschied nicht servus, sondern tschüss.«

Ach was ...!

»Verstanden!«, antwortet Max und trabt Julia hinterher, die hüftwackelnd die Treppe hinaufgeht. Zu viel Shakira-Videos gesehen, würde ich sagen. (Sollte heute vielleicht auch mal MTV oder VIVA gucken!) »Dir auch einen schönen guten Morgen!«, sage ich und folge den beiden grummelnd, nachdem ich mein Rad in den Ständer gestellt habe. Im Klassenraum angekommen, will ich mich aus alter Gewohnheit in die erste Reihe neben Yella setzen und lasse mich, ohne weiter hinzuschauen oder nachzudenken, auf den Stuhl plumpsen. Doch statt auf dem harten Holzstuhl landet mein Popo auf etwas warmem Weichem – Max' Oberschenkeln.

»Hey, nicht so stürmisch!«, lacht er, und ich bin schlagartig feuerrot.

»Schulligung«, murmle ich und mache mich auf den Weg in die letzte Reihe, während Yella mir bedauernd hinterhersieht. Ich winke kurz. Kann die Pause kaum abwarten. Muss unbedingt mit ihr über Max reden.

In der ersten Stunde haben wir Geographie, nicht gerade meine große Stärke.

Meine Lieblingsfächer sind Englisch, Französisch, Musik und Kunst. Ich bin eher der musisch veranlagte Sprachentyp, mit Naturwissenschaften bin ich schlichtweg überfordert. Einzige Ausnahme: Bio. »Pomelo, kommst du mal bitte nach vorn?« Nach vorn? Was will meine Erdkundelehrerin denn von mir? Ich habe jetzt Wichtigeres zu tun, als irgendwelche Orte auf der Landkarte zu finden und mit Angelika Carlsen Stadt, Land, Fluss zu spielen. Die Carlsen sieht das offenbar etwas anders.

»Kannst du mir zeigen, wo der Marianengraben liegt?«, fragt sie mit strenger Mine.

Der, äh, ja – da war doch noch was ... Ich trotte nach vorne, lasse mir aber Zeit.

Alle Blicke heften sich an meinen Rücken, natürlich auch der von Max. Hilfe!

Ich stehe vor der Landkarte und fühle mich plötzlich noch kleiner als sonst. »Pazifik«, dringt es leise an mein Ohr, während Frau Carlsen versonnen aus dem Fenster sieht. Ich ergreife den hölzernen Zeigestock und lasse ihn langsam über die Karte gleiten. Wo war noch gleich ...? Mittelmeer, Atlantik – ah, da haben wir ja den Pazifik. Glück gehabt!

»Sehr schön!«, lobt meine Lehrerin, und ich bin entlassen.

Mein Herz pocht schon wieder wie wild, als ich mich neben Sabine auf meinen Sitz plumpsen lasse. Max hat mir doch tatsächlich vorgesagt, und auch noch richtig! Sternchennebel, Nirwana, Stolperherz, Gigadurcheinander. Er hat mir vorgesagt!

Ich schaffe es kaum, bis zur Pause durchzuhalten. Ich brauche Yella, und zwar sofort! Doch die hat mal wieder Hunger, also müssen wir erst mal zum Brötchen-Mann und dafür sorgen, dass meine Freundin keinen elenden Hungertod erleidet, was schwer vorstellbar ist, wenn man bedenkt, dass sie den ganzen Tag isst. Max scheint von ähnlichen Gelüsten getrieben, denn auch er hat sich in die Schlange eingereiht, um sich etwas zum Frühstück zu kaufen. Jep, dann sind wir zumindest zur selben Zeit am selben Ort! Als er eine »Käsesemmel« ordert, bricht Yella in schallendes Gelächter aus.

Ich tue so, als würde ich sie nicht kennen.

»Kann dem Mann mal jemand ordentliches Deutsch beibringen und sagen, dass das in Hamburg Brötchen heißt?«, fragt sie und sieht mich beifallheischend an.

Doch ich tue ihr den Gefallen nicht, denn ich finde, dass das Wort Semmel sich ziemlich niedlich anhört. Zumal, wenn es aus Max' Mund kommt.

Und auf einmal weiß ich, was ich mit ihm unternehmen kann: Ich unterrichte ihn in Norddeutsch. Super Idee! Da kann Julia Beine bis sonst wo haben ... Aber ich bin hier das Sprachtalent, jawohl! Und immerhin hat Max mich gefragt, ob wir was zusammen machen wollen.

Werde doch kein MTV schauen, sondern stattdessen den Duden wälzen ...