Ein großer Mensch ist der, der sein Kinderherz nicht verliert

Am nächsten Morgen schlurfen Yella und ich völlig übermüdet Richtung Schule. Vielmehr schlurft Yella, und ich humple mit meinem Gips hinterher. Wird Zeit, dass das lästige Ding abkommt!

»Vielleicht hätten wir heute Nacht doch nicht so lange quatschen und DVDs schauen sollen«, sagt Yella gähnend und stoppt vor einem Bäcker.

Oh, Mann, muss sie jetzt etwa schon wieder essen? Wir haben doch gerade gefrühstückt. »Magst du auch einen Latte macchiato?«, fragt sie, doch ich bleibe lieber draußen und blinzle in die Sonne.

Während ich darauf warte, dass meine Freundin sich zwischen den Aromen Mandel, Vanille und Karamell entscheidet, kommen zwei Jungs raus.

»Hast du gehört, was sie mit dem Kaifu-Ufer anstellen wollen?«, fragt der eine den anderen, beißt genussvoll in ein Croissant und reicht seinem Kumpel einen Becher Kaffee. Offenbar planen die beiden, hier draußen zu frühstücken.

»Die wollen aus der Gegend eine echte Spielwiese für Yuppies machen. Der Spielplatz wird verkleinert, und eventuell schließen sie sogar das Kaifu-Bad.«

Was? Davon weiß ich ja noch gar nichts! Mein Herz schlägt etliche Takte schneller, als Yella nun auch mitsamt ihres Bechers herauskommt und ebenfalls in aller Seelenruhe stehen bleibt, als würden wir nicht gleich zur Schule müssen.

»Ist das nicht der Typ aus der U-Bahn?«, wispert sie und deutet scheinbar beiläufig auf einen der beiden, wobei der Latte macchiato beinahe überschwappt. Wozu hat der liebe Gott eigentlich Plastikdeckel erfunden?

»Welcher Typ?«, flüstere ich zurück und überlege, wann ich das letzte Mal Bahn gefahren bin.

»Na, der dich vor dem Absturz gerettet hat. Hallo! Erde an Pomelo, bist du wach?«

Äh ja, offenbar noch nicht ganz. Doch dann fällt es mir wieder ein. Der Freak mit den starken Armen, der sich eine Frau mit Herz wünscht. Mein eigenes Herz macht kurz padumm. Ob er mich wohl auch erkennt?

Ich schaue fasziniert auf seine verwuschelten, dunkelblonden Haare und die Rückseite seines T-Shirts, das fast so aussieht wie von Ed Hardy, dem Tattoo-Künstler. Nur cooler. Darüber hat er eine Lederjacke geschmissen, die garantiert vom Flohmarkt oder Secondhandshop ist.

Geht er etwa auch aufs Helena-Lingen? Komisch, ich habe ihn noch nie dort gesehen.

»Morgen, Mädels, hallo Ben, hi Florian, sehen wir uns heute Nachmittag beim Fußball?«, ertönt es fröhlich –Auftritt Max.

»Wenigstens hat er sich endlich dieses alberne ›Grüß Gott‹ abgewöhnt«, tuschelt Yella jetzt so dicht an meinem Ohr, dass ich befürchte, dass mein Trommelfell gleich in Kaffee ertrinkt.

Die beiden Typen nicken und grüßen zurück. Nun weiß ich allerdings nicht, ob der Freak nun Ben oder Florian heißt. Ben fände ich persönlich ja schöner.

»Hi Max«, antworte ich und versuche, so gleichgültig wie möglich dreinzuschauen. Ben (oder Florian) hebt den Kopf und sieht mich an. »Hey, du bist doch die aus der U-Bahn«, sagt er und lächelt. »Schön, dich zu sehen!«

Ich bin verwirrt. Er findet es schön, mich zu sehen – und ich finde es seltsamerweise auch schön, ihn zu sehen. Dabei stehe ich doch total auf einen anderen! »Ja, finde ich auch«, murmle ich und drehe mich zu Max um. O Mann, sieht der heute wieder süß aus!

Obwohl? Können Jungs eigentlich süß aussehen?

Süß sagt man doch zu Babys, Kaninchen und Hundewelpen. Und natürlich zu Schokolade. Gibt es anstelle von »süß« nicht noch eine andere Bezeichnung? Die deutsche Sprache ist doch so vielfältig.

Werde das heute Abend im Synonymwörterbuch nachschlagen. Gleich nachdem ich mich in Sachen Umzug von Wasserschildkröten schlau gemacht habe.

Nachdem die Jungs sich verabschiedet haben (»Man sieht sich!«) und wir ihnen wegen meiner Krücke langsam hinterherdackeln, fragt Max: »Und? Alles klar bei dir? Du siehst heute ein bisschen müde aus. Oder traurig. Oder beides.«

Wow, Max ist ein echter Frauenversteher. Ich bin gerührt!

Allerdings hat er die Frage dummerweise Yella gestellt und nicht mir. Na toll!

»Pomelo und ich haben es heute Nacht ein wenig mit dem DVD-Gucken übertrieben«, erklärt Yella, und ich bete zu Gott, dass Max jetzt nicht fragt, was wir geschaut haben.

»Was habt ihr denn geschaut?«, will er prompt wissen.

Gott existiert also nicht, wusste ich es doch! Muss ich gleich Sabine, der Reli-Streberin sagen, auch wenn sie dann vermutlich umgehend hyperventiliert. Ich versuche, Yella unbemerkt in die Rippen zu stoßen, was in etwa heißen soll: Wenn du das jetzt tust, sind wir die längste Zeit Freundinnen gewesen!

»Erst haben wir Findet Nemo geguckt und dann eine ganze Staffel Shaun das Schaf« Okay, Yella und ich – das ist ab sofort Geschichte!

Max hüstelt.

Ich auch. Ich huste so laut in das Wort »Schaf«, wie ich kann, und hoffe, dass er die Sache für ein akustisches Missverständnis hält. »Shaun das Schaf aus der Sendung mit der Maus

Gleich entgleisen meine Gesichtszüge, und ich breche über meiner Krücke zusammen.

»Ja, genau. Ist der nicht süüüüüüüüß?«, schwärmt Yella, der ich am liebsten den Plastikbecher quer in den Mund stopfen würde.

»Meine Schwester liebt Shaun auch«, sagt Max. Womit immerhin klar ist, woher er die Sendung kennt. Ich hoffe sehr, dass seine Schwester sechzehn ist, dann stünde ich nicht mehr ganz so dumm da. »Emma ist fünf und guckt die Sendung jeden Sonntag, bevor sie ins Bett muss.«

Gut, dass wir das jetzt auch geklärt haben.

Ich bin so gut wie tot.

Was mich auch von der Verpflichtung entbindet, mit Yella Schluss zu machen, Synonyme für »süß« zu finden und mir Gedanken darüber zu machen, weshalb ich es toll finde, dass der Freak mich wiedererkannt hat ...

»Ich mag Shaun übrigens auch. Er ist klug, er ist mutig und findet für jedes Problem eine Lösung. Wusstet ihr, dass er von den Machern von Wallace und Gromit kreiert wurde?«, schwärmt Max.

Ich kann es kaum glauben.

Vielleicht bleibe ich doch besser am Leben.

Vielleicht kann ich sogar mit Yella befreundet bleiben.

Vielleicht ist »süß« doch das passendste aller Adjektive für Max. Denn wer Shaun mag, hat ein Herz. Und wer dazu steht, dass er dieses Schaf mag, obwohl er fast fünfzehn ist, zeigt Größe.

Hilfe – ich bin total verknallt in Max. Und es wird immer schlimmer! Keine Ahnung, weshalb ich mich kurz von dem Freak habe irritieren lassen ... der ist doch gar nicht mein Typ!

Lieber Gott, wenn du mir dabei hilfst, dass Max sich auch in mich verknallt, dann glaube ich auch wieder an deine Existenz.

Sind wir im Geschäft?