Der Samstag startet nicht viel besser, als der Freitag geendet hat: Ich verbringe den ganzen Vormittag damit, im Copyshop die Kopien für unsere Unterschriftenaktion zu machen und Flyer zu erstellen. Und mich mit dem Typen rumzukloppen, der dort arbeitet und sich so was von toll findet, dass ich am liebsten schreien würde. Er empfindet es scheinbar als Zumutung, Fragen zu beantworten, was mich als Technikhirni nicht gerade vorwärtsbringt.
»Hey Franco, hab dich mal nicht so! Siehst du nicht, dass die Lady Hilfe braucht?« Verwundert tauche ich vom Boden auf, auf dem ich herumgekreucht bin, um irgendwelche Kopiererklappen zu öffnen, in denen sich was verklemmt hat. Nanu? Wer schlägt sich da auf meine Seite? Und wer nennt mich Lady?
Mein edler Retter (kein Ritter, mehr ein Freak!) kommt mir irgendwie bekannt vor ...
Und dann weiß ich es wieder – es ist Florian (oder Ben?), der Typ aus der U-Bahn. Zu meinem großen Erstaunen stutzt er den ekelhaft arroganten Franco zurecht. Und o Wunder, es funktioniert! Einige Minuten später bin ich im Besitz der notwendigen Papiere, um für Sonntag gerüstet zu sein. »Hey, das war nett von dir. Ist schon das zweite Mal, dass du mir geholfen hast, danke!«, sage ich im Hinausgehen.
Erst später fällt mir ein, dass ich mich ja eigentlich mal hätte vorstellen können, ich Hirni! Okay, Chance verpasst, also auf zum nächsten Schritt: Yella mobilisieren, denn wir brauchen ja noch das dritte Team.
»Fällt dir jemand ein, mit dem du Lust hättest, das Ganze zu machen?«, frage ich vorsichtig. Notfalls stelle ich ihr Levin zur Seite. Das finden die Passanten garantiert total süß. Und Yella liebt ihn.
»Florian hat bestimmt Lust!«, kommt es wie aus der Pistole geschossen.
Hab ich diesen Namen nicht neulich schon mal gehört? Kurze Zeit später sehe ich mich mit der Tatsache konfrontiert, dass Yella offenbar schon eine ganze Weile ein Geheimnis vor mir hat. Sie ist nämlich seit zwei Monaten mit diesem Florian zusammen, was auch immer das genau heißen mag. Florian ist auf der Ilona-Ahren-Gesamtschule (direkt neben unserer) und ebenfalls ein Filmfreak. Außerdem – und das ärgert mich am meisten – ist er der Freund meines Freaks, den wir zusammen vor dem Bäcker gesehen haben.
»Und wieso erfahre ich das erst jetzt? Wieso tust du mir gegenüber so, als würdest du den Typen gar nicht kennen? Immerhin haben wir ihn schon gemeinsam getroffen«, meckere ich beleidigt ins Telefon; meine Beste-Freundin-Ehre ist gekränkt. So etwas würde ich ihr umgekehrt niemals antun.
»Wir wollten uns erst unserer Gefühle sicher sein, bevor wir damit an die Öffentlichkeit gehen«, faselt Yella, die offenbar nicht mehr alle Latten am Zaun hat.
Was redet sie da für einen Unsinn? Florian und sie sind doch kein Promi-Paar, das sich irgendwann dazu entschließt, die Presse darüber zu informieren, dass bald geheiratet wird.
»Wir müssen reden!«, sage ich energisch, denn dieser Vertrauensbruch muss sofort besprochen werden. Eisernes Freundinnen-Gesetz: Sag sofort alles, was dir auf dem Herzen liegt, und klär das!
Also treffen Yella und ich uns am späten Samstagabend auf dem Spielplatz am Kaifu-Ufer. Klingt jetzt vielleicht ein bisschen albern, aber wir sind gern dort – vor allem, wenn es leer ist.
»Nimm dir eine Jacke mit, Pomelo, wir haben noch keinen Hochsommer!«, ruft Mom mir noch hinterher, was ich aber geflissentlich ignoriere. Jacken sind nur was für Weicheier!
***
Sonntagmorgen weiß ich, dass ich besser auf Mom gehört und mich wärmer angezogen hätte. Ich erwache mit Kopfschmerzen, dicken Mandeln, einer Triefnase und fühle mich, als wäre ich von einem Panzer überrollt worden. Obwohl ich zugegebenermaßen noch nie mit einem solchen Teil zu tun hatte.
»Das sieht aber gar nicht gut aus«, sagt Mom, nach der ich mit letzter Kraft gerufen habe, bevor meine Stimme endgültig verschwunden ist. Vielleicht sollte ich mich schon mal mit Papier und Stift bewaffnen, das könnte die Kommunikation erleichtern.
»Ich würde sagen ...«, Blick aufs Fieberthermometer, kleiner Seufzer, »dass du heute stramm im Bett bleibst. Wenn du dich bis morgen nicht besser fühlst, geht Papa mit dir zum Arzt, und du lässt dich krankschreiben.«
Im Bett bleiben? Krankschreiben? Kommt nicht in Frage, heute ist der Tag aller Tage!
»Geht nicht!«, krächze ich. »Ich muss doch heute Unterschriften sammeln!«
»Ach ja? Und wie willst du das anstellen? Dir ein Schild um den Hals hängen? Nein, Pamela, vergiss es. So lobenswert ich deinen Einsatz auch finde, mit erhöhter Temperatur kenne ich kein Pardon!«
Ich kann nicht anders, ich beginne zu heulen. So peinlich es auch ist, aber für mich stürzt gerade eine Welt zusammen. Ist doch klar, was dann passiert: Julia schnappt sich Max, und aus die Maus ...
»Was ist denn hier los?«
Oh, Dad ist da und guckt ganz besorgt. Vielleicht kann er mir ja helfen.
»Deine Tochter hat eine saftige Sommergrippe, möchte aber heute unbedingt an der Unterschriftensammlung am Kaifu-Ufer teilnehmen«, klärt Mom meinen Vater auf. Kurze Frage: Wieso bin ich plötzlich seine Tochter? Gibt es irgendwas, das ich wissen müsste?
»Ist es denn wirklich so schlimm?«, fragt Dad, und ich schüttle, so gut es geht, den Kopf. Aua!
»Achtunddreißig Grad sind kein Spaß. Außerdem neigt sich das Schuljahr dem Ende zu, und es stehen noch Klassenarbeiten an. Die darf Pomelo keinesfalls versäumen!«
»Aber ihr sagt doch immer, dass man sich für die Umwelt einsetzen soll ...«, wispere ich, so gut es geht.
Mom und Dad beugen sich beide zu mir herab: »Häh?«
Mein Vater kapiert zuerst, was ich sagen will. Guter Mann! »Pomelo, du bist wirklich ganz meine Tochter, ich bin stolz auf dich. Wer hätte gedacht, dass du dich einmal für das interessieren würdest, was mir auch am Herzen liegt. Und weißt du was?«
Yes, mein Vater hat ein Einsehen mit mir.
»Ich werde an deiner Stelle übernehmen. Wie heißt nochmal der Knabe, mit dem du das machen wolltest?«
Na toll, ganz große Klasse. Genau so habe ich mir das vorgestellt. Mein Vater und Max, Seite an Seite, für den Erhalt der Natur am Isebekkanal kämpfend.
»Schatz, das ist aber lieb von dir«, lobt Mom meinen Papa und gibt ihm einen Kuss auf die Nase.
»Wsmachnihhiea?« Jetzt will auch noch Levin mitmischen. (Kleine Übersetzungshilfe: »Was macht ihr denn hier?«) Schön, dann sind wir ja alle komplett. Fehlt nur noch Oma Schnuppe.
»Raus mit dir, Hase, deine Schwester ist krank. Und ich will nicht, dass du dich bei ihr ansteckst. Hast du Lust, zusammen mit Papa Unterschriften zu sammeln, damit die Bäume alle stehenbleiben dürfen?«
Levin versteht zwar vermutlich nur Bahnhof, aber egal. Wo was los ist, will mein Brüderchen dabei sein. Und zack, ist er auch schon verschwunden, bastelt vermutlich an seinem Outfit für den Nachmittag.
»Pomelo, Schätzchen, nun wein doch nicht so.« Papa wiegt mich in den Armen, wie vor langer Zeit, als ich noch klein war. Tut aber gut, wenn ich ehrlich bin.
»Den Bäumen passiert nichts, du wirst schon sehen. Ich kümmere mich um alles, versprochen!«
Wenn Dad wüsste, dass ich aus einem ganz anderen Grund heule. Aber DABEI kann er mir leider nicht helfen. Das fiele schon eher in Moms Zuständigkeitsbereich.
Wie es aussieht, bleibt mir jetzt nichts anderes übrig, als Max und Yella eine SMS zu schicken und sie über den aktuellen Stand der Dinge zu informieren. Und dann schnell wieder gesund zu werden. Denn Mom hat recht; bis zu den Sommerferien ist es nicht mehr lang. Und dann sehe ich Max ganze sechs Wochen lang nicht. Und spätestens danach muss ich ja auswandern ... Wenn mich nicht die Grippe zerlegt, sterbe ich spätestens zu diesem Zeitpunkt an gebrochenem Herzen.
Aber bevor ich sterbe, muss ich noch meine Mitstreiter informieren.
SMS an Yella: »Bin todkrank. Liege mit Fieber im Bett. Papa übernimmt für mich. Kriegt ihr das ohne mich hin?«
SMS von Yella an Pomelo: »Wann genau stirbst du denn? Dann komme ich nämlich vorher vorbei. Hätte gern dein T-Shirt mit dem Totenkopfmotiv drauf. Wäre das okay?«
SMS an Yella: »Haha, sehr witzig! Dkmm!«
SMS von Yella an Pomelo: »Sei nicht böse, wollte dich doch nur aufmuntern. Nimmst du das Dkmm zurück? Küsschen, Yella«
Ich denke nach. Ist »Du kannst mich mal!« nicht genau die richtige Antwort auf eine so fiese SMS? Wie auch immer. Wenn jemand dieses T-Shirt bekommt, dann ist es Levin. Er ist nämlich auch scharf drauf, und kleine Brüder gehen in diesem Fall eindeutig vor. Nachdem ich mich wieder mit Yella vertragen habe (schriftlich!), schicke ich eine Kurzmitteilung an Max. Meine Hände zittern, während ich die Buchstaben eintippe. Ich habe ihm noch nie gesimst. Bei »Hallo« kullern mir schon wieder literweise Tränen die Wangen hinunter. Wenn ich so weitermache, ist bald meine ganze Bräune weg. Die echte meine ich jetzt, nicht dieses stinkende Kunstzeugs.
Ich informiere den Mann meines Herzens über meine Grippe und frage ihn, ob er lieber mit Julia oder meinem Vater zusammenarbeiten möchte. Und es kommt, wie es kommen muss: Julia und Max bilden heute ein Team.
Geht es noch schlimmer?