Säge nie den Ast ab, auf dem du sitzt

»Endlich!«, ruft Yella, als ich um die Ecke biege und die Schultreppe hoch will. »Gut, dass du wieder da bist, ich hab dir sooooooo viel zu erzählen!«

Und ich sooooooo wenig, denke ich angenervt. Die letzte Woche war echt die Hölle, Krankschreibung bis einschließlich Freitag.

Nie weder gehe ich abends ohne Jacke irgendwohin, ich schwöre!

»Na, Pamela, wieder gesund?«, flötet die Frau, die ich gerade am allerwenigsten ertragen kann – Julia. »Wir haben heute wieder Sitzung, vielleicht hast du ja Lust zu hören, wie weit Max und ich mit unserer Aktion gekommen sind ...«

Autsch, dieses uns tut weh. Richtig weh!

»Mal sehen«, antworte ich vage und konzentriere mich aufs Treppensteigen. Eine Woche untätig im Bett, und schon fühle ich mich so schlapp, dass ich keinen Grashalm umpusten könnte.

»Pomelo, sieht man dich auch mal wieder«, ertönt die Stimme, nach der ich mich die ganze Zeit verzehrt habe. Schmelz ...

»Na, alles im Lack? Wieder gesund?« Hach, Max erkundigt sich nach meinem Befinden, ist das schön! Den Gedanken daran, dass er das bereits die gesamte letzte Woche hätte tun können, schiebe ich elegant beiseite. Ich kann mich schließlich nicht mit allem auf einmal beschäftigen.

»Ja, so weit wieder alles in Ordnung. Fühl mich noch ein bisschen müde und wackelig, aber das wird schon«, nuschle ich und ärgere mich darüber, dass Julia unseren Wortwechsel so aufmerksam verfolgt, als ginge sie das Ganze megamäßig was an.

»Komm, wir müssen los«, sagt sie unvermittelt und legt ihre Hand auf den Arm von Max.

Hat die Alte sie noch alle? Finger weg, der Mann gehört mir! In mir schrillen tausend Alarmglocken (oder ist es doch die Schulglocke?), und plötzlich ist Schluss mit schlapp. Ich fühle mich durchaus in der Lage, Miss Oberwichtig eine zu verpassen. Zum Glück hindert mich Yella daran, bis zum Äußersten zu gehen, und so schluppe ich murrend zum Klassenraum rauf, Hedwigs Worte »Mord war noch nie meine Sache« im Ohr. Vielleicht war es tatsächlich nicht ihr Ding, zu derart drastischen Mitteln zu greifen, aber ich persönlich kann bald für nichts mehr garantieren!

Ich verbringe den kompletten Schultag mit Schmollen. Sabine ist zwar etwas irritiert, weil ich kaum mit ihr spreche, aber da kann ich jetzt auch nichts machen. Schließlich ist sie Julias Dienerin und kooperiert mit dem Feind. Selbst schuld, wenn sie sich auf die falsche Seite schlägt.

Ihr zaghaftes »Na, geht's wieder?« beantworte ich nur mit einem verächtlichen Lächeln. »An einer Grippe stirbt sich's nicht so leicht«, ist alles, was ich dazu zu sagen habe. Ich nehme erst wieder Kontakt mit Sabine auf, als ich feststelle, dass ich meine Federtasche daheim vergessen habe. Na super!

Zu allem Überfluss beschließt Schneeweißchen, uns an diesem Tag mit einer Lateinarbeit zu überraschen. Ich dachte, die Zensuren stehen schon so gut wie fest?

Als er die Aufgabe verteilt, bricht mir der Schweiß aus. Bin ich etwa doch noch nicht gesund? Vielleicht hatte Moms Thermometer einen Aussetzer und deshalb ein falsches Ergebnis angezeigt.

Ich überlege kurz, mich erneut krankzumelden, doch dann sehe ich, dass Julia Max hinter Schneeweißchens Rücken ein zerknülltes Zettelchen zuwirft. Spinne ich, oder haben wir so etwas zuletzt in der dritten Klasse gemacht? Max lächelt sein schönstes Lächeln, und ab sofort ist eines klar: Wenn ich hier noch einen Blumentopf gewinnen will, leiste ich mir besser keine Fehlstunden mehr. Ab sofort darf ich ihm nicht mehr von der Seite weichen!

In der großen Pause muss ich mich auch noch von Yella zutexten lassen, die auf rosaroten Wolken schwebt. Wesentlicher Gesprächsinhalt: Florian.

Zur Abwechslung auch mal Florian, und wenn es doch noch einen Themenwechsel gibt, findet Florian darin auch garantiert noch Platz. Wenn ich diesen Namen heute noch einmal höre, raste ich aus.

»Und wie war deine Woche so?«, flötet Yella und merkt gar nichts.

Jetzt werde ich ernsthaft sauer. »Das wüsstest du, wenn du mal vorbeigekommen wärst«, zische ich und weide mich an dem schuldbewussten Gesicht meiner Freundin. »Aber du hattest ja ständig mit Florian und deinem Filmprojekt zu tun ...« Klinge ich irgendwie beleidigt?

»Hey, nun sei nicht beleidigt«, versucht Yella, sich zu verteidigen. »Wenn du dich mal so richtig verknallst, habe ich auch Verständnis dafür, wenn du total abtauchst!«

Ach ja, na das wollen wir mal sehen.

»Außerdem habe ich dich jeden Tag angerufen.« Stimmt, das hat sie. Aber Anrufen und Vorbeikommen ist nun mal nicht dasselbe.

Zum Glück ist die Pause zu Ende, was mir weitere Diskussionen zum Thema »Füreinander-Dasein-in-Krisensituationen« erspart. Vielleicht haben meine Freundin und ich ja auch nur unterschiedliche Begriffe von Krisen?

***

Nach der Schule folgt Teil zwei dieses grottigen Tages: die Redaktionskonferenz.

Wie sich herausstellt, waren Max, Julia, Yella und Co. sehr erfolgreich und haben massig Unterschriften gesammelt, die allesamt beim Bezirksamt liegen und in Kopie beim Eimsbüttler Wochenblatt, das in der nächsten Ausgabe einen großen Bericht über die jungen, engagierten Öko-Aktivisten bringen wird. Mit Foto!

Die Zeitung ruft ihre Leser dazu auf, eine Bürgerinitiative zu gründen und sich selbst Aktionen zu überlegen, die die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Situation am Isebekkanal ziehen. Für Samstag ist der erste Tag anberaumt, eine Hotline ist bereits eingerichtet.

»Was haltet ihr von einer Internetseite zu diesem Thema?«, fragt Julia, und ich könnte schreien.

Warum hat diese Kuh so gute Ideen, während ich selbst momentan Mühe habe, meinen eigenen Namen zu buchstabieren?

»Super«, ruft Max und macht sich irgendwelche Notizen, »auf diese Weise nutzen wir den Multiplikator-Effekt, den das Internet bietet.«

»Und wer soll diesen Auftritt bezahlen?«, werfe ich ein. Irgendwer muss diese Pute ja mal ausbremsen.

»Keine Sorge, Pamela«, sagt Julia und pustet ihren Blond-Pony beiseite. »Meine Eltern haben Kohle genug. Das machen die mit links.«

Max strahlt.

Ich koche vor Wut.

Scheint, als sei ich komplett abgemeldet.

Ich muss mir für Samstag auf alle Fälle was einfallen lassen, sonst bin ich ganz schnell raus aus der ganzen Sache.

»Okay, dann übernehmt ihr den technischen Part und ich den künstlerischen. So was kann ich ja ganz gut!«

Warum schauen Yella, Max und Julia mich so merkwürdig an? Schließlich habe ich eine Zwei in Kunst!

»Und woran hast du dabei so gedacht?«, fragt Julia schleimig. »Willst du ein Theaterstück aufführen, frei nach dem Motto ›Mein Freund der Baum ist tot, er starb im frühen Morgenrot?‹«

»Wenn's der Sache dienlich ist, auch das«, antworte ich nicht ganz so selbstsicher, wie ich es gern täte. »Lasst euch einfach überraschen, okay?« So wie ich mich selbst von mir auch, ähem.

»Danke, Pomelo!«, sagt Max. »Finde ich toll, dass du das machst, obwohl du gerade erst wieder auf den Beinen bist.«

Ich habe Mühe, ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken.

Merk dir eins, Sweetheart. Ich bin wieder da, also zieh dich besser warm an!

***

Als ich am frühen Nachmittag endlich zu Hause bin, kann ich es kaum erwarten, am Ufer auf und ab zu gehen, um mich inspirieren zu lassen. Das Dumme ist nur: Mir fällt auf Kommando meistens nichts ein. Um überhaupt etwas zu tun, mache ich Fotos von den Bäumen. Schließlich will ich mir nochmal genau vor Augen führen, worum es bei der ganzen Sache eigentlich geht – nämlich um die Umwelt. Während ich alles ablichte, was mir vor die Linse kommt (Vögel, Hunde, Mütter mit Kinderwagen), klingelt mein Handy. Mom ist dran, Levin will mit mir spielen und sucht mich.

»Bin am Kanal. Kannst ihn zu mir schicken, wenn du willst.«

Zwei Minuten später steht mein Bruderherz vor mir. »Wsmachsnda? WsofotografierstndBäum?« Levin will wissen, was ich mache und weshalb ich die Bäume knipse.

Ich mache ganz auf geduldige, große Schwester. Vielleicht kommt Max ja zufällig vorbei und beobachtet uns. Zweifelsohne wäre er dann sehr beeindruckt. »Schau mal, die Bäume hier. Kannst du dir vorstellen, wie es hier ohne sie aussehen würde?«

»Doof!«, sagt Levin und bringt die Sache damit exakt auf den Punkt. »Dann können die Hunde ja gar nicht mehr dranpinkeln. Und die Vögel haben auch nichts mehr zum Sitzen.« Ich schaue nach oben und entdecke ein Nest. Stimmt, den Vögeln würde nicht nur der »Sitzplatz« fehlen, wie mein Bruder ganz richtig sagt, sondern auch Brut- und Nistmöglichkeiten. »Sag mal, hast du nicht Lust, ein paar Bilder von Vögeln zu malen, die wir an die Baumstämme hängen können? Ich schaue im Internet nach, welche Vogelarten hier nisten, dann kannst du von den Fotos abmalen, und wir schreiben zusammen einen Text drauf. Das Ganze bekleben wir zum Schutz mit durchsichtiger Folie und befestigen die Bilder mit kleinen Reißzwecken an den Stämmen.«

»Au ja!«, mein kleiner Bruder ist Feuer und Flamme.

Kurze Zeit später sitzen wir vor Papas Computer, und ich drucke Levin alles aus, was er für seine Kunstwerke braucht. Für die Umwelt ist Dad sogar mal bereit, sich von seinem PC zu trennen, wo er all seine Rezepte sammelt. Interessiert schaut er uns über die Schulter, als wir uns später mit Wachsmalkreide, Filzstiften und Acrylfarbe auf dem Terrassentisch ausbreiten.

»Darf ich mal?« Wow, Dad scheint ebenfalls im Kreativrausch zu sein. Beschwingt taucht er den Pinsel in die bunten Farbtöpfe und malt drauflos.

Ob ich mit dieser Aktion wohl gleichzeitig die Umwelt retten und das Herz von Max gewinnen kann?

Und könnte es sein, dass Papa sich in Sachen Umzug umstimmen lässt, wenn er mit solchem Eifer bei der Sache ist?