Dienstag latsche ich total müde zur Schule, weil ich die halbe Nacht damit zugebracht habe, mir zu überlegen, was ich bis Samstag alles auf die Beine stellen kann, um die »Initiative Isebekkanal« zu unterstützen. Dabei ist mir dann gegen drei Uhr morgens eine gute Idee gekommen: Die eine Hälfte der Bäume werden wir mit Levins Vogelbildern behängen, die andere mit den Fotos, die ich gestern geschossen habe und auf die ich an den kommenden Nachmittagen mit roter Acrylfarbe Fadenkreuze malen werde. Dann dürfte selbst dem letzten Hirni klar sein, dass der wunderschöne alte Baumbestand im wahrsten Sinne des Wortes zum Abschuss freisteht, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Vielleicht kann ich auch noch irgendwo dunkelrote Grablichter besorgen, die wir dann anzünden und vor die Bäume stellen können. Levin findet das alles bestimmt super, weil es ihm ohne Ende Möglichkeiten gibt, sich zu verkleiden.
Während ich so vor mich hin denke, rausche ich direkt in Max hinein. Ups – ich habe ihn gar nicht kommen sehen.
»Hey Pomelo«, strahlt er und ist gar nicht böse, dass ich ihn fast umgerannt habe. »Gut, dass ich dich allein treffe ...«
Aha? Was kommt jetzt?
»Ich wollte dich nämlich fragen, ob ich mir heute oder morgen mal euer Bootshaus anschauen darf.«
Gleich sinke ich ohnmächtig zu Boden.
»Mmmorgen wäre super«, stottere ich, denn bis heute Nachmittag kriege ich keineswegs all das gebacken, was ich tun muss, damit ich Max mein heißgeliebtes Zuhause entsprechend präsentieren kann. Und mich selbst schon gleich gar nicht. So viel Aufregung auf einmal vertrage ich überhaupt nicht!
»Schön, sagen wir gegen fünf, nach den Hausaufgaben?«
»Ffffünf ist absolut perfekt!« Himmel hilf, ich kann jetzt unmöglich zum Unterricht, ich habe noch so viel zu erledigen!
Im Klassenzimmer angekommen, fällt es mir schwer, mein Grinsen (bestimmt total debil!) aus dem Gesicht zu kriegen. Ich bin sogar freundlich zu Sabine und biete ihr eines von meinen heißgeliebten Pick-ups an, die ich an Mom vorbeigeschmuggelt habe. Keks und eine wunderbar cremige Masse aus Schoki und Milch, lecker!
Sabine ist verwirrt.
Ich bin happy.
Die Stunden ziehen an mir vorüber wie ein langer, langweiliger Film, Marke Dokumentation. Aber ich bin froh, dass man mich weitgehend in Ruhe lässt und keine unangenehmen Überraschungen in Form von Klassenarbeiten oder Ähnlichem anstehen.
Das Leben kann so schön sein!
Dass Julia wieder ein paar Papierkügelchen Richtung Max abfeuert, beunruhigt mich momentan auch nicht weiter. Soll sie doch ihre albernen Spielchen spielen, mir doch schnurz! Obwohl ich Yella zu gern mal bitten würde, ein paar von ihnen abzufangen und mir den Inhalt vorzulesen, wenn ich ganz ehrlich bin ...
***
»Willkommen in unserem Bootshaus«, begrüße ich Max, als er Mittwochnachmittag megapünktlich vor der Tür steht. Die Sonne scheint wie wild, und ich bin froh, dass ich ihm alles in Ruhe zeigen kann. Levin ist nämlich beim Karate, Mom macht Zwischeninventur und Dad trifft sich gerade mit einem Autorenkollegen. Sogar Hedwig ist weg.
»Das ist übrigens Plaudertasche«, stelle ich meine Wasserschildkröte vor, die tatsächlich heute Lust hat, sich auf der Terrasse zu sonnen. Am liebsten hätte ich ihr eine rote Schleife um den faltigen Hals gebunden, aber das wäre dann vielleicht doch etwas albern gewesen. Am Ende denkt Max noch, ich will sie ihm schenken.
»Habt ihr es schön hier«, sagt Max beeindruckt, als ich ihm gezeigt habe, wo unser Kajak ankert, wie viele Nutzpflanzen wir selbst ziehen und dass dieses Stück des Kanals ein wahres Biotop ist. Über den Rasen vor unserem Haus hoppeln immer mal wieder Wildkaninchen und Igel, im Kanal schwimmen Goldbrassen, Forellen, Haubentaucher, Enten, Libellen, Seerosen, und im Winter gibt es hier ab und zu sogar Eisvögel. So etwas findet man in Hamburg nicht alle Tage. Dass ich neulich eine Kanalratte in der Größe eines Hundes durch das Wasser habe paddeln sehen, verschweige ich lieber. Denn wer mag schon Ratten, es sei denn, es handelt sich um Rémy, den Helden aus Disneys Ratatouille.
»Magst du was trinken?«, frage ich, ganz die souveräne Gastgeberin. Ob ich dann später allerdings die Getränke unfallfrei transportieren kann, bleibt noch abzuwarten. »Es gibt Bionade, Fritz-Kola, Eistee und natürlich Wasser ...«, zähle ich auf, was wir im Kühlschrank haben. Die Cola habe ich heute auf dem Heimweg von der Schule besorgt und heimlich in den Eisschrank befördert, damit Mom sie nicht bemerkt. Hoffentlich finde ich sie überhaupt noch!
»Fritz-Kola, was ist das denn?«, fragt Max.
Cool, ich kann ihm etwas beibringen. (Nachdem ich ihm endlich dieses unsägliche »Mei« abgewöhnt habe!)
»Das ist eine Cola, die in Hamburg von zwei Brüdern erfunden wurde und auch hier produziert wird. Die Jungs legen bei ihrer Arbeit sehr viel Wert auf Umweltschutz und verwenden deshalb auch nur Glasmehrwegflaschen.« Dass dieses Getränk nachweislich dreimal so viel Koffein enthält wie die große Schwester aus Amerika, verschweige ich wohlweislich.
»Klingt gut, probier ich gern mal«, antwortet Max und schaut versonnen aufs Wasser. »Meinst du, wir können mal zusammen Kajak fahren?«
Sweetheart, in meinen Träumen kann ich mir alles Mögliche mit dir vorstellen, also auch Kajak fahren ...
»Äh, ich denke schon«, sage ich, bevor ich Richtung Küche entschwinde. Gut, dass in der Fritz schon Zitrone drin ist, dann muss ich nicht selber welche schneiden. Aufgeregt, wie ich bin, würde das momentan in einem Blutbad enden.
Während ich uns beiden das eiskalte Getränk einschenke und dann die Terrassenstühle Richtung Wasser drehe, höre ich auf einmal die Stimme, die ich jetzt wirklich überhaupt nicht gebrauchen kann.
»Hallo ihr Lieben«, flötet Mom, und meine Laune sinkt binnen einer Nanosekunde. »Du musst Max sein«, strahlt sie und gibt meinem Gast die Hand. »Pomelo hat ja schon so viel von dir erzählt!«
Autsch!
»Sagt mal ...«, hochgezogene Augenbraue, »... was trinkt ihr beiden Hübschen denn da?«
Mist!
»Fritz-Kola«, strahlt Max und hält meiner Mutter das Glas hin. »Möchten Sie auch einen Schluck?«
Mein Herz rutscht in den Minirock. Hilfe!
»Mhm, das schmeckt gut! Erfrischend! Genau das Richtige nach einer anstrengenden Inventur! Wie nett von dir, Pomelo etwas zu trinken mitzubringen ...«
Ich verschlucke mich und pruste einen guten Teil über den Tisch.
Max grinst und schäkert dann weiter mit Mom, indem er sie darüber ausquetscht, was sie arbeitet. Und ehe ich es mich versehe, sind die beiden auch schon im Laden verschwunden, und ich hocke allein auf der Terrasse. Selbst Plaudertasche ist wieder in den Kanal geplumpst und spielt dort mit den Goldbrassen »Her mit dem Fisch!« oder so was Ähnliches. Na toll, so habe ich mir den Besuch von Max wirklich nicht vorgestellt!
Nach einer gefühlten Ewigkeit taucht er endlich wieder auf, dicht gefolgt von Mom, die weg muss, um Levin vom Karate abzuholen.
»Hast du dir denn schon etwas für Samstag überlegt?«, fragt Max, während ich noch darüber nachdenke, wie ich seinen Besuch in Richtung Ewigkeit verlängern kann.
»Ja, das eine oder andere«, sage ich und hoffe inständig, dass es geheimnisvoll wirkt. »Hast du Lust auf einen kleinen Spaziergang?«
In diesem Moment höre ich das Auto von Dad. Erst knallt eine Tür, dann ertönt ein Fluch.
»Was ist denn los?«, frage ich, als Papa, rot im Gesicht und vor Wut schnaubend, auf der Terrasse auftaucht.
»Ich habe schon wieder einen Platten«, schimpft er und begrüßt Max mit einem Kopfnicken.
O nein, geht der ganze Mist denn schon wieder los?
»Aber diesmal weiß ich, woran es lag ...« Dad hält mir demonstrativ den ferngesteuerten Helikopter hin, den Levin allzu gern in der Einfahrt liegen lässt, obwohl Mom ihn deshalb immer schimpft. »Diesmal hat er nicht nur meinen Reifen durchlöchert, sondern ist auch endgültig kaputt«, sagt Dad wütend.
»Äh, ich wollte eben mit Max spazieren gehen«, murmle ich – bloß nichts wie weg hier. Am Ende muss ich sonst noch mit ihm darüber diskutieren, wer Moms Rosen auf dem Gewissen hatte. Aber manche Verbrechen werden eben nie aufgeklärt, wie das Attentat auf John F. Kennedy.
Ich schnappe mir schnell meine Jacke (ja, nach der Grippe bin ich vernünftig) und trabe mit Max zum Kaifu-Ufer. Dort angekommen, erzähle ich ihm von meinem Plan mit den Bildern, Fotos und Grableuchten.
»Coole Idee!«, lobt Max, und plötzlich bin ich eins achtzig statt wie sonst eins sechzig. »Komm, lass uns dahinten über den Zaun klettern und ans Ufer setzen.«
Mein Herz pocht. Neben Max am Kanal sitzen, wow!
Der Boden ist zwar ziemlich dreckig, aber momentan gibt es keinen schöneren Ort auf der Welt für mich. Wann geht im Sommer eigentlich die Sonne unter? Es wäre jetzt soooo romantisch, hier zu sitzen und das Abendrot abzuwarten. Aber bis es so weit ist, muss ich dummerweise schon im Bett liegen. Vielleicht kann ich Max ja mal an einem Freitag an die Elbe lotsen? Containerschiffe gucken und Steinchen werfen ...
Während ich von einem Picknick am Elbstrand phantasiere, geschieht etwas, womit ich nicht gerechnet habe: Max legt den Arm und mich und zieht mich fest an sich. Ich kann seinen Atem und seinen Duft ganz nah an mir spüren. Beides ist wundervoll, ich fühle mich wie betrunken. Ich schmiege mich fest an ihn und versuche, durch Seufzer das laute Pochen meines Herzens zu übertönen, wobei weder das eine noch das andere besonders lässig ist. Als Max auch noch sanft meine Wange streichelt, ist es endgültig aus mit mir. Wird er mich jetzt etwa küssen? Hilfe – ich bin noch nie geküsst worden, wenn man von dem feuchten Schlabberkuss mal absieht, den mir mein Cousin Alex als Kind gegeben hat, als wir zusammen in Wuppertal Schwebebahn gefahren sind.
Auf so eine große Sache bin ich eindeutig noch nicht vorbereitet, auch wenn ich davon träume, seit ich Max zum ersten Mal gesehen habe. Ich fahre mir mit der Zunge über die Lippen, damit sie sich nicht so rau anfühlen. Wo habe ich denn schon wieder meinen Labello gelassen, ich dumme Pute?
Max' Mund nähert sich dem meinen, und für einen kurzen Moment halte ich den Atem an. Gleich ist es so weit! Ich bekomme den ersten echten Kuss meines Lebens und damit meine Eintrittskarte in die Welt der Erwachsenen. Aber will ich das wirklich?
Hilfe, ich will noch nicht erwachsen werden! Ich bin doch nicht Yella!