Erwachsensein ist doch ganz schön, zumindest, was das Küssen betrifft. Ich liege mal wieder quer über meinem Bett und kann es immer noch nicht fassen. Max hat mir den ersten (wenn auch nicht einzigen) richtigen Kuss meines Lebens gegeben. Und der war ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe. Muss dringend Yella fragen, ob sich das bei ihr auch so toll anfühlt, wenn sie mit Florian knutscht.
Ich grinse dumm vor mich hin und bin so happy wie schon lange nicht mehr. Diese Küsse bedeuten mehr, als erwachsen zu sein. Sie bedeuten vor allem, dass Max mich offenbar mag und dass sich diese dumme Schnepfe Julia ab sofort gehackt legen kann. Max gehört jetzt zu mir, der Kuss hat es besiegelt.
Hoffentlich findet er auch, dass ich eine gute Küsserin bin ...
Anfangs habe ich mich nämlich ein bisschen doof angestellt; glaube ich zumindest. Ich wusste nicht so richtig, wie ich meinen Kopf halten soll, damit unsere beiden Nasen sich nicht gegenseitig beharken oder sich womöglich noch einer von uns beiden etwas bricht. Obwohl ich gern Julias Reaktion gesehen hätte, wenn wir beide morgen mit vergipsten Nasen Hand in Hand in den Unterricht gekommen wären.
Ich bin schon so gespannt, wie es morgen in der Schule sein wird. Bewerfen wir uns ab jetzt auch gegenseitig mit Zetteln, oder fragt Max womöglich sogar, ob er und Sabine die Plätze tauschen, damit wir künftig zusammen die Schulbank drücken können? Hach, ist das alles schön! Noch tausendmal schöner als in meinen Träumen!
***
»Pomelo, aufwachen, ich habe dich etwas gefragt!« Ups, da bin ich wohl versehentlich weggepennt.
»Bitte entschuldigen Sie, Schneew... äh, Herr von Weißendorf«, stammle ich und hoffe, dass unser Lateinlehrer mich schleunigst in Ruhe lässt. Ich kann mich jetzt nicht mit ihm beschäftigen, denn ich habe ein Rätsel zu lösen. Das Rätsel heißt: Welchen Grund könnte es dafür geben, dass Max heute so tut, als hätten wir uns gestern nicht gesehen und hätten auch niemals am Ufer des Kanals rumgeknutscht? Wäre ich jetzt Kandidatin von Wer wird Millionär, würde ich den Telefonjoker anrufen, weil alle anderen Möglichkeiten bereits erschöpft sind. Lautet die korrekte Antwort auf meine bange Frage
a) Max ist ein Gentleman und will unsere Liebe vor der Öffentlichkeit schützen. Aber er liebt mich genauso sehr wie ich ihn.
b) Max ist einer Amnesie anheimgefallen und kann sich an gar nichts mehr erinnern. Auch nicht an seinen eigenen Namen.
c) Max bereut den gestrigen Abend und hat mich nur geküsst, weil er von dem dreifachen Koffein-Wert der blöden Fritz-Kola berauscht war.
d) Ich war eine so schlechte Küsserin, dass Max mir nie mehr näher als dreißig Meter kommen will, aus Angst, mir noch einmal in die Hände zu fallen.
O Mann, o Mann! Wusste ich's doch: Erwachsen zu sein ist eher kompliziert, als dass es Vorteile hat!
Meine Blicke durchbohren den Rücken von Max wie Röntgenstrahlen, und ich wünschte, ich könnte mich dadurch mitten in sein Herz beamen, dann wüsste ich wenigstens verlässlich, wie es darin aussieht. Warum muss der Mann auch so weit vorne sitzen? So sehr ich meine Augen zusammenkneife und versuche, anhand seiner Körpersprache abzulesen, was in ihm vorgeht, es bleibt alles ein einziges großes Rätsel. Ich fürchte, ich muss mich bis zur großen Pause gedulden!
***
Keine Frage, dass das nicht klappt. Julia pappt die ganze Zeit an ihm wie eine Brötchenhälfte am Wiener Würstchen und benimmt sich auch genauso. Dumm wie Brot, die Frau. Wenn ich schon ihre Kieksstimme höre! Gerade fragt sie (Achtung! Achtung!), was Max gestern gemacht hat. Ich stelle meine Ohren so weit auf, wie es nur geht, und versuche, so desinteressiert wie möglich zu schauen. Dafür ist es ganz hilfreich, dass Yella mich gerade wieder mit Florian volltextet. Florian hier, Florian da.
»Nichts Besonderes ...«, antwortet Max gedehnt.
Nichts Besonderes?
Für mich war das der aufregendste und schönste Tag meines Lebens. Hallo Max, jemand zu Hause?
Lovely Juliet passt die Antwort offenbar genauso wenig wie mir, wenn auch aus anderen Gründen.
»Aber du musst doch irgendetwas gemacht haben? Ich habe ein paarmal versucht, dich anzurufen. Dein Vater hat gesagt, du bist unterwegs. Aber an dein Handy bist du auch nicht gegangen!«
Stimmt, das vibrierte eine ganze Weile, während wir geknutscht haben, bis Max es endlich ausgestellt hat, bevor ich das Teil in den Kanal befördert hätte.
»Äh, stimmt, ich war unterwegs. Hab mich noch ein bisschen am Kaifu-Ufer umgeschaut. Wegen Samstag.«
Julias Gesichtszüge entspannen sich wieder, meine versteifen sich. Wieso kann Max nicht offen und ehrlich sagen, dass er mit mir zusammen war? Er muss ja nicht gleich jedem auf die Nase binden, dass wir uns geküsst haben, aber was ist so schwer daran, zu mir zu stehen?
Ich suche nach einer Erklärung, bis mir klar wird: Max will sich nicht vor Julia outen, weil er entweder ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber hat oder weil er nicht will, dass sie weiß, dass er mich mag. Weil sie ihm dann mit Sicherheit den Rücken zukehren würde. So oder so, es sieht nicht gut aus für mich. Gar! Nicht! Gut!
»Pomelo, ist was mit dir, du bist ja ganz blass?«, fragt Yella, und es tut gut, dass sie mich trotz ihres Florian-Sermons noch auf dem Zettel hat. In Momenten wie diesen braucht man eine beste Freundin!
»Hast du nachher Zeit? Ich muss dich was fragen«, flüstere ich, was gar nicht nötig wäre, denn Max und Julia sind schwer miteinander beschäftigt. Kann mir mal jemand verraten, wieso er nicht sie küsst, wenn er in Wahrheit in sie verliebt ist? Das ergibt doch alles keinen Sinn.
»Klar, lass uns an der Brücke ein Eis essen, haben wir schon lange nicht mehr gemacht«, flüstert Yella zurück.
Wie gut, wenn man eine beste Freundin hat!
***
»Und, was hast du für ein Problem?«, fällt sie gleich mit der Tür ins Haus, sobald wir unsere Eisbecher bestellt haben. Aus Frust habe ich die Maxiportion genommen, die ich bestimmt nie im Leben schaffen werde.
Aber Liebeskummer treibt's rein, stelle ich kurze Zeit später fest und starre fassungslos in meinen leeren Pappbecher. Habe ich da eben in null Komma nichts fünf Kugeln Eis verdrückt? Während ich ein Gemisch aus Banane, Kirsch, Stracciatella, Pistazie und Schoko vertilge, schildere ich Yella den vergangenen Abend in allen Details. Kann sein, dass ich das eine oder andere sogar wiederhole, denn ich sehe Yella an, dass sie sich zusammenreißen muss. Soll sie ruhig, schließlich habe ich in Sachen Florian auch enorme Geduld bewiesen.
»So, und nun sag was dazu!«, fordere ich sie auf.
Yella blinzelt in die Sonne und wirkt nicht gerade, als hätte sie den totalen Durchblick.
»Entweder verarscht der Typ dich und spielt ein doppeltes Spiel, oder aber er mag dich wirklich und hat aus irgendeinem Grund ein Problem, das zuzugeben. Speziell vor Julia.«
Toll, jetzt bin ich genauso schlau wie vorher!
»Ja, aber ...«, langsam werde ich ungeduldig, »... auf welche Variante tippst du persönlich? Was sagt dir denn dein Gefühl?«
Yella sagt nämlich gern, dass sie sich immer auf ihr Gefühl verlassen kann. Also los, worauf wartet sie noch?
»Ich würde an deiner Stelle erst einmal abwarten, was passiert. Vielleicht war es Max ja wirklich nur peinlich, in der Schule zuzugeben, dass ihr zusammen wart, und er meldet sich bei dir, sobald er zu Hause ist. Wahrscheinlich machst du dir umsonst einen Kopf.«
Hm, das klingt erst einmal gut. Und irgendwie hoffnungsvoll! Doch halt! Sollte mein Freund (und als solchen bezeichne ich Max insgeheim seit gestern) nicht auch in der Öffentlichkeit zu mir stehen? Yella und Florian küssen sich doch auch vor allen anderen, wenn er sie in der Pause besucht oder von der Schule abholt. So ganz wohl fühle ich mich noch nicht mit der Geschichte. Und was, wenn er sich nachher nicht bei mir meldet? Noch hat mein Handy schließlich nicht Sturm geklingelt, und immerhin sitzen wir schon seit einer Stunde hier.
»Meinst du, ich soll ihn einfach direkt fragen?«, piepse ich kleinlaut.
Eigentlich würde ich vor Yella gern die Coole geben, die alles im Griff hat, aber heute fällt mir das verdammt schwer. Außerdem müssen einen beste Freundinnen auch dann mögen, wenn man nicht cool ist, denn das ist doch das Wesen von echter Freundschaft, oder?
»Wenn du dich dann besser fühlst ... dann weißt du zumindest, woran du bist. Vorausgesetzt Max ist ehrlich zu dir. Aber irgendwie kommt er mir nicht vor wie ein Typ, der mit vielen Mädels auf einmal rummacht und sie gegeneinander ausspielt.«
Nein, seufz, mir auch nicht. Genau deshalb mag ich ihn ja auch so gern!
»Jetzt wart erst einmal ab, so lange du es aushältst. Und solltest du nichts von ihm hören, kannst du ihn immer noch anrufen. Der Typ wohnt schließlich hier und wird sich aller Voraussicht nach nicht demnächst in Luft auflösen. Also denk erst mal an etwas anderes und versuch dich ein bisschen abzulenken. Du wirst sehen, er meldet sich genau in dem Moment, in dem du gerade nicht an ihn denkst ...«
Schwierige Sache!
Es ist eine echte Herausforderung, nicht an jemanden zu denken, an den man normalerweise andauernd denkt, nur damit er – wenn man mal nicht an ihn denkt – endlich anruft, damit man danach wieder ungehemmt an ihn denken kann.
Vor Max war mein Leben irgendwie überschaubarer ...