Ein Unglück kommt selten allein

»Los, komm mit ins Bad«, zischt Yella und zerrt mich hinter sich her. Spinne ich, oder befindet sich plötzlich eine Pflanze in meinem Ausschnitt? Ich fische ein mehrblättriges, grünes Etwas heraus (frische Minze!) und schäme mich in Grund und Boden. Warum musste mir das ausgerechnet heute Abend passieren?

Also nicht, dass es für Attacken solcher Art grundsätzlich einen besseren Zeitpunkt gäbe ...

»Zieh dein Top aus, ich mache es sauber, während du dir das Gesicht wäschst.«

Mit Entsetzen stelle ich fest, dass ich aussehe wie die Maske des Grauens: Levin hätte seine helle Freude an mir! Meine soeben kunstvoll aufgetragene Wimperntusche läuft in schwarzen Striemen die Wangen hinunter, und ich sehe aus wie eine billige Kopie von Schockrocker Marilyn Manson. Yella wäscht mein Shirt mit Handseife aus und vergisst dabei dummerweise eins: Ab sofort habe ich nichts mehr anzuziehen! Doch ich habe die Rechnung ohne meine kluge Freundin gemacht, die kurz darauf den Fön zückt und ihn auf das Top hält. »So, wir haben's gleich. Und dann kann die Party beginnen!« Klingt gut, außer dass mir wegen der Sache hier nur noch rund eineinhalb Stunden bleiben, bis ich zu Hause sein muss. Warum bin ich bloß noch nicht volljährig?!

Der Gedanke daran, Max jetzt wieder vor die Augen zu treten, gefällt mir gar nicht, schließlich hat er mich als peinliches Manson-Lookalike gesehen. Aber im Badezimmer bleiben, bis ich los muss, erscheint mir momentan auch nicht besonders verlockend. Gibt es hier ein Fenster, aus dem ich ungesehen nach draußen klettern kann?

Yella scheint zu ahnen, was ich vorhabe. »Kommt nicht in Frage! Du bleibst hier und amüsierst dich! Oder willst du Julia kampflos das Feld überlassen?«

Seufzend versuche ich, mein Gesicht mit Hilfe von Handcreme und einer zweiten Tusch-Runde in den Griff zu bekommen, aber das Wegrubbeln der Mascara hinterlässt unschöne rote Flecken.

Bei genauer Betrachtung der Lage muss ich sagen, dass sich auch um meine Augen rote Pusteln gebildet haben.

Die legen sich ringförmig darum wie eine Sonnenbrille. Mit knallroten Gläsern. Außerdem juckt und brennt es ganz fürchterlich.

Bekomme ich jetzt zu allem Überfluss auch noch die Masern?!

»Oh, oh«, sagt Yella. »Kann es sein, dass du gegen die Wimperntusche allergisch bist?«

Bin ich? Keine Ahnung, bislang war ich es noch nicht. Aber heute scheint ja alles möglich.

Oder ist der neue Kajal der Übeltäter?

Yella kramt hektisch in ihrer Tasche, während ich erneut die Fluchtmöglichkeiten scanne. Leider befindet sich in diesem winzigen Gästebad (wieso haben die hier eigentlich einen Fön?) nur ein Lüftungsschlitz, durch den noch nicht mal eine Briefmarke passt. Muss ich wohl doch durch die Tür. Ich werde einfach Yella vorschicken und, wenn die Luft rein ist, unauffällig verschwinden. Das nennt man, glaube ich, sich französisch verabschieden wozu man übrigens gar kein Französisch können muss, wenn ich Mom da richtig verstanden habe. Hat sie neulich bei einer Verlagsparty gemacht, wo ihr die Leute alle zu hochnäsig waren.

»Hier, versuch's mal damit«, sagt Yella und reicht mir hellen Puder. Aber so viel kann ich mir gar nicht von dem Zeug draufknallen, dass es davon ablenkt, dass ich ein rotgeflecktes Gesicht mit Kaninchenaugen habe. Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich mir keinen solchen Kopf um mein Outfit gemacht.

»Ich finde, dass es so geht. Drin ist es schließlich dunkel, und alle sind mit sich selbst beschäftigt«, sagt Yella und setzt ihr »Das wird alles schon gut sagt mir mein Gefühl«-Gesicht auf.

Toll! Ich will aber nicht, dass Max mit sich selbst beschäftigt ist, sondern er soll sich verdammt nochmal um mich kümmern! Mir endlich seine Liebe gestehen, mir Zärtlichkeiten ins Ohr flüstern, mit mir tanzen, sich dabei an mich schmiegen, meine Hand halten, Julia sagen, dass sie sich gehackt legen kann ...

»Pomelo? Hörst du mir zu? Kommst du jetzt mit, oder was?«

»Äh, ich weiß nicht ...«, stammle ich, doch Yella reißt die Tür auf und schiebt mich nach draußen. Zum Glück habe ich wenigstens wieder mein Top an!

»Hey, das ist ja ein Zufall! Zweimal am Tag am selben Ort!« Vor mir steht – Surprise, Surprise – Ben.

»Hey ... das ist ja ... lustig«, stammle ich und versuche, jeden Blickkontakt zu vermeiden. Soll er denken, ich bin eine arrogante Schnepfe – mir doch egal. Hauptsache, er schaut mir weder in mein entstelltes Gesicht noch in meine roten Albino-Augen!

»Gut, dass wir uns sehen, denn ich habe vorhin vollkommen vergessen, mich vorzustellen: Ich bin Ben.«

Ich weiß ...

»Lust zu tanzen, Pomelo?«

In mir keimt eine Idee auf: Hatte Oma Schnuppe nicht vorgeschlagen, Max eifersüchtig zu machen? Scheint, dass ich jetzt die Chance dazu bekomme. Dumm nur, dass Max vermutlich eher Mitleid mit Ben bekommen wird, weil er mit einem weiblichen Monster tanzen muss, als dass er sich zwischen uns wirft und ihn zum Duell im Morgengrauen herausfordert.

Yella boxt mich von hinten unsanft in den Rücken. Aua! Was muss ich heute eigentlich noch alles über mich ergehen lassen? Ich habe auch meine Würde!

Drin dröhnen Ich+Ich aus den Boxen, und Adel Tawil singt aus vollem Hals »So soll es sein, so soll es bleiben, so hab ich es mir gewünscht«, ein Song, den ich grundsätzlich sehr gern mag. Aber nicht als Omen für den heutigen Abend. Denn ich will mitnichten den Rest meines Lebens entstellt aussehen und nach Melonenbowle duften, als hätte ich kein Geld für wirklich gutes Parfüm. Und ich will auch nicht, dass Max in Zukunft nur noch mit Julia tanzt ...

Ich ergebe mich seufzend in mein Schicksal, was im Klartext bedeutet, dass mein Kopf an Bens Brust liegt. Hm, für einen Freak duftet er aber ganz schön lecker! Ich nehme aus den Augenwinkeln wahr, dass Max uns beobachtet. Juhu!

Ich schmiege mich noch enger an Ben, und plötzlich – keine Ahnung wieso – fahre ich mit der Hand über seinen Rücken, was wegen des Größenunterschieds nicht ganz einfach ist. Ich lande also mehr so in seiner Hüftgegend. Für einen kurzen Moment bin ich happy, aber nur so lange, bis Max demonstrativ Julia an sich zieht. Sie lacht, wirft ihre blöden langen Haare zurück und strahlt.

Was die kann, kann ich schon lange!, beschließe ich und durchforste mein Gehirn fieberhaft nach einem guten Witz. Blöd nur, dass ich echt schlecht in so was bin. Ich versemmle immer die Pointen oder vergesse im entscheidenden Moment, wie der Witz endet.

Wie bringe ich Ben denn jetzt zum Lachen?

»Heißt dein Hund eigentlich Yogi, weil er so gern Yogi-Tee trinkt?«, entfährt es mir plötzlich, und ich kann es nicht fassen, dass ich das wirklich gesagt habe. Hoffentlich war die Musik so laut, dass Ben meinen Dummkommentar nicht verstanden hat.

Ben lacht. Schwein gehabt!

»Du hast dir gemerkt, dass er Yogi heißt?«, fragt er und zieht mich so nah an sich heran, dass ich kaum noch atmen kann. »Du scheinst eine echte Tierfreundin zu sein!«

Huch? Bin ich das? Nur weil ich ein gutes Namensgedächtnis habe?

»Deine Aktion am Kanal hat mir gefallen! Schließlich geht es da nicht nur um die Bäume, sondern auch um die Tierwelt, die darunter leiden würde, wenn alles so läuft, wie die Stadt es plant.«

Ach so, das ...

»Tiere haben schließlich auch eine Seele, findest du nicht auch?«

Keine Ahnung, ich hatte noch nie welche, von meinen Kuscheltieren mal abgesehen. Ich bin nämlich nicht nur gegen Mascara allergisch (oder Kajal!), sondern auch gegen alles, was Fell hat. Deshalb verstehen Plaudertasche und ich uns ja auch so gut, sie hat nur Falten, aber keinen Pelz. Bei Menschen eine eher seltene Kombination.

»Bäume haben auch eine Seele«, behaupte ich zu meiner eigenen Überraschung, beflügelt von Max' Reaktion. Je intensiver ich mich nämlich mit Ben unterhalte, desto finsterer schaut er aus der Wäsche.

Selbst schuld!

Ich habe ihm nach dem Abend am Kanal innerlich ewige Liebe und Treue geschworen. Dass er damit offenbar nichts anfangen kann, ist nicht mein Problem.

Äh, ist es natürlich doch, aber darum geht es jetzt nicht. Gleich ist der Song zu Ende, eigentlich wäre das die Gelegenheit, den Tanzpartner zu wechseln. Doch was Max betrifft, so hat Julia ihn dermaßen im Klammergriff, dass man ihn schon aus ihren Armen sprengen müsste, bevor sie ihn freigibt.

So tanze ich eben weiter mit Ben, direkt neben Florian und Yella, die aussehen, als würden sie demnächst abheben und direkt in den Himmel entschweben. Ich habe zwar noch nicht viel mit dem Schwarm meiner Freundin zu tun gehabt, aber auf den ersten Blick wirkt es, als hätte sie einen Volltreffer gelandet. Seine Eltern scheinen auch nett zu sein, denn sie halten sich auf der Party dezent im Hintergrund und haben ein ultraleckeres Buffet gezaubert, wie ich aus den Augenwinkeln wahrnehme. Ich kann es kaum erwarten, mich darauf zu stürzen, denn mittlerweile habe ich rasenden Hunger!

Doch halt – da gibt es ein kleines Problem: In der Küche ist es ziemlich hell, im Gegensatz zum Wohnzimmer. Ob Ben oder Yella mir etwas mitbringen, wenn ich sie darum bitte?

»Wie wär's mit einem Happen zu essen?«, fragt Ben, als könne er Gedanken lesen.

Vielleicht hat er aber auch nur das Knurren meines Magens gehört. Peinlich!

»Gute Idee«, antworte ich. »Bringst du mir was mit?«

»Wenn du mir verrätst, worauf du Appetit hast, gern. Aber wäre es nicht einfacher, du kommst mit?«

Nein, nein, ganz bestimmt nicht. Ein Aufenthalt im Hellen wäre für alle Beteiligten eine nationale Katastrophe! Oder zumindest für mich.

»Nö, lass mal, ich vertraue da ganz auf deinen Geschmack!«, höre ich mich sagen und hoffe, dass er nicht zu der Fraktion gehört, die sich mit Gejohle auf Grünkern-Bratlinge stürzt. Bei jemandem, der der Ansicht ist, dass Tiere eine Seele haben, muss ich zumindest schon mal davon ausgehen, dass er Vegetarier ist ...

»Na, wenn das so ist, bis gleich. Aber halt mir bitte auf alle Fälle den Platz neben dir frei!«

Max verfolgt unser Gespräch mit Argusaugen, und ich wüsste jetzt zu gern, was in seinem Kopf vor sich geht. Ich hoffe sehr, dass es etwas mit mir zu tun hat. Julia scheint ebenfalls von Hunger übermannt zu werden (oder heißt es in diesem Falle »überfraut?«, egal!) und folgt Ben auf dem Fuß. Aber will sie wirklich etwas essen, oder hat sie es etwa auf Ben selbst abgesehen? Vielleicht findet sie ja grundsätzlich Gefallen an Typen, die ich nett finde? Biest!

Max nutzt den Moment, um sich zu mir auf den Fußboden zu setzen, wo überall gemütliche Kissen ausgebreitet sind.

»Kennst du Ben schon länger?«, fällt er gleich mit der Tür ins Haus.

Gutes Zeichen!

»Nö, erst seit heute Nachmittag am Kaifu«, antworte ich vage, während es in meinem Kopf rotiert und ich mich frage, wie weit ich die Sache jetzt auf die Spitze treiben soll. Erinnere ich ihn der Fairness halber daran, dass wir uns alle schon mal morgens vor dem Bäcker getroffen haben?

Anders ist es aber wirkungsvoller.

»Und du? Woher kennst du ihn?«, lenke ich ab.

»Vom Fußball. Florian, er und ich sind in einer Mannschaft.«

Aha, so ist das also, interessant!

»Du, Pomelo, sag mal ...«, druckst Max herum. Bin ja mal gespannt, was jetzt kommt!

»Wieso bist du eigentlich in letzter Zeit so kühl mir gegenüber? Hat dir unser Abend nicht gefallen?«

Na, jetzt schlägt's aber dreizehn! Wer von uns beiden war denn bitte cool? Na, ich ja wohl nicht. Gut, dass es in unserer Ecke so dunkel ist. So sieht Max wenigstens nicht mein breites Grinsen, das ich nicht mehr unterdrücken kann. Hat er mich eben wirklich gefragt, warum ich so cool war? Kann es sein, dass das ganze Distanzgehabe zwischen uns ein einziges großes Missverständnis war?

»Hey, ihr zwei. Worüber unterhaltet ihr euch denn so angeregt. Darf man mitreden?«

Nein, Julia. Man darf nicht. Und du schon erst recht nicht. Also hau ab, und zwar schnell! Max und ich haben etwas Wichtiges zu klären ...