Sonntagvormittag, halb elf. Seltsam, dass noch gar keiner bei mir aufgetaucht ist, um mich zu wecken und damit rumzunerven, dass ich eine Schlafmütze bin.
Muss ich mir Sorgen machen?
Als Erstes unterziehe ich mein Gesicht einer genaueren Betrachtung. Zum Glück sieht es nicht mehr ganz so schlimm aus wie gestern Abend. Mom hat Rescue-Salbe draufgeschmiert, als ich nach Hause kam (nur fünf Minuten zu spät!), und mir dann einen Melissentee gekocht. »Ist gut für die Nerven«, hat sie gesagt, und das konnte ich auch ganz gut brauchen, auch wenn er geschmacklich nicht gerade der Hit war. Obwohl: immer noch besser als Melonenbowle.
In meinem Kopf geht es immer noch rund, und zwar nicht, weil ich gestern Abend zu tief ins Glas geschaut habe, sondern weil ich nicht mehr dazu gekommen bin, weiter mit Max zu sprechen und unser Missverständnis zu klären. Denn kurz nach Julia tauchte Ben mit einem (zugegeben sehr lecker gefüllten) Teller auf, und eine Viertelstunde später musste ich auch schon los. Die Party sollte noch bis Mitternacht dauern, weil Florian (so wie auch Ben) sechzehn Jahre alt geworden ist. Das ist natürlich zu mir Küken ein enormer Unterschied. Und total gemein, denn Yella durfte auch bis zum Schluss bleiben. Nur ich musste nach Hause wie Aschenputtel, mit dem Unterschied, dass ich auf dem Weg keinen Schuh verloren habe. Nur meine Fassung.
Und dem Unterschied, dass ich in Begleitung war, und zwar in der von Ben.
Ben ist deshalb eine der Ursachen für meine heutige Verwirrung. Er hat doch tatsächlich darauf bestanden, mich zum Bootshaus zu bringen, und ist danach wieder zurück auf die Party. Max und Julia haben richtig schön doof geguckt, als wir zusammen los sind.
Mich hat noch nie ein Junge nach Hause gebracht, sinniere ich und starre an die Zimmerdecke. Die müsste übrigens mal dringend gestrichen werden! Lohnt jetzt aber vor dem Umzug wahrscheinlich nicht mehr. Komisch, trotz aller Verwirrungen mit Max habe ich gute Laune. Vielleicht mache ich heute sogar mal Frühstück und überrasche alle Beteiligten damit, dass ich schon wach bin.
***
»Pomelo, was ist denn das für ein Lärm?«, fragt Dad, der mit total verstrubbelten Haaren und im abgelatschten Bademantel in die Küche geschlurft kommt, während ich eine Pfanne aus dem Schrank angle. Ob ich ihm mal stecke, dass dieses Uralt-Frottee-Teil echt das Letzte ist? Orange-grün-braun gestreift, voll Siebziger, bäh!
»Ich mache Pfannkuchen, was dagegen?«, frage ich und lese mir zur Sicherheit nochmal das Rezept durch.
»Aha, ja, schön ... ist denn irgendwas passiert?«
Wieso muss denn gleich was passiert sein, wenn ich mal für meine Family Frühstück mache?
»Nö«, antworte ich knapp, denn jetzt muss ich Eier trennen. Keine Zeit für Small Talk. Während ich das erste köpfe und dabei an Julia denke, setzt Papa sich an den Küchentisch. Irgendwie sieht er so aus, als müsste ich ihm einen doppelten Espresso einflößen, und zwar am besten intravenös.
»Wie war die Party?«, fragt Dad bereits zum zweiten Mal. Das erste Mal war, als ich gestern Abend nach Hause kam. »Schön, aber zu kurz«, sage ich und rühre den Teig mit dem Handmixer. Der ist so laut, dass Dad es vorzieht zu verschwinden, anstatt zuzugeben, dass es echt hart ist, um zweiundzwanzig Uhr daheim sein zu müssen, während auf einer Feier noch der Bär steppt. Aber so kann ich wenigstens in Ruhe über Max und Ben nachdenken.
Max und Ben – eine völlig neue Situation.
Ich ertappe mich dabei, wie ich die beiden vergleiche. Obwohl sie gar nicht unterschiedlicher sein könnten.
Max ist dunkelhaarig.
Ben rotblond.
Max hat Schokoaugen.
Bens sind grün wie ein Waldsee (glaube ich zumindest, konnte ich in der Dunkelheit nicht so gut erkennen).
Max steht auf Bayern München und ist Stürmer.
Ben ist St.-Pauli-Fan und steht im Tor.
Max trägt lässigen Freizeit-Chic Marke »Wir haben Geld«.
Ben ist der Freak mit den Pulswärmern und coolen Lederjacken.
Max ist süß.
Ben ist ... tja, auch süß. Irgendwie.
Max ist vierzehn (einhalb), Ben sechzehn.
Ich will auch schon sechzehn sein!
»Hey, pass auf, das brennt an«, ruft Mom, die gerade hereingekommen ist, und stürzt zu mir an den Herd.
Mist, da habe ich wohl wieder zu viel geträumt und dabei den ersten Pfannkuchen in ein rabenschwarzes Brikett verwandelt. Gut, dass ich so viel Teig gemacht habe. Während meine Mutter den Klumpen in den Müll kippt (großer Seufzer!) und sich danach selbst den Pfannkuchen widmet, decke ich den Tisch. Vielleicht klappt das ja ohne Zwischenfälle.
Ich beobachte Mom. Irgendwie sieht sie heute anders aus als sonst. Jünger und frischer. Ihre Haare sehen allerdings so aus, als müsste sie dringend mal zum Friseur, denn sie stehen wirr nach allen Seiten ab. Mittlerweile ist auch Dad wieder aufgetaucht, nur Levin fehlt.
Aber der ist ja bei seinem Freund, fällt mir wieder ein, Pyjamaparty.
»Hallo Schatz«, begrüßt Papa meine Mom und küsst sie aufs Ohrläppchen.
Sie kichert wie ein Teenie und wird knallrot. Daraufhin kichert Dad und – was soll ich sagen –, die beiden gehen mir richtig auf den Keks!
Was soll dieses alberne Getue?
Die beiden benehmen sich, als hätten sie sich vor einer Stunde kennengelernt.
Und habe ich das eben richtig gesehen?
Hat mein Vater etwa gerade meiner Mutter an den Po gefasst? Zwar nur kurz, aber dennoch lang genug, damit ich es sehen konnte.
O mein Gott!
Hatten die beiden etwa gerade Sex?
Am frühen Morgen?
Das würde zumindest erklären, weshalb sie heute so spät aufgestanden sind.
Ich muss mich schwer zusammenreißen, nicht zu flüchten, denn wenn ich eine Vorstellung echt eklig finde, ist es die, dass meine eigenen Eltern in ihrem Schlafzimmer Dinge tun, die sie mir unter Androhung schwerster Strafen verbieten würden. Ich habe mich noch nicht mal getraut, Mom von der Knutscherei mit Max zu erzählen.
Obwohl: Eigentlich hatte ich keine Angst davor, sondern eher das Gefühl, dass es sie gar nichts angeht.
Und vielleicht war es mir auch ein ganz klitzekleines bisschen peinlich ...
Irgendwie bringe ich dieses Pfannkuchen-Frühstück hinter mich und gehe dann auf mein Zimmer mit der Begründung, Hausaufgaben machen zu müssen. Meine Eltern sind so mit sich beschäftigt, dass ihnen gar nicht auffällt, dass das die Lüge des Jahrhunderts ist. Denn erstens sind Ende kommender Woche Sommerferien, und kein Lehrer hält sich jetzt noch groß mit Hausaufgaben auf, und zweitens würde ich nie, nie, nie im Leben am Sonntag was für die Schule machen.
Zurück in meinem Reich schalte ich das Handy an, das die ganze Nacht geladen hat. Vielleicht hat ja irgendwer gesimst.
Yella ... oder
Max ... oder
Ben ...
Und in der Tat: Yella fragt, ob wir heute ins Schwimmbad wollen (Hat die sie noch alle? Weiß Yella nicht, wie voll das da ist?), und Max (!!!) fragt, ob wir heute ins Schwimmbad wollen.
Äh, vielleicht ist es da ja doch nicht so voll, wie ich dachte ...
Bevor ich ihm antworte, wühle ich hektisch in der Schublade mit den Badesachen. Neben einer Taucherbrille (Mallorca-Urlaub letztes Jahr), einem Bikini mit Erdbeeren drauf (Kreta-Urlaub vorletztes Jahr) und einem gestreiften Handtuch (alle Urlaube) finde ich nichts, in dem ich mich guten Gewissens ins Schwimmbad begeben könnte. Zumindest nicht, wenn man mich nicht für elf Jahre alt halten soll. Was hat mich bitte schön geritten, mir einen Bikini mit Erdbeeren drauf zu kaufen?
Was mache ich denn jetzt? Ich kann ja wohl schlecht Yella fragen, ob sie mir was leiht, wenn ich ihr doch gerade mit dem Hinweis abgesagt habe, dass es mir im Kaifu-Bad zu voll ist, um dort schwimmen zu gehen. Vielleicht trage ich einfach nur Shorts und das Bikini-Top und behaupte, dass ich heute nicht ins Wasser kann, weil ich meine Tage habe. Aber spricht man mit Jungs eigentlich über so etwas? Hm, wohl eher nicht.
Blöd, dass ich jetzt an der Klamottenfrage scheitere, anstatt mich einfach darüber zu freuen, dass Max plötzlich die Initiative ergreift und sich sogar mit mir verabreden will. Mal sehen, was könnten wir denn sonst noch machen, anstatt baden zu gehen?
Ich hab's! Das ist die Idee!
Max wollte doch so gern mal mit mir Kajak fahren, warum also nicht heute?
Weil es in der Küche still ist, stürme ich ins Schlafzimmer meiner Eltern, um Dad zu fragen, ob ich das Boot haben darf.
Doch kaum habe ich einen Fuß ins Zimmer gesetzt, fliege ich auch schon wieder rückwärts hinaus. Waren meine Oldies gerade dabei zu knutschen? Und hat Mom gerade versucht, Dad den grässlichen Bademantel vom Leib zu reißen (was ich unter optischen Gesichtspunkten ja durchaus verstehen kann!)? Können die nicht einfach abschließen, bevor sie unschuldige Kinder traumatisieren?
»Pomelo, was war denn?«, höre ich Moms Stimme, eine Spur höher als sonst.
»Nichts Bestimmtes, lasst euch nicht stören!«, flöte ich zurück und beschließe, hier so schnell wie möglich die Biege zu machen. Meine Eltern scheinen so etwas wie einen Hormonrausch zu haben, dabei haben wir längst nicht mehr Frühling. Also ehrlich: Damit möchte ich nichts zu tun haben! Vielleicht sollte ich doch mit Yella ins Schwimmbad gehen, Erdbeer-Bikini hin oder her ...