Mann, bin ich froh, dass heute Montag ist!
Dieser gestrige Sonntag war ein einziges Chaos. Ich kam gar nicht mehr dazu, mich in irgendwelche Bikinis zu schmeißen oder mit irgendjemandem Kajak zu fahren, weil Mom plötzlich eingefallen ist, dass sie mich in ihre Familienplanung mit einbeziehen muss. Worauf ich gut und gern hätte verzichten können, aber ich wurde ja nicht gefragt
Als ich wieder im Zimmer war und überlegte, ob ich lieber Yella anrufe oder Max, klopfte sie an die Tür und sagte, sie müsse mit mir reden. Und schwups wusste ich eine halbe Stunde später, dass Mom und Dad noch ein Geschwisterchen machen wollen, bevor Mom sich zu alt dafür fühlt. Hatten die beiden nicht eigentlich Geldprobleme?
Ich wusste zunächst nicht, was ich sagen sollte. Zu wissen, dass Levin und ich den beiden offenbar nicht genügen, ist das eine. Aber das andere ist, dass ich, ohne es zu wollen, schon Zeuge des Machens geworden bin. Und dass Mama meint, dies zum Anlass nehmen zu müssen, mit mir über Verhütung und all so was zu sprechen, was wir schon stundenlang in Bio durchgekaut haben. Völlig überflüssigerweise übrigens, denn vom Küssen ist meines Wissens nach noch keiner schwanger geworden.
Und außerdem ist (bis auf Max?) weit und breit niemand in Sicht, mit dem es sooooo ernst werden könnte.
Weil ich nicht gleich Hurra geschrien habe, hat Mom sich bemüßigt gefühlt, mir zusätzlich einen Vortrag darüber zu halten, wie sehr sie Levin und mich liebt und dass der Wunsch nach einem dritten Kind nicht zu bedeuten hat, dass wir ihr nicht genügen.
Ehrlich gesagt, hat mich das in dem Moment nicht so interessiert, weil mich das Gespräch davon abgehalten hat, mich bei Max zu melden.
Am besten bespreche ich das alles mit Yella! Deshalb habe ich schon heute Morgen angemeldet, dass wir uns nach der Schule treffen müssen.
Max ist heute übrigens wie ausgewechselt. Ständig dackelt er mir unter irgendeinem Vorwand hinterher und lässt Julia links liegen, was die offenbar ganz fuchsig macht. Tja, da kannst du mal sehen, wie sich das anfühlt, denke ich gehässig und beobachte amüsiert, wie sie Max wieder mit Zettelchen bewirft. Doch heute hat sie Pech.
»Julia, was soll das?«, fragt Schneeweißchen mit eisiger Stimme und geht in die Richtung, in die das Briefchen geflogen ist. Dann bückt er sich, hebt den Zettel auf und faltet ihn – ich halte den Atem an vor Spannung – auf.
»Schon mal das Wort Briefgeheimnis gehört?«, entfährt es mir spontan, und mir wird abwechselnd heiß und kalt. Habe ich da eben meinen Lateinlehrer bloßgestellt und gleichzeitig Julia verteidigt?
Sabine räuspert sich und umfasst kurz meine Hand. Schluck, was kommt jetzt?
Dr. Matthias von Weißendorf dreht sich um und kommt auf mich zu.
Hilfe, ist die Prügelstrafe eigentlich noch erlaubt? Und wenn ja, kann bitte jemand ganz schnell bei Amnesty International anrufen und mich retten?
Mein Herz sinkt in meine Jeans-Shorts, und ich sehe, dass Yella blass wird und Max nervös auf seinem Stuhl hin und her rutscht.
Im Film würde jetzt die Musik dramatisch anschwellen, aber hier im Klassenraum gibt es natürlich keine, nur ein zorniges Schneeweißchen.
»So, so, Pamela«, beginnt von Weißendorf, und ich denke: Bleib cool! Schließlich warst du nicht diejenige, die liebestoll irgendwelche Zettel durch die Gegend gekickt hat! Trotzdem hab ich Angst.
»Du sorgst dich also um die Wahrung des Briefgeheimnisses? Weißt du denn überhaupt, was Brief auf Latein heißt?«
Ich. Äh, tja, nee – zufälligerweise gerade nicht. Auf Englisch heißt es letter, aber das hilft jetzt auch nichts.
Ohne meine Antwort abzuwarten (aber zum Glück für Julia auch, ohne zu lesen!), zerknüllt Schneeweißchen den Brief wieder und schnippt ihn in Richtung Max. »Da du nicht antwortest, würde ich vorschlagen, dass du es bis übermorgen in Erfahrung bringst. Und nicht nur das: Du wirst dir einen Brief der Weltliteratur heraussuchen, der mindestens drei Seiten lang ist, und ihn nächste Stunde aufsagen. Und zwar auf Latein! Haben wir uns verstanden?«
Gleich werde ich grün und blau vor Wut. Das ist unglaublich ungerecht! Julia baut Scheiß, ich verteidige sie, obwohl ich sie nicht ausstehen kann, und nun das!
Bevor es mich in tausend Stücke zerreißt, klingelt es glücklicherweise zur Pause.
»O Mann, das tut mir echt leid für dich, kann ich dir dabei irgendwie helfen?«, bietet Sabine netterweise an, obwohl sie ja nun gar nichts mit der Sache zu tun hat.
Auch Max fühlt sich bemüßigt, seiner Empörung freien Lauf zu lassen. »Dieser Idiot, das kann er doch nicht machen, das ist total ungerecht!«
Die Einzige, die von spontaner Stummheit befallen ist, ist Julia – die Auslöserin dieses Debakels. Eigentlich müsste sie ausbaden, was sie angerichtet hat. Vielleicht kann ich Schneeweißchen ja als Deal vorschlagen, dass sie an meiner Stelle die Strafe abbüßt. Ich sehe schon – ich habe nachher drei wichtige Themen mit Yella zu bereden: das mit dem geplanten neuen Geschwisterchen, die Sache mit Max und die Ungerechtigkeit von Schneeweißchen.
***
»Mann, was für ein Tag!«, schnaufe ich in meine Eisschokolade und puste durch den Strohhalm Blasen rein.
»Wenigstens ist dein Ausschlag weg«, sagt Yella und nippt an ihrer kalten Zitrone. Seit sie mit Florian zusammen ist, achtet sie nervigerweise mehr auf ihre Figur. Na soll sie, so lange sie mir meine Vorliebe für Süßigkeiten nicht vermiest.
»Also erzähl mal, weshalb wolltest du gestern nicht mit ins Schwimmbad? Hattest du keinen passenden Bikini?«
Ich schildere Yella den Höllentag mit meiner Familie, mein Reinplatzen in das elterliche Schlafzimmer inklusive.
»Echt jetzt?« Yella lacht sich tot, während es mir nachträglich immer noch die Schamesröte ins Gesicht treibt. »Du hast deine Eltern beim SEX erwischt?«
»Na ja, nicht direkt. Sie waren gerade dabei, sich auszuziehen. Sie wollen noch ein Kind, und irgendwoher muss das ja kommen.«
»Verstehe. Dann haben sie also den freien Samstagabend ohne Levin und dich genutzt und den Sonntag gleich mit.«
Irgendwie bereue ich es schon, mit diesem Thema angefangen zu haben. Das ist mir im Augenblick nämlich alles zu kompliziert: Vor ein paar Tagen haben Max und ich uns zum ersten Mal geküsst, dann hat er mich ewig lange links liegenlassen, dann taucht dieser Ben auf, woraufhin Max herumjault, dass ich ihn angeblich habe links liegenlassen, und nun haben meine Eltern auch noch Sex.
Vor meinen Augen. Na ja, fast ...
Nebenbei will ich auch noch die Bäume am Kanal retten, muss einen dreiseitigen Brief auf Latein auswendig lernen, weil ich die Frau verteidigt habe, die sich ständig an Max heranwanzt, und – ich habe bestimmt noch was vergessen. Ach ja: Bei uns soll bald ein schreiendes, kleines Bündel einziehen, das ich dann garantiert babysitten muss. Na herzlichen Glückwunsch!
Damit eins schon mal klar ist: Mein Zimmer bekommt er/sie/es nicht!!!! Auch nicht in der neuen Wohnung, in die ich sowieso nicht ziehen will!!!!! Warum ist das alles nur so kompliziert?
Ich breite mein gesamtes Unglück vor Yella aus, die nichts Dümmeres zu tun hat, als wieder zu lachen.
Ich verstehe überhaupt nicht, was an der ganzen Sache so lustig sein soll.
»Hey, du Drama-Queen, nun komm mal wieder auf den Teppich. Das ist doch alles überhaupt nicht schlimm. Wenn ich mal eben kurz zusammenfassen darf: Wir haben bald Sommerferien, und dann hast du ganze sechs Wochen Zeit, dir zu überlegen, wie das mit dir und den Jungs laufen soll. So wie es momentan aussieht, hast du sogar zwei Typen am Start, nämlich Max und Ben. Um Julia brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Die schaffst du mit links, ehrlich! Deine Eltern wollen noch ein Baby, das ist ihr gutes Recht. Und wenn es erst mal da ist, dann wirst du es garantiert lieben. Außerdem ist doch noch gar nichts passiert, das hast du mit deiner Aktion ja schließlich verhindert. Die Bäume am Kanal zu retten, ist nicht ausschließlich deine Aufgabe. Zum einen sind wir mehrere, zum anderen ist das letztlich der Job der Politiker. Und was das Thema Latein betrifft, so würde ich heute Abend mit deinen Eltern darüber sprechen. Oder vielleicht reicht es ja einfach, wenn du dich bei Schneeweißchen entschuldigst. Der hat sich mittlerweile bestimmt wieder eingekriegt.«
»Und was ist mit dem Umzug?«
»Äh, ja ...«, nun ist auch Yella aus dem Konzept. Denn natürlich findet sie die Vorstellung, mich nicht mehr in der Nähe zu haben, ebenfalls grässlich.
»Vielleicht ist das ja alles halb so wild. Vielleicht kaufen deine Eltern etwas ganz in der Nähe. Das Geld dazu haben sie nach dem Verkauf eures Grundstücks. Hast du sie denn schon mal darum gebeten, wenigstens in Eimsbüttel wohnen bleiben zu dürfen?!«
Nein, habe ich nicht. Hm, ich bin verwirrt.
Ich finde, Yella sollte nicht zum Film, sondern Psychotherapeutin werden. Wenn ich sie so reden höre, habe ich das Gefühl, dass sie mindestens fünf Jahre älter ist als ich.
Oder hat sie nur einfach mehr Durchblick?
»Ja, ist gut ...«, maule ich in mein Getränk, das gleich alle ist. Ob ich mir noch ein zweites gönnen soll?
Okay, ich werde also meine Eltern fragen, ob wir hier wohnen bleiben dürfen, und ab jetzt cool bleiben und alle Dinge so nehmen, wie sie kommen.
Außer die Sache mit Max. Die muss ich echt noch klären, und zwar vor den Sommerferien! Das fehlte gerade noch, dass ich sechs Wochen vor mich hin schmore, während Max sich in Bayern amüsiert. Apropos: Wieso habe ich eigentlich noch gar nichts davon gehört, was wir in den Ferien machen? Bleiben wir etwa dieses Jahr zu Hause?
***
»Bleiben wir etwa in den Ferien zu Hause?«, frage ich beim Abendessen auf der Terrasse. Es gibt Teigtaschen mit Spinat und Schafskäse, gemischten Salat und als Nachtisch grüne Götterspeise. Mom hält sich in letzter Zeit nicht mehr ganz so sklavisch an den Speiseplan. Ich glaube, Dad ist auch ganz dankbar für diese Neuerung! Levin ist heute ausnahmsweise mal nicht verkleidet, vermutlich hat sich sein Repertoire allmählich erschöpft.
»Weißt du, Pomelo«, beginnt Mom zaghaft. »Wir haben gerade einen so tollen Sommer, da haben Papa und ich uns überlegt, dass wir einfach hierbleiben und nur kleine Tagesausflüge unternehmen. An die Ostsee, nach St. Peter-Ording, in den Hansa-Park ...«
Mir fällt gleich die Gabel herunter. Soll das jetzt etwa heißen, dass alle aus meiner Klasse in die Ferien fahren und nur wir Trüffels hier herumschmoren?
Jetzt kommt auch Leben in meinen kleinen Bruder »FahrnwirnichtansMea?«, fragt er – blankes Entsetzen im Gesicht.
»Doch Schätzchen, natürlich fahren wir ans Meer, aber dieses Jahr eben an ein deutsches. Oder vielmehr zwei deutsche, nämlich Nord- und Ostsee.«
Levin scheint das zweifache Angebot nicht besonders zu überzeugen.
»AberichwillnachMallllorca!«, kreischt er los, und ich würde am liebsten mitkreischen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in den großen Ferien zu Hause geblieben zu sein. Deshalb habe ich auch vorher gar nicht nachgefragt. Ich wäre nie im Traum auf die Idee gekommen, dass so etwas Entsetzliches überhaupt möglich wäre.
Dann sind wir ja vielleicht auch bald ein Teil der deprimierenden Bilder aus dem Fernsehen, wo Touris bei schlechtem Wetter gezeigt werden, wie sie mit ihren Gummistiefeln und Regenparkas am Strand stehen und sagen, dass sie trotzdem »das Beste aus der Situation machen«, obwohl der Himmel dunkelgrau ist, das Wasser an die Kaimauern donnert und sich noch nicht mal Möwen raustrauen. Na toll, und das soll unser Jahresurlaub werden?
»Aber warum müssen wir denn hierbleiben? Wenn ihr das Grundstück und das Haus verkauft, schwimmt ihr doch geradezu in Geld?«, rufe ich empört.
»Nun, Pomelo, die Sache ist die«, ergreift nun Dad das Wort, ganz Familienoberhaupt.
Dann wechseln er und Mom bedeutungsvolle Blicke. Mein Herz pocht wie wild – was kommt denn jetzt bitte?
»Wir haben lange über den Verkauf nachgedacht. Ihr wisst selbst, wie sehr wir alle an unserem Bootshaus hängen. Außerdem finden wir es ganz bemerkenswert, wie du, Pomelo, dich für den Erhalt des Kanalufers einsetzt, obwohl du eigentlich davon ausgegangen bist, umziehen zu müssen. Und deshalb haben wir gestern Abend beschlossen, doch nicht zu verkaufen. Wir werden uns zwar finanziell einschränken müssen, aber irgendwie wird es schon gehen.«
Levin und ich brauchen einen Moment, um zu verstehen, was Dad da gerade gesagt hat.
Dann fallen wir einander in die Arme und jubeln so laut, dass ganz Eimsbüttel an unserem Glück teilhaben müsste.