»Aber dagegen muss man doch irgendetwas tun können«, schluchzt Mom mit rotgeränderten Augen, während Dad ihr beruhigend die Hand tätschelt. Wenn ich ehrlich bin, sieht er selbst auch nicht besonders gelassen aus.
»Haben Sie denn keinen Verdacht, wer das geschrieben haben könnte?«, fragt einer der beiden Polizisten, die schon beim letzten Mal eine Anzeige gegen unbekannt aufgenommen haben und die in Windeseile bei uns waren.
»Wer soll denn so etwas machen? Soweit ich weiß, haben wir in der Gegend keine Feinde. Warum auch?«, sagt Dad und versucht, ruhig zu bleiben, damit Mom sich nicht zu sehr aufregt (und nicht so furchtbar viel seufzt!).
***
Was für ein Tag! Nach dem ganzen Debakel komme ich natürlich zu spät zum Unterricht, aber heute erregt meine Unpünktlichkeit Besorgnis und Mitleid. Jutta Kramer (wirklich die netteste Klassenlehrerin überhaupt) runzelt die Stirn, als ich ihr von der Drohung erzähle.
»Hat das vielleicht etwas mit dem Artikel zu tun, der gestern im Wochenblatt über dich erschienen ist?«, fragt sie, und ich frage mich, ob ich in irgend so ein Zeugenschutzprogramm mit gefälschter Identität aufgenommen werden kann. Ein bisschen Vorsicht hat schließlich noch niemandem geschadet!
»Kkkkeine Ahnung«, stammle ich, denn auf diese Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Ich hatte das euch auf meine gesamte Familie bezogen, und die kämpft ja nicht komplett gegen die Sauerei am Kanal. Obwohl, wenn ich es recht überlege: Dad hat Bilder gemalt, Levin Handzettel verteilt, Mom hat uns an den Aktionstagen mit Essen und Getränken versorgt, und sogar Oma Schnuppe hat einmal für ein paar Stunden Unterschriften gesammelt.
»Okay, Pomelo, dann setz dich erst einmal. Das muss ja wirklich ein Schock für dich und deine Familie sein. Ich finde es ganz tapfer von dir, dass du heute überhaupt gekommen bist!«
Ich gehe an Yella und Max vorbei zu meinem Platz. Yella guckt bedröppelt aus der Wäsche und überlegt vermutlich gerade, wo sie jetzt einen Bodyguard für mich herbekommt. Max hingegen vermeidet, wie auch in den letzten Tagen, jeglichen Blickkontakt mit mir.
»Bin ich froh, dass dir nichts passiert ist«, sagt Sabine und rückt mir den Stuhl zurecht.
Hey, das macht Spaß, wenn ich mal davon absehe, dass mir vor Angst die Knie schlottern. Was genau meinen die Schreiberlinge (irgendwie gehe ich davon aus, dass es mehrere sind) mit das werdet ihr bereuen!?
Ich denke mit Schaudern an den Tag, als Moms Rosen zertrampelt wurden. War das schon ein Vorbote?
Aber zu dem Zeitpunkt hatte ich doch noch gar nichts mit der Initiative »Rettet den Isebekkanal« zu tun?!
Oder sind es am Ende wirklich dieselben Personen, die sich einfach nur einen miesen Scherz mit uns erlauben wollen, weil sie neidisch auf unser tolles Bootshaus sind? Oder tatsächlich ein paar von den Junkies, die immer am Ufer abhängen, obwohl die eigentlich immer einen ganz harmlosen Eindruck machen ...
Ich beschließe, die Entschlüsselung des Rätsels zu vertagen, denn jetzt bricht der letzte Schultag an, und der ist eigentlich immer ganz schön. Alle bringen etwas zu essen und zu trinken mit (nur ich nicht, weil ich wegen der Aufregung den Kuchen zu Hause vergessen habe) und erzählen, wo sie die großen Ferien verbringen werden. Gut, dass von mir heute keiner einen Beitrag erwartet, also komme ich auch um die Schmach herum zu sagen, dass wir dieses Jahr in Hamburg bleiben. Während ich Reiseziele wie »Kanaren«, »Italien«, »Korsika« und »Südfrankreich« um die Ohren gehauen bekomme, registriere ich erfreut, dass zumindest Max mein Schicksal teilt. Er fährt »nur« nach Bayern, wo der Großteil seiner Familie wohnt. Yella hingegen hat etwas Größeres vor, sie macht mit ihren Eltern eine Skandinavien-Tour mit dem Wohnmobil.
Nun kommt der spannende Teil des Tages, dem ich persönlich allerdings eher gelassen entgegensehe: die Ausgabe der Zeugnisse. Bis auf Latein (wusste ich's doch!) ist so weit alles im grünen Bereich, auch die Fächer, die nicht ganz so zu meinen Stärken zählen. In Kunst habe ich mich sogar verbessert und bin von der Zwei auf die Eins hochgeklettert.
Werde vielleicht Kunst studieren und Malerin werden! Oder Bildhauerin! Oder Fotografin!
Eigentlich sind meine Zensuren ein Wunder, wenn ich bedenke, dass ich in letzter Zeit (genau genommen seit dem Auftauchen von Max) zeitweise nicht so ganz bei der Sache war. Ich schaue zu Yella rüber, die auch ganz zufrieden aussieht. Bin mal gespannt, was sie in Bio hat, jetzt, wo sie nicht mehr von mir abschreiben konnte ...
Aber noch mehr gespannt bin ich auf den Abschied von Max. Soweit ich weiß, fährt er erst in zwei Wochen in seine alte Heimat, also hätten wir theoretisch noch die Chance, uns zu sehen. Aber ich werde ihn keinesfalls um ein Treffen bitten, damit das schon mal klar ist!
***
Kurz nach zwölf ist unser letzter Schultag zu Ende. Unter großem Geschnatter, viel Gekicher und Gekreische packen alle ihre Sachen und sind froh, dem Klassenzimmer für die nächsten sechs Wochen den Rücken zukehren zu können.
Julia verteilt die Abschlussausgabe der Helena-News, wo alles über unsere Initiative drinsteht, mit der Aufforderung, sich auch den Sommer über an weiteren Aktionen zu beteiligen. Momentan sieht es so aus, als würde aus der Sache sogar ein Bezirksamtsbegehren.
Max drückt sich noch ein wenig an seinem Tisch herum und tut so, als würde er jedes einzelne Wort nachlesen, obwohl er einige Artikel selbst geschrieben hat. Wartet er etwa auf mich?
»Na, Max, alles klar?«, sage ich betont locker und werfe meinen Rucksack über die Schulter. »Ist dein Zeugnis okay?«
Diese Frage ist rein rhetorisch, denn Max hat sich innerhalb kürzester Zeit zu einem der Klassenbesten gemausert.
»Alles gut«, antwortet er, ohne eine Miene zu verziehen. »Und deins?«
»Ich habe eine Eins in Kunst«, sage ich stolz und so laut, dass Lovely Juliet es auf alle Fälle hört. Denn schließlich war sie diejenige, die an meinem Talent gezweifelt hat.
»Sag mal ...«, beginnt Max zaghaft, »... habt ihr denn jetzt gar keine Angst?«
Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, dass er damit die Drohung von heute Morgen meint. Das Thema hatte ich gerade so schön verdrängt.
Nun wird auch Julia hellhörig und gesellt sich zu uns, obwohl kein Mensch sie darum gebeten hat. Zum Glück ist Yella endlich mit ihrem Kram fertig und stellt sich ebenfalls dazu.
Soll ich jetzt ehrlich sein?
»Ja, schon«, druckse ich herum. Natürlich wäre ich gern cooler, aber ich möchte mal denjenigen sehen, den eine solche Drohung kaltlassen würde.
»Hast du denn irgendeinen Verdacht?«, flötet Julia zuckersüß, und ich schüttle den Kopf.
»Natürlich habe ich heute Morgen kurz daran gedacht, dass die Schmiererei von jemandem aus der Stadtverwaltung stammen könnte, dem es nicht passt, dass wir für den Erhalt der Bäume kämpfen. Oder von jemanden, der ein finanzielles Interesse daran hat, dass alles so durchgezogen wird wie geplant. Zum Beispiel irgendwelche Bauherren oder Firmen, die Geld mit der Entwässerung des Kanalufers verdienen. Aber das sind bestimmt nur Hirngespinste ...«
»Und das Ergebnis von zu vielen Krimis, wenn du mich fragst«, sagt Julia und stolziert dann Richtung Tür. »Also dann, Pomelo: Ich wünsche euch schöne Ferien. Du hast vorhin gar nicht erzählt, wohin ihr fahrt. Also gehe ich davon aus, dass ihr hierbleibt. Ich hoffe, ihr habt schönes Wetter!« Mit diesen Worten stöckelt sie hinaus, und ich wünschte, sie würde mit ihren viel zu hohen Absätzen umknicken und sich ordentlich den Knöchel verstauchen. Dann wär's nämlich aus mit ihrem Urlaub in Kalifornien, jawohl!
»Und ich drück dir die Daumen, dass es keine Waldbrände gibt, wo du dich aufhältst«, ruft Yella ihr hinterher.
Ich kann nur schwer ein Grinsen unterdrücken, auch wenn ich es natürlich niemandem wünsche, in eine solche Naturkatastrophe verwickelt zu werden. Noch nicht einmal Julia!
»Können wir jetzt endlich? Florian wartet«, drängelt Yella und sieht Max und mich bedeutungsvoll an.
»Habt ihr vielleicht noch Lust auf einen Abstecher ins Eiscafé?«
»Nee, danke, heute nicht! Ich will nach Hause und sehen, wie es Mom geht. Sie hat sich heute Morgen furchtbar aufgeregt. Also, Max, dann wünsche ich dir schöne Ferien. Bis bald mal.« Yella gebe ich links und rechts ein Küsschen. Wir sind für morgen verabredet, um uns zu verabschieden, bevor wir uns fünf Wochen nicht sehen.
»Ciao, Pomelo, pass auf dich auf!«, sagt Max und verzieht den Mund zu einem Lächeln. Hui, das gab's ja schon lange nicht mehr …
Während die beiden in Richtung Ilona-Ahren-Schule gehen, flitze ich los, was meine Turnschuhe hergeben. Ich will meine Mutter nicht unnötig lange allein lassen. Außerdem hat Levin jetzt auch Schluss, und ich muss ihn noch abholen.
***
Als wir zu Hause ankommen, ist der Tisch auf der Terrasse festlich gedeckt. Irgendjemand hat rote Herzballons aufgehängt, und auf meinem Lieblingsteller liegt ein schmales Päckchen. Nanu? Habe ich meinen Geburtstag vergessen?
»Hi Mom, was ist denn hier los?«, frage ich, als Mama mit einer riesigen Schüssel Spaghetti bolognese aus der Küche kommt. Hui, ein Festtag!
»Na, ab heute sind doch Ferien, du hast dein Zeugnis bekommen, und wir bleiben hier wohnen. Das muss gefeiert werden«, erklärt Mama, und schon biegt auch Dad um die Ecke.
Er sieht noch ganz verwirrt aus, vermutlich grübelt er wieder über irgendeinem Rezept, dem noch der allerletzte Pfiff fehlt. Auch auf Levins Teller mit dem Drachen-Motiv liegt ein Geschenk. Mein Bruderherz stürzt sich mit großem Gejohle drauf und zeigt uns Sekunden später voller Stolz eine Trinkflasche und eine Federtasche von Käpt'n Sharky. Stimmt ja, er wird nach den großen Ferien eingeschult!
»Los, Pomelo, mach auf«, ermuntert Dad mich, und jetzt bin ich echt gespannt. Und dann falle ich vor Freude und Aufregung beinahe in den Kanal. Vor mir legt – Ta-daaaa: ein pinkfarbenes Handy. Genau das, das ich mir so sehnlichst gewünscht habe. »Das ist das Gute an meinem teuren Handy-Vertrag«, zwinkert Paps. Stimmt, er hat ja alle zwei Jahre Anspruch auf ein neues Mobiltelefon. Lieb von ihm, das er diesmal meinetwegen zurückgesteckt hat!