Mann, ist das öde!
Da hat man jetzt so ein cooles Handy, und was passiert?
Nichts.
Seitdem ich Yella und ihrer Family nachgewinkt habe, als sie mit ihrem knallroten Wohnmobil Richtung Dänemark losgetuckert sind, ist es langweilig.
Keiner ruft an, keiner simst. Ich muss nicht zur Schule, Levin hängt dauernd mit seinem besten Freund rum und erzählt jedem, der es nicht wissen will, dass er nach den Ferien in die Schule kommt.
Mom wirkt seltsam verträumt, und Dad schreibt ein Exposé nach dem anderen, um endlich einen neuen Buchvertrag zu ergattern. Zu allem Überfluss hat sich's ausgesommert, und es regnet den lieben, langen Tag, so wie ich es befürchtet hatte. Na toll!
Selbst Oma Schnuppe ist für zwei Wochen verreist, sie besucht ihre Schwester in Berlin. Ich will auch jemanden besuchen! Und Berlin ist eine coole Stadt.
Dummerweise kenne ich aber niemanden dort.
Vor lauter Verzweiflung und Langweile überlege ich schon, ob ich meinen Cousin Alex in Wuppertal mit meiner Anwesenheit beehre. Schwebebahn fahren ist nämlich allemal aufregender als das, was hier abgeht. Beziehungsweise eben nicht abgeht.
Mann, tue ich mir leid!
Ich kann auch diese ewigen Vorschläge von Mom nicht mehr hören. Wenn sie noch einmal etwas von Schwimmbad (bei dem Wetter natürlich in der Halle!), Kino (ja, mit wem denn, bitte schön? Sind ja alle weg!) oder Bücherhalle (gibt es überhaupt noch irgendein Buch, das ich nicht gelesen habe? Beim Buchtrüffel bin ich ja auch schon durch) sagt, drehe ich durch. Und zwar ernsthaft!
Plaudertasche hat sich seit Tagen nicht blicken lassen, das Kajak kann ich bei dem Wetter auch nicht nutzen, und aus dem Alter, wo ich bastle oder ein Bild male, bin ich definitiv längst raus.
Vielleicht sollte ich die Zeit nutzen, um auf eigene Faust zu ermitteln und endlich herauszufinden, wer uns diese miese Drohung auf den Gehweg geschrieben hat, die trotz aufwendiger Reinigungsaktionen immer noch ein bisschen zu sehen ist. Zum Glück ist nichts Neues dazugekommen (außer, dass die Polizei netterweise dreimal täglich an unserem Haus vorbeifährt, um nach dem Rechten zu sehen), und passiert ist auch nichts.
Mittlerweile ist mir aber so langweilig, dass ich selbst das gut finden würde.
Okay, nein, natürlich nicht im Ernst!
»Wie wär's, wenn du weiter Unterschriften sammeln würdest?«, schlägt Mom vor, als sie mich dabei erwischt, dass ich zum fünften Mal an diesem Tag am Nutellaglas zugange bin. Ja, wir haben seit einiger Zeit wieder echtes Nutella im Küchenschrank, nicht mehr diesen mumpfigen Ökokram.
Während ich noch an einer Antwort feile, poltert es plötzlich aus der Nachbarschaft. Nanu?
Und es poltert nicht nur einmal, sondern mehrmals, und ich habe das dumpfe Gefühl, dass das Bootshaus vibriert. Mom und ich sehen uns entsetzt an. Kommt jetzt der Tag der Vergeltung? Hilfe, Dad ist gerade nicht daheim!
Doch wie sich herausstellt, müssen weniger wir uns sorgen, sondern die armen Bäume am Kanal. Was da nämlich so poltert, sind Lkws mit großen Ladeflächen und fette Planierraupen, die sich am Ufer in Position bringen, so viel kann ich von hier aus erkennen. Es ist fünf Uhr nachmittags, vermutlich wollen sie alles für den morgigen Tag vorbereiten. Manno, haben denn unsere Aktionen und die vielen Unterschriften überhaupt nichts genützt? Mom sieht genauso entsetzt aus wie ich.
»Ich komme gleich wieder«, rufe ich und flitze los. Ich muss auf alle Fälle in Erfahrung bringen, was hier abgeht.
Zwei Minuten später werde ich von einem echt mies aussehenden Typen mit schiefen, ungepflegten Zähnen ausgelacht.
»Tja, Frollein. Das mit der Umwelt und den kleinen Singvögelchen ist ja alles schön und gut, aber wir machen hier unseren Job. Und der heißt morgen früh Bäume fällen und alles planieren, damit wir Platz für die Dränagen haben.«
Mein Herz rast.
Wen um alles in der Welt kann ich denn jetzt anrufen und mobilisieren, um diese Sauerei zu verhindern? Ob Max noch in Hamburg ist?
Ich schluffe nachdenklich zurück zum Bootshaus und erzähle Mom, was ich erfahren habe. Die ist auch ganz entsetzt, aber ratlos. Vielleicht ist ja Dad empfänglicher für das Thema, wenn er später nach Hause kommt. Bis dahin werde ich wohl allein überlegen müssen, was jetzt zu tun ist – denn bis morgen früh bleibt leider nicht mehr viel Zeit.
Ich gehe hinauf in mein Zimmer und überlege, was wohl eine Greenpeace-Aktivistin an meiner Stelle tun würde. Bestimmt einen Sitz- oder Hungerstreik organisieren, Barrikaden bauen ... oder: sich anketten. Aber wie kettet man sich eigentlich an einen Baum? Ich bin ratlos. Ich kann mich ja schlecht mit meinem alten Springseil (oder Levins Gummitwist-Set) an den Baum binden lassen. Das wäre nun wirklich nicht eindrucksvoll, sondern lächerlich. Nein, ich muss so fest mit dem Baum verbunden sein, dass man keine Chance hat, ihn zu fällen, ohne mein Leben zu riskieren. Und das Ganze muss auf alle Fälle von der Presse begleitet werden, sonst ist die Aktion wirkungslos. Wenn ich morgen früh etwas tun sollte, dann muss zumindest Brigitta Wiesner vom Wochenblatt vor Ort sein. Noch besser wäre allerdings das Fernsehen ... Doch bevor ich überlege, wer zu meiner Ankettung kommt, sollte ich vielleicht besser mal recherchieren, wie man so etwas am besten macht. Ich gebe bei Google die Schlagworte »sich an Baum ketten« ein und werde nicht wirklich fündig. Doch kurz bevor ich aufgeben will, stoße ich auf eine Seite, die mit sogenannten Lockons wirbt und in der ich alles über Handschellen, Bügelschlösser und Ähnliches erfahre, das ich wirklich noch nie wissen wollte. Merke: Kaufe nie Handschellen in Army-Shops, da sind sie überteuert und qualitativ schlecht. Aaaaaahaaa! Zum Thema Bäume stehen da allerdings tatsächlich ein paar gute Tipps: Für derartige Aktionen eignen sich am besten lange, stabile Metallketten mit Schlössern, oder Bügelschlösser, die man für Fahrräder nutzt. Für stundenlange Wartereien am/unter dem Baum empfehlen die Betreiber der Seite die Mitnahme von Kissen und Decken. (Ich persönlich würde noch etwas zu essen und zu trinken mitnehmen, falls es länger dauern sollte.)
Den Schlüssel für das Vorhängeschloss sollte man nicht selbst behalten (falls man durchsucht wird!), sondern tunlichst einer Bezugsperson geben, die in Reichweite ist und zu der man Vertrauen hat. Julia wäre schon mal absolut unbrauchbar dafür, weil sie mit dem Schlüssel durchbrennen und mich für den Rest aller Tag am Baum schmoren lassen würde. Aber Julia kommt auch aus anderen Gründen nicht in Frage, immerhin ist Kalifornien ziemlich weit weg.
Okay: Jetzt mal ein Schritt nach dem anderen. Wie komme ich jetzt so schnell an eine stabile Kette und an ein Schloss? Ob Dad so etwas im Schuppen hat? Mom will ich mal lieber nicht fragen, denn die kommt vor Sorge bestimmt fast um, wenn sie erfährt, was ich vorhabe. Nein, diese Geschichte muss geheim bleiben, wenn sie gelingen soll!
Ich stöbere mich im Schuppen durch Gerümpel aller Art (Mann, hier sollte wirklich mal aufgeräumt werden!) und finde schließlich genau das, was ich brauche. Mit dieser Kette binden meine Eltern jeden Winter die Terrassenmöbel zusammen, damit sie keiner klauen kann, für den Fall, dass jemand den Holzverschlag aufbricht. Und prima: Sie müsste ungefähr die richtige Länge haben. Ich verstecke die Kette in einer Plastiktüte und nehme sie mit nach oben. Schritt zwei: Finde eine Person deines Vertrauens. Unter normalen Umständen wäre das natürlich Yella, aber die tourt ja gerade durch Skandinavien. Der Einzige, der noch in Hamburg sein müsste, ist – Max.
Hm. Eigentlich wollte ich mich nicht mehr bei ihm melden. Ich hatte in dieser öden Woche jede Menge Zeit zum Nachdenken. Und je mehr ich das getan habe, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass er eine ... Memme ist ...
Na ja, vielleicht keine Memme, aber Mut und Tatendrang gehören ganz offenbar nicht zu seinen Stärken. Denn wenn er mich wirklich so toll gefunden hätte, wie es zwischendurch den Anschein hatte, hätte er um mich kämpfen müssen, jawohl!
Kämpfen und sich nicht immer wie ein Schoßhündchen von Julia herumzerren lassen. Also, das meine ich jetzt natürlich nicht wörtlich, sondern eher im übertragenen Sinne. Andererseits war er von Anfang an begeistert davon, die Initiative zu unterstützen, und hat dabei auch gute Arbeit geleistet. Am besten, ich rufe ihn mal an, denn die Zeit drängt!
»Ja, Max«, ertönt seine Stimme, und nun schlägt mein Herz doch ein paar Takte schneller. Komisch, wieso eigentlich? Das Thema war doch abgeschlossen.
Ich erkläre ihm rasch, was passiert ist und wofür ich seine Hilfe brauche. In meiner Nervosität verhasple ich mich ein paar Mal, aber ich hoffe doch, dass ich klargemacht habe, wie dringend es ist. Doch anstelle eines begeisterten »Ja, klar, wann geht's los?« ertönt ein Piepen. Ups, das war nur die Mailbox, Max selbst war gar nicht dran. Ich warte eine geschlagene Stunde, doch ich bekomme keinen Rückruf. Jetzt bin ich, gelinde gesagt, aufgeschmissen.
Der Einzige, der jetzt noch in Frage käme, ist Ben.
Aber bei dem wollte ich mich ja nun ebenfalls nicht melden ...