»Pomelo, schön, dass du anrufst! Wie geht es dir?«
Ich habe jetzt keine Zeit für Small Talk und erkläre Ben, was morgen früh am Kaifu-Ufer passieren wird. Am anderen Ende der Leitung ist es einen Moment still. Warum nur habe ich Max gegenüber ein schlechtes Gewissen, wenn ich mit Ben telefoniere? Ich bin seit dem Abend von Florians Party im Besitz seiner Handy-Nummer und habe sie sofort ganz hinten in der Kommode (noch hinter den Wintersocken) verbuddelt. Eigentlich wollte ich sie ja gleich wegwerfen, weil es mir als Verrat an Max vorkam, aber dann habe ich sie doch wieder rausgefischt.
»Kannst du mir dabei helfen?«, frage ich atemlos, nachdem ich Ben von meiner Idee erzählt habe.
»Ich helf dir gern dabei, aber nur, wenn ich mich an deiner Stelle ankette!«
In mir beginnt es zu grummeln. Traut Ben mir etwa nicht zu, dass ich das durchziehe?
»Ich könnte übrigens auch meinen Vater einspannen. Der ist beim NDR und könnte die Aktion durch sein Team filmen lassen, dann haben wir eine super Medienunterstützung. Beim Hamburger Abendblatt und bei der Morgenpost kenne ich auch Leute, weil ich dort schon mal Praktika gemacht habe. Was meinst du?«
Äh, was ich meine? Schluck, ich bin total beeindruckt von so viel Power. Praktika bei Abendblatt und Mopo. Heißt das, dass Ben Journalist werden will? Cool!
»Doch, super, echt toll!«, stammle ich. »Aber was hast du dagegen, dass ich mich ankette? Das war doch schließlich meine eigene Idee!«
»Ich möchte aber nicht riskieren, dass dir etwas passiert. Doch wenn es dir so wichtig ist und dein Herz so daran hängt, dann machen wir es eben so. Ich lasse dich sowieso keine Minute aus den Augen. Und sobald es gefährlich zu werden droht, öffne ich das Schloss, ob du es willst oder nicht.«
Mir wird ganz schwummerig und warm ums Herz. »Ich möchte nicht riskieren, dass dir etwas passiert.« Wie schön! Das hat noch nie jemand zu mir gesagt, außer meinen Eltern natürlich. Da zeigt es bloß nicht mehr so viel Wirkung, weil dieser Satz fast täglich fällt.
Wir vereinbaren, dass wir uns um fünf Uhr (morgens!!!) an der Ecke Weidenstieg/Kaifu-Ufer treffen und dann schon mal proben. Die Bauarbeiter kommen gegen sieben, bis dahin sollten wir bereit sein. Das TV-Team und die Printpresse bestellt Ben für sechs Uhr, dann können die uns bei den Vorbereitungen filmen.
Natürlich bin ich nach dem Telefonat so aufgeregt, dass es mir schwerfällt, mich beim Abendessen nicht zu verplappern.
Und natürlich erzählt Mom davon, dass die Bäume nun wirklich gefällt werden sollen, doch mein Vater ist zu meinem Erstaunen nicht ganz bei der Sache. Er hatte heute einen wichtigen Termin bei einem Verlag, und wenn das was wird, dann wird es – O-Ton Papa – eine ganz große Sache!
Das alles ist mir recht, umso schneller kann ich nach oben, um mich für morgen vorzubereiten. Ich stibitze ein neues Paar Batterien aus Moms Vorratsschrank, denn es fehlte noch, dass ich die ganze Geschichte verpenne, weil mein Wecker streikt. Zum Glück habe ich noch ein weißes T-Shirt zum Gestalten. Weil mir nichts anderes einfällt, male ich eine große Uhr drauf, deren Zeiger auf fünf vor zwölf stehen, irre symbolträchtig, wie ich finde. Darunter will ich in roter Farbe schreiben:
Es ist Zeit zu handeln –
rettet die Bäume am Kanal!
Doch wo ist mein roter Stoffmalstift? Ich durchwühle den Schreibtisch und meinen Schulrucksack und schaue sogar hinter dem Bett nach, ob er vielleicht dorthin gekullert ist. Als Nächstes krame ich bei Levin rum, der zum Glück so tief schläft, dass er das nicht mitbekommt. Zurück in meinem Zimmer denke ich nach. Wann habe ich den Stift zum letzten Mal benutzt? War das nicht vor zwei Wochen in der Redaktionssitzung? Als ich zusammen mit Julia – ich schaudere jetzt noch, wenn ich daran denke – ein baumwollenes Transparent beschrieben habe, das wir dann für die Zeitung fotografiert haben. Tja, dann hat wohl Julia den Stift eingesteckt, und ich muss eine andere Farbe für meinen Schriftzug wählen. Während ich mit Grün schreibe, ärgere ich mich über Julia. Da hat die Frau Kohle ohne Ende und steckt anderer Leute Stifte ein, ohne sie zurückzugeben. In meine düsteren Gedanken platzt das Klingeln meines Handys. Cool! Endlich kommt dieses wunderschöne Telefon mal zum Einsatz! Bereits im Display sehe ich den Namen blinken, den ich jetzt gar nicht wirklich gebrauchen kann: Max. Mist, was sage ich denn jetzt? Dass ich schon Ersatz gefunden habe, weil die Zeit drängte? Und wenn er trotzdem mitmachen will? Komisch, irgendwie will ich ihn gar nicht dabeihaben, auch wenn mehrere Leute natürlich hilfreich wären. Je mehr, desto besser eigentlich.
»Hi Max«, sage ich so lässig wie möglich.
Max ist wegen der Geschichte mit den Bäumen so schwer in Fahrt, dass ich ihn weder bremsen noch ihm ins Wort fallen kann. Eine Minute später bin ich derart überrumpelt, dass ich widerspruchslos akzeptiere, dass er sich nun auch an einen Baum ketten will. Dann muss Ben wohl die Verantwortung für zwei Schlüssel übernehmen. Ich gebe Max noch den Tipp, sich eine Decke und ein Kissen mitzunehmen, und verabschiede mich dann mit der Ausrede, früh ins Bett zu müssen, weil ja morgen um halb fünf (hoffentlich überlebe ich das!) der Wecker klingelt.
Als ich mich später schlaflos hin und her wälze und überlege, ob ich morgen wenigstens einen Minirock zum T-Shirt anziehen kann oder ob es dafür zu kalt ist, wandern meine Gedanken immer wieder zu Ben.
***
Nach realen vier (und gefühlten 0,5) Stunden Schlaf klingelt mich der Wecker brutal aus meinen Träumen. Besonders doof daran: Ich habe gerade geträumt, dass Ben und ich am Ufer des Kanals sitzen und unseren Sieg feiern. Ein Chor von Bäumen wiegt sich in den Hüften und singt »So soll es sein, so soll es bleiben, so hab ich es mir gewünscht« von Ich+Ich, während ich Ben eine Praline aus einer herzförmigen Schachtel anbiete. Der Zilpzalp trällert ebenfalls fröhlich ein Lied, kommt aber nur mit Mühe gegen den Baumchor an. Julia steht irgendwo im Abseits und schreibt tausendmal hintereinander auf eine Schiefertafel: Ich darf niemals wieder den roten Stift von Pomelo einstecken! Yella und Florian stecken ihre Köpfe aus den Fenstern des roten Wohnmobils, und Levin sitzt auf dem Dach und lässt Drachen steigen. Mom kauft in einem normalen Supermarkt Chips und andere Leckereien mit bösen, bösen Geschmacksverstärkern und trinkt heimlich Cola hinterm Regal, während Dad gerade erfährt, dass er mit seinem Kochbuch auf Platz eins der Bestsellerliste eingestiegen ist.
Und da soll sich einer darüber freuen, dass es jetzt Zeit ist aufzustehen, um sich im frühen Morgengrauen an einen Baum zu ketten ...
Ich schleiche mich so leise wie möglich in die Küche und schmiere vier Brote. Eins zum Sofortessen, eins für später. Die beiden anderen sind für Max und Ben. Ob ich einen Zettel auf den Küchentisch legen soll, auf dem steht, wo ich bin? Nur für den Fall, dass nachher irgendetwas schiefläuft? Jetzt, wo es gleich losgeht, habe ich ein bisschen Muffensausen. Wenn wenigstens Yella hier wäre! Doch es nützt alles nichts, ich habe die Geschichte begonnen, jetzt muss ich sie auch konsequent zu Ende führen.
»Hallo, Pomelo«, murmelt Ben, eine dunkle Strickmütze tief ins Gesicht gezogen.
Kann es sein, dass er auch Probleme mit der frühen Uhrzeit hat? Ich mache wortlos ein Victory-Zeichen und ziehe die Kette nebst Schloss aus meinem Rucksack.
»Welchen?«, frage ich knapp und hoffe, dass Ben nicht merkt, wie nervös ich bin. Mit welchen meine ich natürlich den Baum, an den ich mich fesseln lassen werde.
»Wie wär's mit dem?«, schlägt Ben vor, und wenn mich meine Sachkunde-Kenntnisse nicht ganz täuschen, ist die Rede von einer Rotbuche. Ansonsten wird der Kanal von Erlen, Weiden, Feldahorn und Hainbuchen gesäumt. »Der Durchmesser darf ja nicht so groß sein, sonst passt die Kette nicht.« Ich stelle mich probehalber an den Stamm und muss an den Film Der Schuh des Manitu mit Bully Herbig denken. In ein paar Minuten werden Max und ich nebeneinanderstehen, an die Bäume gekettet, wie Abahachi und Ranger an den Marterpfahl, und ich werde mit der Gesamtsituation unzufrieden sein.
Aber was heißt ich werde? Ich bin es jetzt schon, denn da kommt Max. Blöd, dass ich noch keine Zeit hatte, Ben darüber zu informieren. Und umgekehrt.
Muss ich extra betonen, dass die zwei sich so abschätzend begutachten wie zwei Boxer im Ring?
Ben gewinnt als Erster die Fassung zurück: »Moin, Max. Cool, dass du auch mitmachst. Kettest du dich auch an?«
Max scheint die Uhrzeit auch zu schaffen zu machen, denn er verfällt prompt ins Bayerische: »Grüßt euch, ihr beiden«, sagt er und holt ebenfalls eine Kette aus seinem Rucksack.
»Na dann, stell du dich auch an den Baum. Ich werde jetzt probehalber die Schlösser schließen, und in wenigen Minuten müsste auch die Presse da sein.«
Ich versuche, eine möglichst bequeme Position zu finden, für den Fall, dass unser Sit-in (oder Tree-in) ein paar Stunden dauert. Weil die Baumrinde ein bisschen piekt, schiebe ich mir ein Kissen in den Rücken. Zum Glück ist die Kette lang genug, den Stamm, mich und das Kissen zu umfassen. Max scheint es da etwas schwerer zu haben, der Arme! Die Kette schneidet ihm in den Bauch – das wird er nicht lange durchhalten. Irgendwann muss man ja schließlich auch mal atmen!
Ich kann nicht behaupten, dass ich mich besonders wohlfühle, aber wenn's der Sache dienlich ist! Kurze Zeit später taucht das erste Fernseh-Team vom NDR auf. Sie filmen ein paar Takes vom Kanal, gehen dann in Großaufnahme auf unsere Gesichter, und eine nette Redakteurin stellt kluge Fragen.
Will später auch mal Journalistin werden!
Die Kamera geht ebenfalls auf das Schloss und dann auf mein T-Shirt. Bin ich froh, dass ich das noch bemalt habe!
»Tolles Outfit, übrigens«, lobt Max, während Ben sich um die Presse kümmert.
Mittlerweile sind auch die Damen und Herren von den Tageszeitungen eingetroffen. »Danke«, antworte ich und unterdrücke ein Kichern. Schon komisch, hier so Seite an Seite mit Max zu stehen, gefesselt an eine Rotbuche.
»Ich hätte den Schriftzug lieber in Rot gemacht, aber irgendwie ist mein Stift unter mysteriösen Umständen verschwunden. Wenn ich ehrlich bin, habe ich den Verdacht, dass Julia ihn eingesteckt hat!« Den letzten Teil sage ich nur, um zu sehen, wie Max auf den Namen Julia reagiert. Ob die beiden momentan noch Kontakt haben, auch wenn sie mehrere Kontinente entfernt urlaubt?
»Jjjulia, den Ststift eingesteckt?«, stottert Max unbeholfen.
Ich muss mich doch sehr wundern! Binnen Sekunden wird er knallrot, so rot wie der Stift, den ich vermisse. Häh? Gibt es irgendetwas, das ich wissen müsste?