Das Leben ist wie eine Pralinenschachtel – man weiß nie, was drin ist

Dann überschlagen sich die Ereignisse: die Lkws rücken an, und es dauert nicht lange, bis der eklige Typ von gestern vor mir steht und herumzetert. »Ich ruf die Polizei, wenn ihr euch nicht sofort vom Acker macht« ist noch eine der milderen Drohungen.

Das große Ganze möchte ich jetzt nicht wiederholen. Ich sage nur so viel: Der Mann ist ein Vollproll, wie er im Buche steht! Die Kameras halten auf ihn und seine Truppe, die sich vor uns aufbaut, als würden wir uns dadurch einschüchtern lassen. Pah! Wir doch nicht. Ich bemühe mich, das Schlottern meiner Knie und das Klappern meines Unterkiefers unter Kontrolle zu bekommen. Was nicht so einfach ist, denn nun steht der Vollproll direkt vor mir und haucht mir seinen ekligen Atem (eine Mischung aus Zigaretten, abgestandenem Kaffee und Mett-Zwiebelbrötchen) ins Gesicht, und, ehrlich gesagt, finde ich das fast schlimmer als die Aussicht, bei meinen Eltern verpetzt zu werden oder im Kittchen zu landen. Die Kameras (mittlerweile ist auch ein Team von RTL-Nord angerückt) gehen nun ganz auf mich und den Affen, der mich wüst beschimpft und ständig an meiner Kette herumfummelt.

»Pfoten weg!«, ruft Ben, als er sieht, dass ich mich vor Ekel winde.

Max sagt gar nichts, er sieht eher aus, als wünschte er sich nach Bayern zurück.

»Was heißt hier Pfoten weg? Wie sprichst du Würstchen denn mit mir?«, knurrt das Ekelpaket drohend und wendet sich nun Ben zu. Wenigstens sind die beiden ungefähr gleich groß. Von wegen Würstchen ...

»Lass deine Drecksfinger von Pamela, oder es setzt was. Mal ganz davon abgesehen, dass ich dann die Polizei hole.«

Wow, Ben verteidigt mich ja wie eine Löwin ihr Junges!

Der Bautruppführer tut so, als würde er sich totlachen. »Buhu, die Polizei. Gleich mach ich mir vor Angst in die Hose!« Seine Kumpels lachen auch, einer blöder als der andere. Vermutlich würden die das mit dem Fällen gar nicht hinkriegen, selbst wenn ich hier nicht angekettet wäre. Nun schnappt Ben sich ein Mikro und spricht in eine der Kameras: »Liebe Bürgerinnen und Bürger Hamburgs. Ich stehe hier zusammen mit zwei anderen Mitgliedern der Umweltinitiative ›Rettet den Isebekkanal‹, und wir versuchen, das Fällen gesunder Bäume zu verhindern. Doch die Stadt scheint unser Bürgerbegehren und die zahlreichen Unterschriften zu ignorieren, die vergangene Woche termingerecht von uns eingereicht wurden. Ich bitte Sie alle: Protestieren Sie bei der Stadtverwaltung! Setzen Sie sich gemeinsam mit uns dafür ein, dass die Gegend rund um den Kanal ein grünes Biotop für Pflanzen und Tiere aller Art bleiben kann. Und lassen Sie es nicht zu, dass Ihre Rechte als mündige Bürger mit Füßen getreten werden, nur weil ein paar Herren Geschäfte mit diesem Abschnitt des Kanals machen wollen!«

Vielleicht sollte Ben lieber Politiker werden als Journalist? Mittlerweile bleiben zahlreiche Passanten und Jogger stehen und verfolgen das Schauspiel. Als sie Bens Worte hören, stellen sich einige von ihnen ebenfalls schützend vor die Bäume. Müssen die nicht zur Arbeit?, denke ich verwirrt, aber eigentlich kann es mir ja egal sein. Sind alles erwachsene Menschen, die werden schon wissen, was sie tun. Eine halbe Stunde später sind es mindestens fünfzig Menschen, die sich strategisch so postieren, dass keiner der miesen Typen auch nur irgendetwas machen kann. Als die Polizei eintrifft, erkenne ich in den beiden Beamten zwei gute Bekannte: diejenigen, die zu uns kamen, als die mysteriösen Vorfälle am Bootshaus passierten. Okay, vor denen muss ich wohl keine Angst haben. Und ein Wasserwerfer (meine größte Sorge überhaupt) ist auch nicht in Sicht. Nebenbei bemerkt: Er käme auch gar nicht durch!

»Wir bitten Sie, die Fahrzeuge umgehend zu entfernen«, ordnet einer der Polizisten an, nachdem er zuvor telefoniert hat. Offenbar hat ihm jemand vom Bezirksamt gesagt, dass unsere Unterschriften termingerecht eingegangen sind und dass diese Aktion damit nicht legal ist. Das Ekel diskutiert noch eine Weile mit den Beamten herum, die auf einmal gar nicht mehr so freundlich sind. Erst recht nicht, als er einem von beiden vor die Füße spuckt. Ich glaube, das gibt eine gesalzene Geldstrafe wegen Beamtenbeleidigung, juhu!

Die Wagen und die Planierraupe fahren Richtung Weidenstieg, und Ben öffnet die beiden Schlösser – Max und ich sind wieder frei.

Im Gegensatz zu mir, die sich wie Bolle freut, ist Max weiß wie eine Wand. Erst recht, als er mit anhört, wie einer der Polizisten mich fragt, ob ich mittlerweile einen Verdacht habe, wer für die Schmierereien vor dem Bootshaus verantwortlich sein könnte. Ich sage wahrheitsgemäß, dass ich es nicht weiß, aber stark vermute, dass es einen Zusammenhang mit meinem Kampf für den Kanal gibt. Als sich die Menge aufgelöst hat und auch die Presse-Teams verschwunden sind (wir sind heute ab fünfzehn Uhr stündlich im Fernsehen!), nimmt Max mich zur Seite und flüstert mir ins Ohr, dass er mir dringend etwas sagen muss. Ben tritt dezent beiseite.

»Was ist denn los? Kann das nicht warten?«, frage ich leicht ungeduldig, denn ich würde jetzt viel lieber mit Ben feiern, als mich hier mit Max abzukaspern, der im Grunde kaum etwas zum heutigen Tag beigesteuert hat. Schreiben kann er ja, das muss man ihm lassen. Aber ein echter Kämpfer wird wohl nie aus ihm werden.

Max zieht mich hinter einen Baumstamm, und für eine Sekunde befürchte ich, dass er mich gleich küsst. Doch es kommt noch schlimmer.

»Ich weiß, wer die Drohung auf euren Gehweg geschrieben hat«, haucht er beinahe tonlos.

Meine Gedanken überschlagen sich. War es Ben? Oder Max selbst?

»Es war Julia ...«

Es dauert einen Moment, bis diese Information wirklich zu mir vordringt. Und dann machte es klick.

»Mit meinem Stift?«, frage ich leise, und Max nickt bekümmert.

Gleich raste ich aus! »Und woher weißt du das?«

»Weil ich sie dabei erwischt habe. Ihr wart beim Abendessen auf der Terrasse, das kann man ja vom Ufer aus sehen, und ich bin gerade vorbeigekommen, weil ich dir ...«

Nun red schon weiter, Mann. Weil du mir was?

»Einen Brief geben wollte.«

»Was für einen Brief? Was stand denn drin?«

Wortlos überreicht Max ihn mir. Na jetzt bin ich aber mal gespannt!

»Julia wird übrigens in Kalifornien bleiben, so wie es momentan aussieht. Ihr Vater hat dort einen Job bekommen.«

Ach ja?! Als was denn? Als Sekretär von Arnold Schwarzenegger?

»Sie hat mir gesimst, dass sie zum Ende der Ferien nur nochmal kurz hierherkommen werden, um ihre Koffer zu packen und die Verschiffung ihrer Sachen zu organisieren.«

Also dann: »Hasta la vista, Julia«, würde ich sagen. Da hast du nochmal Schwein gehabt. Keine Ahnung, was ich gemacht hätte, wenn du mir wieder in die Quere gekommen wärest. Aber eines würde ich doch gern wissen: »Wieso hat sie das denn gemacht? Was habe ich ihr denn bitte schön getan? Und vor allem, warum zieht sie meine Familie da mit rein?«

Max senkt den Kopf. »Sie war eifersüchtig auf dich. Sie wusste, dass ich in dich verliebt bin, was übrigens auch in meinem Brief steht, und es hat ihr gestunken, dass du die gesamte Aufmerksamkeit der Presse auf dich gezogen hast.«

Tja, schließlich hatte ich ja auch die meiste Arbeit damit!

Moment mal! Hat Max da eben gesagt, dass er in mich verliebt ist?

Und noch eine Frage: Wieso regt sich bei mir absolut gar nichts, als ich endlich, endlich die Worte höre, auf die ich seit Wochen warte? Wieso stehe ich hier und warte ungeduldig darauf, endlich mit Ben allein sein zu können?

»Aber wieso hast du dich in der Schule mir gegenüber so doof verhalten, nachdem wir uns geküsst haben?«, frage ich. »Und wieso hast du die ganze Zeit nie etwas gesagt und immer so gewirkt, als seist du in Julia verknallt?«

Max sieht immer noch so aus, als hätte ihm jemand eins mit der Pfanne übergebraten. »Weil ich mich nicht getraut habe. Ich habe immer auf ein Zeichen von dir gewartet. Aber du hattest ja nur Augen für Ben, seit der aufgetaucht ist. Und das mit Julia war kaum zu verhindern. Sie war hinter mir her wie der Teufel hinter der armen Seele. Eine echte Klette!«

Und du warst nicht Manns genug, zu deinen Gefühlen zu stehen und Julia in die Wüste zu schicken.

»Bist du jetzt mit Ben zusammen?«, fragt Max mit einem Gesichtsausdruck, der Steine erweichen könnte.

»Äh, nnnein, nnnatürlich nicht!«, sage ich im Brustton der Überzeugung, auch wenn mein Herz angesichts dieser Vorstellung wie wild durch die Gegend hüpft. »Aber ich wäre es gern«, flüstere ich, denn jetzt ist es Zeit für die Wahrheit!

»Dann wünsche ich dir viel Glück, ich glaube nämlich, er mag dich auch!«, sagt Max und packt seine Utensilien in den Rucksack. »Schöne Ferien noch euch beiden«, sagt er und entschwindet dann meinem Blickfeld.

Ich schaue ihm nachdenklich hinterher.

»Na, geheime Konferenz beendet?«, fragt Ben, und auf einmal – keine Ahnung wieso – habe ich unbändige Lust auf Schokolade.

Muss wohl die ganze Aufregung sein. Wie es aussieht, haben wir tatsächlich verhindert, dass die Bäume gefällt werden, und sind nachher Tagesthema in den Nachrichten. Zumindest in den lokalen.

»Magst du auch?«, fragt Ben und zieht einen Schokoriegel aus der Tasche, den er durch zwei teilt.

Ich lasse mir meine Hälfte genüsslich auf der Zunge zergehen, während mein Herz immer noch wild wummert.

Wir hatten zeitgleich Lust auf Schokolade!

Ben grinst, als wüsste er, was in mir vorgeht. Und dann zieht er mich an sich. Und ehe ich es mich versehe, küsst er mich. Und ich ihn. Immer und immer wieder. Um mich herum dreht sich alles, und ich höre das melodiöse Zilp-zalp-zelp des Vogels, dessen Lebensraum wir gerade gerettet haben.

Bens Küsse schmecken tausendmal besser als die von Max. Wie gut, dass ich jetzt eine Vergleichsmöglichkeit habe.

Das war mein erster Kuss au chocolat, denke ich grinsend, während Ben und ich dicht aneinandergeschmiegt das Ufer entlanggehen. Es ist Zeit zum Frühstück, und meine Family wird bestimmt nichts dagegen haben, wenn ich Ben mitbringe.

Schließlich sind wir jetzt Helden!