Ungläubige sind unrein.
Koran, 9 v.28
Nach meiner Bundeswehrzeit war ich wieder einmal zu Besuch in Israel. Meine Eltern hatten sich Urlaub genommen und beschlossen mit ihren Kindern für mehrere Wochen zu unseren Verwandten in Ashdod zu fahren. Es war ein ganz normaler Israel-Urlaub, wie ich ihn von klein auf kannte. Fast jeden Tag am Meer rumliegen, entspannen und hübsche Mädchen bestaunen. Den Abend in einem Videospielladen verbringen und ein- bis zweimal wöchentlich mit bis zu 35 Verwandten im Park grillen.
Bei einem dieser riesigen Picknicke, die meine Verwandten im Park vor dem Strand Ashdods organisiert hatten, traf ich nach vielen Jahren meine Tante Pnina, ihren Mann und ihre vier Kinder aus Holon wieder. Das letzte Mal hatte ich sie im Sommer 1988 gesehen, kurz bevor ich auf das Gymnasium wechselte. Meine Tante Pnina, die jüngere Schwester meines Vaters, hatte sich, so erzählte mir meine Mutter, vor einigen Jahren mit meinem Vater zerstritten. Was dazu führte, dass sie und ihre vier Kinder keinen Kontakt zu uns hielten. Mein Vater war anscheinend auch nie sonderlich daran interessiert gewesen nach Holon zu fahren, um sich mit ihr zu versöhnen, obwohl wir seit 1988 noch mehrere Male in Israel zu Besuch waren.
Als wir uns nun wiedersahen, hatten wir einiges zu erzählen. Ich hatte viel erlebt und interessierte mich brennend dafür, wie es ihr ergangen war. Natürlich erzählte ich ihr zuerst von meiner Freundin Janica. Dann erwähnte ich, dass ich in der Bundeswehr gedient und in einem Mahle-ähnlichen Bezirk namens Wedding meine Jugendjahre verbracht hatte. Meine Tante konnte nicht glauben, dass ich, obwohl ich in Deutschland lebte, fast nur Muslime in meinem Freundeskreis gehabt hatte.
Sie war ein wenig schockiert. Sie war eine sehr gläubige und traditionsbewusste Jüdin, woraus sie keinen Hehl machte. Sie gab sofort zu erkennen, wie es ihr missfiel, dass ich kaum eine Ahnung von unserer eigenen Kultur und Tradition hatte und mich stattdessen mit Muslimen herumtrieb. Ihrer Meinung nach hatte ich gar nicht das Recht, mich als Jude zu betrachten, wenn mich meine eigene Kultur und Religion nicht interessierten. Schlimmer sogar! Wenn ich mehr von der muslimischen als von der jüdischen Kultur verstand.
Irgendwie fühlte ich mich eingeschüchtert von diesen Vorwürfen. Das Lachen verging mir ziemlich schnell. Ich wusste, dass sie Recht hatte und konnte mich nicht mal verteidigen. Zum ersten Mal in meinem Leben sagte ein jüdischer Mensch, und nicht irgendjemand, sondern meine eigene Tante, zu mir, dass ich kein richtiger Jude sei und dass ich mich in keiner Hinsicht wie ein Jude verhalte. Dass es eine Schande sei, wie ich unserer eigenen jüdischen Geschichte gegenübertrat.
Ich versuchte mit ihr darüber zu diskutieren, warum ich an der Tradition nicht viel Interesse hatte. Die Tradition war schließlich ein Teil der Religion. Warum sollte ich zu Pessach für sieben Tage nur Mazzah essen, wenn ich eine vierzigjährige Wüstenwanderung beim Auszug der Hebräer aus Ägypten für sehr unwahrscheinlich hielt. Nicht im Entferntesten konnte ich mir vorstellen, dass Moshe bzw. Moses durch die Hilfe Gottes in der Lage war, das Meer zu teilen und sein Volk weiter ins Gelobte Land zu führen.
Meine Tante Pnina sagte, dass die zwei anderen monotheistischen Weltreligionen, der Islam und das Christentum, auf den Geschichten der Thora, dem heiligen Buch der Juden, aufgebaut seien und dass die Mehrheit der Menschen heutzutage einer dieser drei Religionen angehöre. Weil wir aber die Ersten waren und die Anderen ohnehin nur unsere Überlieferung kopiert hätten, hätten uns Christen und Muslime aus Neid so schlecht behandelt.
Ihr Hass, vor allem gegenüber ihren ehemaligen Mitmenschen im Iran, säße sehr tief, gestand sie. Sie könne sich überhaupt nicht vorstellen, jemals wieder eine andere Einstellung zu den fundamentalistischen Iranern zu haben, die die Existenz von Israel bedrohten. Um zu erklären, woher dieser Hass kam, erzählte sie mir zwei Geschichten. Eine hatte sie selbst erlebt, eine andere ein Verwandter.
Es geschah auf dem Wochenmarkt in Babol, der so ziemlich das Hauptereignis der Woche war, ein Treffpunkt für alle Baboli. Es gab dort Ware in Massen und preiswerter als in den kleinen Geschäften der Stadt. Dem Verwandten, der ja auch ein Verwandter von mir war, wurde eines dieser ungeschriebenen Gesetze, die sich gegen die freie Lebensentfaltung von Juden richteten, zum Verhängnis. Dieses Gesetz besagte, dass Juden auf dem Wochenmarkt jegliche Ware, insbesondere essbare Ware, nicht mit ihren Händen berühren durften, um zu testen, ob das Produkt denn gut sei oder nicht. Mit anderen Worten: Alle Bürger, außer Juden, durften Tomaten vor dem Kauf in die Hand nehmen, um zu prüfen, ob sie die richtige Reife hatten. Sie durften auch eine Tomate probieren, wenn sie die Absicht hatten, mehrere Kilo zu kaufen. Ein Jude aber hatte dieses Recht nicht, weil man ein Produkt, das von einem Juden angefasst wurde, nicht mehr verkaufen konnte. »Schiiten sehen in der Berührung des Ungläubigen (Nicht-Schiiten) einen Grund für Unreinheit«, sagte meine Tante.
Der Verwandte war vor vielen Jahren mit zwei seiner jüdischen Freunde auf dem Markt in Babol einkaufen. Alle waren Mitte 20. Sie traten an einen Marktstand heran, wo alle möglichen Käsesorten und mehrere Quarksorten angeboten wurden. Der Quark befand sich in Tontöpfen, die bis zu 20 Kilo fassten. Der Verwandte tippte den Quark in einem dieser Töpfe an der Oberfläche an und probierte ihn, um die Qualität zu testen. Er fand, dass der Quark gut war, und verlangte mehrere hundert Gramm. Der Händler wusste jedoch, dass es sich bei seiner Kundschaft um Juden handelte, und meinte, er würde ihm nicht nur mehrere hundert Gramm verkaufen, sondern der Jude habe sich mit dem Anfassen der Nahrung indirekt dazu verpflichtet den gesamten Inhalt des Topfes zu kaufen.
Der Topf war noch ziemlich voll. Es handelte sich um viele Kilo Quark, die natürlich auch ihren Preis hatten. Doch mein Verwandter und seine zwei Freunde hatten nicht genug Geld bei sich, um den ganzen Topf zu bezahlen. Als mein Verwandter dann sagte, er habe nicht genug Geld in der Tasche, um den Quark zu bezahlen, kam der Verkäufer zu dem Entschluss, dass er den Quark wegwerfen musste, weil ihn der Jude berührt hatte. Der Jude habe ihm also einen Riesenverlust beschert. Deshalb musste der Jude bestraft werden. Er griff sich ein Messer, stieß zu und tötete meinen Verwandten, ohne zu zögern.
Es klang so unglaublich, dass ich es nicht wahr haben wollte. Dann fragte ich andere Familienmitglieder, ob sie auch davon gehört hätten, und sie bestätigten die Geschichte. Am unglaublichsten war, dass der Quarkverkäufer, der den Mord begangen hatte, nicht bestraft wurde. Es war ja »illegal«, was der Jude getan hatte. Er hatte nur seine gerechte Strafe erhalten. Er büßte mit seinem Leben.
Das zweite Erlebnis betraf meine Tante persönlich. Auch diese Geschichte war so unfassbar, dass ich sie zuerst nicht glauben wollte. Mein Vater hatte mir nie davon erzählt. Ich wusste von seinen Problemen mit Schulkameraden in der Schule. Nie erwähnt hatte er jedoch, dass es auch Lehrer gab, die jede Gelegenheit nutzten, um ihren jüdischen Schülern ihren minderwertigen Status einzuhämmern. Man geht davon aus, dass Lehrer gebildete Menschen sind und wissen, was es für dumme Gerüchte gibt. Zum Beispiel, dass alles, was ein Jude anfasst, schmutzig wird bzw. Krankheiten überträgt. Man denkt, dass Lehrer anders handeln als bäuerliche Analphabeten, die keine Schule von innen gesehen hatten. Doch wie ich aus der Geschichte meiner Tante ersah, gab es auch ganz andere Lehrer, die keinen Deut besser waren als das ungebildete Volk.
Sie war noch ein kleines Mädchen. Ihre älteren Brüder Reza, Jacob und mein Vater Shlomo gingen schon zur Schule und waren nicht nur auf derselben Schule, sondern hatten auch dieselben Lehrer. Einen dieser Lehrer sah meine Tante täglich zweimal, öfter als mein Vater oder meine Onkel, die nur ein paar Mal in der Woche Unterricht bei ihm hatten. Dieser Lehrer musste auf seinem Weg zur Schule von der einen Seite der Stadt zur anderen. Dafür hätte er um das Mahle herumlaufen müssen, das relativ zentral lag. Statt diesen Umweg in Kauf zu nehmen, durchquerte er das Mahle. Das wäre jedoch noch nicht das Problem gewesen. Er besaß aber die Unverfrorenheit, statt um die Häuser im Ghetto herumzulaufen, auch dort den kürzesten Weg zu nehmen. Der führte durch ein etwas größeres, zentral gelegenes Haus. Das Haus meiner Großeltern.
In der Mauer des Mahle gab es zwei Tore. In der Mitte des Mahle standen mehrere Häuser nebeneinander. In der Mitte dieser Reihe wiederum befand sich das Haus meiner Großeltern. Es hatte als einziges zwei Türen. Eine Tür ging in Richtung des einen Ghettoeingangs, die andere in Richtung des anderen. Dieser Lehrer durchquerte jeden Tag, einmal am Morgen auf dem Weg zur Schule und einmal am Nachmittag auf dem Weg zurück nach Hause, das Haus meiner Großeltern, was an sich schon schwer vorstellbar ist. Er hatte aber auch überhaupt kein Problem damit, jeden Tag das kleine Mädchen, meine Tante Pnina, zu rufen, damit sie ihm an beiden Eingängen die Vorhänge zur Seite zog. Im Ghetto hatten viele Häuser keine Türen, sondern man hängte Vorhänge vor die Türöffnungen. Der Lehrer war nicht bereit, den Vorhang selbst zur Seite zu ziehen, denn dann hätte er ja die jüdische Wohnungseinrichtung anfassen müssen. Meine Tante musste es für ihn tun, ob sie wollte oder nicht, mehrere Jahre lang. Sie hatte Angst, dass ihre Brüder schlechte Noten bekämen oder womöglich von der Schule geworfen werden würden. So blieb es bei dieser täglichen Demütigung und dem täglichen »Pnina, komm und zieh den Vorhang zur Seite«. Über Jahre hinweg also half sie diesem schrecklichen Menschen jeden Tag dabei, unbehelligt durch das Haus fremder Leute zu stolzieren, und wagte kein Wort zu sagen.
Wie tief verletzt und gedemütigt würde ich mich fühlen, wenn mir das passiert wäre. Wie konnte ein Mensch das jahrelang einem kleinen Mädchen und seiner Familie antun? Nur damit er es täglich ein ganz kleines bisschen bequemer hatte. Nur um zwei Minuten zu sparen. Wie gut verstand ich den Hass meiner Tante. Vermutlich hatte sie mehrere Menschen dieser Sorte kennengelernt. Ich fragte mich, ob nicht auch ich nach solchen Erlebnissen alle Iraner über einen Kamm scheren würde, ein ganzes Volk, eine Rasse oder eine Religionsgemeinschaft in einen Topf werfen würde. Dabei war es ja genau das, was meinem Volk schon viel zu lange angetan wurde.