Tom steckte sein Schwert in die Scheide, rannte zu Elenna und half ihr, sich hinzusetzen.
„Wir müssen Silver zurückholen“, schluchzte sie. Als sie den verletzten Arm ausstreckte, um ihre Pfeile aufzusammeln, keuchte sie vor Schmerz.
Tom hielt sie an der Schulter fest. „Ich verspreche dir, dass wir Silver finden werden, aber zuerst muss ich nachsehen, was mit deinem Arm ist.“ Vorsichtig tastete er ihren verletzten Oberarm ab. Unter den Muskeln spürte er die zwei spitzen Enden eines gebrochenen Knochens.
„Bitte, tu etwas“, bat Elenna. „Es tut so wahnsinnig weh!“ Tränen strömten über ihre Wangen und ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz.
Tom nahm den grünen Juwel von seinem Gürtel, den er von dem geflügelten Hengst Skoro bekommen hatte. Er hielt den Juwel über die Verletzung und der Edelstein begann grün zu schimmern. Der Bruch verheilte innerhalb von Sekunden. Wenigstens ließ sie die Magie heute nicht im Stich.
„Vielen Dank“, sagte Elenna und streckte versuchsweise den Arm aus. „So ist es schon viel besser. Los, holen wir Silver zurück!“ Sie sprang auf und sammelte schnell ihre Pfeile auf.
Tom versorgte auch Storms Wunde, dann stiegen sie auf seinen Rücken und galoppierten los. Weit vor sich konnten sie den Angreifer auf seinem Pferd erkennen. Während sie ritten, warf Tom schnell einen Blick auf das Amulett. „Er reitet auf dem Weg, der auf der Karte eingezeichnet ist!“, rief er Elenna über die Schulter zu.
„Er will also auch zum Sumpf“, antwortete Elenna aufgeregt und zeigte nach vorn. „Wahrscheinlich hofft er, dass wir dort seine Spur verlieren.“
„Wir dürfen ihn nicht aus den Augen lassen!“ Tom ließ die Zügel knallen und Storm galoppierte schnell wie der Wind. Doch plötzlich ging die Sonne unter und sank wie ein Stein hinter den Horizont. Dunkelheit umgab sie und Kälte prickelte auf Toms Haut. Storm wieherte ängstlich und trat zögerlicher auf.
„Nein!“, schrie Elenna. „Wie sollen wir Silver jetzt finden?“
„Wir schaffen das schon“, beruhigte Tom seine Freundin, obwohl sein eigenes Herz vor Sorge schneller schlug. „Der Mann kann im Dunkeln auch nichts sehen. Er muss anhalten.“ Tom brachte Storm zum Stehen. „Sobald es wieder hell wird, reiten wir weiter. Aber jetzt sollten wir ein Nachtlager aufschlagen.“
Elenna seufzte und glitt zu Boden. Erschöpft griff sie in Storms Satteltasche und zog eine Trinkflasche und ein Stück getrocknetes Fleisch heraus. „Das ist kein Festmahl“, sagte sie betrübt. „Aber es ist alles, was wir haben. Wir müssen unbedingt bei Kräften bleiben.“
Tom stieg ab und nahm einen Schluck aus der Wasserflasche. Er fragte sich, ob der Mann mit der Augenklappe Silver etwas zu essen und zu trinken geben würde, doch er machte sich keine großen Hoffnungen.
Nachdem sie Storm getränkt und für die Nacht abgesattelt hatten, breiteten Tom und Elenna ihre Decken aus und legten sich schlafen. Die ganze Nacht hörte Tom, wie sich seine Freundin hin und her wälzte. Auch Storm war unruhig und stampfte immer wieder mit dem Huf auf den Boden.
Tom betrachtete die drei Monde von Kayonia. Plötzlich drang das entfernte Heulen eines Wolfs durch die nächtliche Stille. Elenna erwachte und sprang ruckartig auf. „Ist das Silver?“, fragte sie.
Tom schüttelte den Kopf. „Nein, das Heulen klingt nicht nach ihm.“
Elenna nickte bedrückt und legte sich wieder hin.
„Morgen finden wir ihn“, versprach Tom. Er schloss die Augen und versuchte zu schlafen. „Hoffentlich habe ich recht“, dachte er. Er wollte sein Versprechen nicht brechen müssen, vor allem nicht, wenn Silvers Leben davon abhing.
Als das erste Licht des Morgens am Himmel erschien, packten Elenna und Tom ihre Sachen zusammen, stiegen auf Storms Rücken und machten sich auf den Weg. Tom fragte sich, was der neue Tag bringen würde. Er wusste, dass sie zuerst Silver retten mussten, aber würden sie heute auch Modrik begegnen?
„Ich kann Silver nirgendwo sehen“, sagte Elenna und sah sich suchend um. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel und brannte auf sie hinunter.
Tom runzelte die Stirn. Er setzte sich ganz aufrecht hin und betrachtete den staubigen Weg, dem sie folgten. Da entdeckte er frische Hufabdrücke. Jeder Abdruck war von Rissen durchzogen.
„Schau auf den Boden!“, rief er über die Schulter. „Hier ist ein Pferd entlanggeritten – ein Pferd mit alten, abgenutzten Hufeisen.“ Tom erinnerte sich an das arme Pferd des Angreifers. „Silvers Entführer muss vor Kurzem hier gewesen sein.“ Er warf einen Blick auf die Karte auf der Rückseite des Amuletts. „Der Sumpf ist nicht mehr weit weg. Bestimmt will er dorthin.“
Der Weg wurde schon bald matschig und die Bäume am Wegesrand wichen struppigen Büschen. Sie hatten den Rand des Sumpfes erreicht. Aber von Silver und seinem Entführer fehlte jede Spur. Tom stieg ab und betrachtete den Sumpf. So etwas hatte er noch nie gesehen. Der Schlamm zu seinen Füßen schimmerte manchmal violett, manchmal grün. Im Sonnenschein wechselte er die Farbe wie Ölschlieren auf Wasser. Bunte Blasen in Rot- und Gelbtönen stiegen an die Oberfläche und zerplatzten dort mit einem dumpfen Plopp!
„Ich habe noch nie einen Regenbogensumpf gesehen“, sagte Elenna. „Glaubst du, wir können ihn sicher durchqueren?“
„Ich werde es herausfinden“, erwiderte Tom. Er zog seinen magischen Kompass aus Storms Satteltasche. Dieser würde ihm verraten, ob Gefahr oder Schicksal ihn erwarteten. Er hielt den Kompass in Richtung Sumpf und die Nadel schwenkte sofort zu Schicksal. „Wir gehen weiter“, sagte er zu Elenna. „Wir haben in Kayonia schon eine Eiswüste durchquert, gefährlicher kann ein Regenbogensumpf auch nicht sein.“
„Silver ist in großer Gefahr“, sagte Elenna mit brüchiger Stimme. „Wir müssen ihn finden.“
Tom blickte über den Sumpf. Elennas treuer Begleiter war irgendwo da draußen. Und Modrik. Tom wusste, dass er das Biest besiegen musste, um Velmals Zauber zu brechen. Der Sumpf lag verlassen da, nur ein einsamer Baumstamm ragte etwa siebzig Schritte entfernt aus dem Schlamm. Tom kniff die Augen zusammen. Der Baum war hoch genug, um von oben einen Blick über das ganze Sumpfgelände werfen zu können. Vielleicht würden sie Silver von dort aus entdecken – oder sogar Modrik.
Er drehte sich zu Elenna um. „Wir sollten zu dem Baum dort vorne gehen“, sagte er und erzählte ihr schnell von seinem Plan. Seine Freundin nickte zustimmend.
Tom band Storm am Rand des Sumpfes fest. „Bleib hier“, sagte er zu ihm und klopfte seinem Hengst die Flanke. „Ich bin bald wieder zurück.“ Elenna und er suchten sich einen Weg durch den Matsch, aus dem hier und dort Steine ragten. Tom bemerkte ein paar Aale, die sich durch das schlammige Wasser schlängelten und eine rot schillernde Spur hinterließen. „Ich frage mich, was für Kreaturen sich sonst noch in diesem Sumpf verstecken“, murmelte er.
Plötzlich spürte er, wie sich etwas zwischen seinen Beinen durchschlängelte.
„Pass auf!“, rief Elenna, als sich eine glänzende Schlange um sein Bein wickelte. Urplötzlich war sie aus der Tiefe des Sumpfes aufgetaucht.
„Nein!“, schrie er verzweifelt, als sich der Schlangenkörper immer fester um ihn wand. Aber es war zu spät. Die Schlange riss bedrohlich das Maul auf und entblößte ihre spitzen Zähne, von denen tödliches Gift heruntertropfte.