Während Alex in die Pedale trat, um nach einem wirklich langen Arbeitstag endlich nach Hause zu kommen, spürte er Ärger in sich aufwallen. So eine blöde Idee wie von dieser Frau, deren Namen er schon wieder vergessen hatte, hatte er lange nicht mehr gehört. Undercover. Sie waren doch hier nicht in Hollywood oder bei den Hells Angels. Er musste einem Auto ausweichen, das aus einer Einfahrt schoss. Gott sei Dank war noch kein Eis auf den Straßen, denn dann wäre er definitiv gestürzt. Er verstärkte seinen Griff um den Lenker, der trotz der Handschuhe eine eisige Kälte ausstrahlte. Wenn es weiter so kalt blieb, würde er über kurz oder lang auf die U-Bahn umsteigen müssen.
Offenbar hatten Inka und vor allem Lukas die Ermittlungen bei den ganzen Adeligen mit ihrer Trampeligkeit in den Sand gesetzt. Schlimmer noch war aber dieses devote Verhalten von Michael. Er hatte keine Ahnung, was mit seinem Chef passiert war, aber in den letzten Wochen erschien er irgendwie … weichgespült. Doch morgen früh würde er das Ganze überschlafen haben und feststellen, wie dumm die Idee eigentlich war.
Alex zog seinen Schlüsselbund aus der Jackentasche und schloss die Tür auf. Glücklicherweise war der Aufzug schon im Erdgeschoss, und das übliche Gewürge, um das Fahrrad in den zu kleinen Lift zu quetschen, lief heute auch erstaunlich reibungslos. Blieb nur die Frage, was er heute Abend essen sollte, denn der eigentliche Plan war ja gewesen, sich beim Kochkurs den Bauch genussvoll vollzuschlagen, für den es jetzt allerdings zu spät war.
Noch während Alex sich aus dem Fahrstuhl schob, um dann das Rad vorsichtig wieder in die Waagerechte zu bringen und das Vorderrad gerade zu stellen, hörte er die gegenüberliegende Tür aufgehen. Auch das Surren der Räder des Rollstuhls war nicht zu überhören, doch Alex gab sich große Mühe, nicht den Kopf zu wenden, um das Unvermeidliche wenigstens ein paar Sekunden hinauszuzögern.
Frau Wolf nahm jedoch keine Rücksicht auf seine Pläne.
»Wolltest du heute nicht zum Kochkurs? War ja ein kurzes Vergnügen!«, sagte sie mit lauerndem Unterton in der Stimme.
Alex war weiter mit der Befreiung seines Fahrrades beschäftigt, das sich jetzt ungünstigerweise ein wenig verkeilt hatte. Er presste die Lippen zusammen, schließlich war absolut klar, was jetzt kommen musste.
»Sag bloß, du warst nicht da. Alexander, du hast es versprochen. Ich hab Susa mein Wort gegeben, dass ich deine Bemühungen überwache. Es geht nicht, dass …«
»Ich musste länger arbeiten«, unterbrach er sie unwirsch. Endlich machte das Rad einen Ruck und war draußen. Er stellte sich vor Frau Wolf und atmete geräuschvoll aus, bevor er fortfuhr: »Stress im Schloss, sozusagen. Kann ich jetzt bitte vorbei? Ich muss duschen und bin müde.«
Frau Wolf sah ihn prüfend an, dann huschte ein Grinsen über ihr Gesicht. »Ich geb dir zwanzig Minuten, dann ist das Gulasch aufgewärmt. Du hast doch noch nichts gegessen heute, oder?«, sagte sie, während sie sich bereits umdrehte und in ihre Wohnung zurückrollte. »Zwanzig Minuten, beeil dich!«
Ein warmes Gefühl breitete sich in Alex’ Magengrube aus. Man konnte von Frau Wolf denken, was man wollte, aber sie hatte unleugbar eine überaus fürsorgliche Ader, und ihr Gulasch war göttlich. Er musste sich beeilen, schließlich wollte er auch noch Susa anrufen und erfahren, wie es ihr jetzt ging. Hoffentlich besser. Es war kein gutes Gefühl, für ihr Unwohlsein mit verantwortlich, aber so weit weg von ihr zu sein, dass er ihr nicht helfen konnte.
Zweiundzwanzig Minuten später stand er frisch geduscht vor Frau Wolfs Tür und klingelte. Offenbar hatte sie dahinter gewartet, denn sie öffnete sofort.
»Du bist zu spät.« Ihr Ton war anklagend und ihr Blick, bevor sie den Rollstuhl wendete, drückte ihre ganze Missbilligung aus, doch der Geruch, der Alex aus der Küche in die Nase stieg, machte all ihren Unwillen wieder wett.
Und das Essen war wirklich fantastisch. Nach zweieinhalb Portionen fühlte Alex sich pappsatt, aber auch glücklich. Sogar die Tatsache, dass Susa sich immer noch unwohl fühlte, bedrückte ihn ein kleines bisschen weniger. Das Gespräch plätscherte ein wenig vor sich hin, bis das Vanilleeis mit heißen Kirschen, das Frau Wolf zum Nachtisch serviert hatte, vertilgt war.
»Also Butter bei die Fische, Alexander. Warum hast du es nicht zum Kochkurs geschafft? Was soll ‚Stress im Schloss‘ bedeuten?«, fragte sie ein wenig atemlos.
»Frau Wolf, Sie wissen doch, dass ich zu Verschwiegenheit verpflichtet …«
»Ja, ja, papperlapapp, nun sag schon, ich verrat’s auch keinem, Alexander.«
»Das ist Ihre Strategie, Frau Wolf, stimmt’s? Erst füllen Sie mich mit gutem Essen ab, dann entlocken Sie mir wollüstig dienstliche Informationen, ist es nicht so? Sie gerissenes Weib! Apropos: Was ist mit Ihrer Einkaufsliste? Sie brauchen doch bestimmt mal wieder was, oder?«
Doch Frau Wolf wischte seine Bemerkung mit einer Handbewegung beiseite. »Darüber reden wir später. Also: Was war los?«
Und schon begann er zu erzählen: von der zu kurz geratenen Frau mit den wirren Haaren, von dem ungeklärten Verschwinden ihres Vaters, von den missglückten Ermittlungen. Natürlich ließ er Namen und nähere Angaben weg, aber Frau Wolf war auch so schon Feuer und Flamme.
»Ein Adeliger, sagst du? Das ist aber spannend«, frohlockte sie mit roten Backen.
»Frau Wolf, ich muss nicht extra betonen, dass das Ganze selbstverständlich unter uns bleibt. Es ist schon beschämend genug, dass der Chef ernsthaft über einen Undercover-Einsatz im Schloss nachdenkt. Wie soll denn das gehen? Diese hochnäsigen Typen mit ihrem Standesdünkel. Ich dachte, die kennen sich alle untereinander?«
»Selbstverständlich, die stehen alle im Gotha. Das ist das Genealogische Handbuch des Adels, das festlegt, wer zum Adel gehört und welchen Rang er einnimmt, obwohl der Adelsstand eigentlich seit 1919 abgeschafft ist. Aber ich würde keine Sekunde zögern, wenn man mir das Angebot machte, undercover in der Adelswelt zu ermitteln. So eine Chance bekommst du doch nie wieder, so dicht an den Adel ranzukommen. Es wundert mich nicht, dass deine beiden Kollegen nicht erfolgreich waren. Was glaubst du, wie enorm der Zusammenhalt in den adeligen Familien ist? Die haben ihren Stand, der eigentlich schon fast ein Jahrhundert abgeschafft ist, nur deshalb über die Zeit retten und diese Faszination aufbauen können. Da gelten Traditionen und Werte noch etwas. Ohne Geheimnisse keine Spannung, verstehst du?«
»Ach, Sie sind da also Expertin? Woher kennen Sie sich denn so gut mit der Adelswelt aus? Haben Sie mir irgendwas verschwiegen?«
Frau Wolfs Gesicht lief jetzt richtig rot an. »Auch ich war mal jung, Alexander. Meinst du, ich hatte kein Liebesleben? Und außerdem gibt es ja die Klatschblätter«, brachte sie äußerst würdevoll hervor.
»Sie hatten ein Techtelmechtel mit einem Adeligen? Warum sind Sie dann jetzt nicht Frau von und zu? Woran ist es gescheitert?« Alex konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Er konnte sich nicht erinnern, Frau Wolf schon einmal verlegen erlebt zu haben.
»Hausgesetze, Alexander. In diesen Kreisen ist es bis heute schwierig, seinem Herzen zu folgen, wenn du verstehst. Wenn man da nicht ebenbürtig heiratet, verliert man Vieles. In meinem Fall wäre er nicht Hauschef geworden, was ihm durch seine Geburt zustand. Das wäre nicht fair gewesen. Adel bedeutet immer noch, die Sache über die Person zu stellen. Man heiratet seinesgleichen und sorgt für Kinderreichtum.«
Überrascht sah Alex Frau Wolf an. Sie sah wehmütig auf den Teekessel, der auf dem Herd einsam vor sich hin simmerte.
»Na ja, genug von mir. Es ist spät. Du musst morgen früh raus. Aber versprich mir, dass du den nächsten Kochkurstermin nicht schwänzt. Wenn du Vater bist, musst du kochen können«, sagte Frau Wolf, während sie sich daran machte, die Reste mit Frischhaltefolie abzudecken und im Kühlschrank zu verstauen.
»Ich hab nicht geschwänzt.« Alex fing an, die schmutzigen Teller in den Geschirrspüler zu räumen. »Es war eine höhere Macht, die mich davon abgehalten hat.«
»Dann hoffe ich für Susa und die Welt, dass die Macht dich nächste Woche in Ruhe lässt.«
Am nächsten Morgen war Alex schon früh unterwegs. Er war beschwingt, auch wenn sich sein Gesicht so anfühlte, als wäre der kalte Wind mit Nadeln gespickt. Susa ging es etwas besser, auch wenn sie sich heute noch krankmelden wollte, und er war gut aus dem Bett gekommen und genoss das Gleiten durch den noch halbwegs ruhigen Berliner Verkehr.
Als er das Büro betrat, war es zu seiner Erleichterung noch leer. Kathleen hatte wahrscheinlich noch damit zu tun, ihren Sohn rechtzeitig aus dem Haus zu bekommen und sich selbst in arbeitsfähigen Zustand zu bringen. Nur Lukas tendierte in letzter Zeit dazu, früher im Büro aufzukreuzen. Sehr zu Alex’ Ärger, der die stille Zeit am Morgen, wo einen keiner störte und man daher viel Arbeit wegschaffen konnte, zu genießen gelernt hatte.
Er schaltete seinen Computer an, hängte seine Jacke über die Stuhllehne und stopfte Handschuhe und Schal in den Ärmel. Dann stutzte er. Moment mal, wieso hing Lukas’ Jacke dort? Dann musste er doch schon da sein, doch sein Computer war noch nicht eingeschaltet, und sonst war auch keine Spur von ihm zu sehen. Vielleicht hatte er sie gestern hier vergessen. War ja egal, Hauptsache, er war nicht hier. Alex musste zugeben, dass er immer noch seine Probleme mit Lukas hatte. Diese latente Aggression, die er ausstrahlte, ging ihm gehörig auf die Nerven.
Er zuckte mit den Schultern und machte sich auf den Weg zur Kaffeemaschine, die ein paar Räume weiter stand. Auch dort war es zu dieser frühen Stunde gewöhnlich noch angenehm leer, allerdings war das heute anders. Mehrere Leute drängten sich in dem Zimmer, und an dem erhöhten Geräuschpegel bemerkte Alex, dass offensichtlich eine aufgeregte Diskussion im Gange war. Bevor ihn jemand sehen konnte, trat er eilig den Rückzug an. Für so etwas fühlte er sich heute Morgen dann doch noch nicht frisch genug. Zumindest wäre damit geklärt, wo Lukas steckte.
Wieder im Büro zog er leise die Tür hinter sich zu. Es schien so, als wäre sein Erscheinen unbemerkt geblieben. Dann musste der Kaffee eben warten, und er würde erst ein bisschen Papierkram hier erledigen, bevor ihn die kalte Wucht der Realität traf. Er setzte sich auf seinen Bürostuhl und kramte in seinem Schränkchen. Irgendwo musste er noch eine angefangene Colaflasche haben. Ein bisschen Koffein musste um die Zeit einfach sein.
Eine gute Dreiviertelstunde später war auch Kathleen eingetroffen, und ein erstaunlich gut gelaunter Lukas war in der Tür erschienen und hatte sie in den Besprechungsraum gerufen.
»Worum geht’s denn?«, fragte Kathleen und verstaute schnell ihre Tasche unter ihrem Tisch.
»Nun wartet doch ab. Geht ja gleich los, die große Micha-Show.« Und damit war Lukas auch schon wieder verschwunden.
Kathleen und Alex sahen sich stirnrunzelnd an und folgten ihm dann.
»Meinst du, es geht immer noch um diese Adelssache?«, fragte Kathleen, während sie den Gang hinunterliefen.
Alex zuckte die Achseln. »Wir werden sehen. Hattest du noch einen netten Abend?«
Mit zusammengekniffenen Augen sah sie ihn an. »Was soll das denn heißen? Du hast zufällig mitbekommen, wie spät es gestern war und dass ich alleinerziehende Mutter bin? Was glaubst du wohl, habe ich gestern noch gemacht? Mir die Kante gegeben und Polka getanzt, oder was?«
»Entschuldigung, ich wollte nur ein bisschen Konversation machen«, gab er beleidigt zurück. Meine Güte! Eine nett gemeinte Frage und dann gleich so ein Donnerwetter am Morgen. Das ließ auf einen tollen Tag hoffen, wenn ihre Laune weiter so gut blieb.
Im Besprechungsraum herrschte ein ähnliches Bild wie vorhin vor der Kaffeemaschine. Dabei fiel Alex ein, dass er ja noch immer keinen Kaffee gehabt hatte. Ob er jetzt noch schnell …? Nein, es waren sonst schon alle da, und Michael Varenke bedeutete ihnen, sich zu setzen. Also musste der Kaffee noch eine Weile warten.
»Guten Morgen, liebe Kollegen! Ich hoffe, ihr hattet noch einen schönen Abend«, begann Varenke betont gut gelaunt.
Alex sah mit hochgezogenen Brauen zu Kathleen hinüber, die ihm gegenüber Platz genommen hatte. Da konnte sie mal sehen, dass eine freundliche Konversation über den vorangegangenen Abend eine durchaus verbreitete Sache war, die nicht erforderte, das Gegenüber niederzumachen. Aber Kathleen sah angestrengt nach vorn und beachtete ihn gar nicht.
»Ihr wisst ja sicher noch, worüber wir gestern geredet haben. Ich habe mich ein wenig schlau gemacht und umgehört und bin zu dem Schluss gekommen, dass wir es so machen werden: Wir ermitteln undercover.«
»Was? Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«, entfuhr es Alex, doch seine Äußerung ging im tosenden Applaus seiner Kollegen unter. Das war es also, was sie im Kaffeeraum besprochen hatten, aber das hieß auch, dass wahrscheinlich keiner der begeistert Klatschenden das Pech hatte, für den Job ausgewählt worden zu sein.
Varenke strahlte. »Bleibt nur noch die Frage, wer dafür am besten geeignet ist. Vorschläge?«
»Unser Traumpaar Alexander und Kathleen«, sagte Lukas sofort grinsend. Alle Augen richteten sich auf sie.
»Das ist doch ein abgekartetes Spiel. Ihr habt euch doch schon vorher darauf eingeschossen, uns die Arschkarte zuzuschieben. Wie soll denn das gehen? Schon mal davon gehört, dass die auf Stammbäume gucken und sich alle gegenseitig kennen? Die haben Bücher, in denen alle Adeligen verzeichnet sind. Da kann keiner kommen und sagen: Voilá, hier sind wir. Wir gehören zu euch«, empörte sich Alex. Er warf einen schnellen Blick zu Kathleen. Sie war bleich geworden und presste die Lippen aufeinander. Verdammt, warum bekam sie nicht auch mal den Mund auf, wenn es darauf ankam? Sie hingen da schließlich beide mit drin. Und die Erfolgschancen waren nach dem zünftigen Scheitern von Inka und Lukas minimal. Wer würde wohl den Ärger bekommen, wenn auch dieser Versuch scheiterte?
»Das ist ein sehr guter Vorschlag, Lukas. Dann machen wir es so. Wir werden gleich mit der Vorbereitung beginnen. Frau von Keitenburg kommt nachher vorbei und erarbeitet mit euch eine passende Legende. Wunderbar. Alle wieder an die Arbeit!«, frohlockte Varenke und schob sich begeistert die randlose Brille hoch.
Alex blieb sitzen und starrte auf den Tisch. Der Morgen hatte doch so gut begonnen, und nun das …
»Ist nicht gegen euch gerichtet, aber wer hat schon Lust, sich das ans Bein zu binden … und ihr wart die Einzigen, die vorhin in der Kaffeeküche nicht da waren. Nichts für ungut, Kleiner«, sagte sein Kollege Frank Dietzenbacher mit mitleidigem Lächeln auf den Lippen, als er rausging.
»Das wird bestimmt eine lustige Erfahrung«, meinte Inka, als sie an Alex’ Platz vorbeikam. »Nicht böse gemeint, aber du kannst dir denken, dass alle froh waren, dass der Kelch an ihnen vorübergegangen ist, als der Vorschlag von Lukas kam, euch zu nehmen.«
»Schon klar.« Alex fühlte plötzlich eine überwältigende Müdigkeit. »Wäre mir sicher genauso gegangen.« Innerlich aber hätte er sich ohrfeigen können. Wäre er doch vorhin nur zum Kaffeeholen gegangen …