4. Kapitel

Eine halbe Stunde später saßen sie immer noch im Besprechungsraum. Genauer gesagt saßen Alex und Kathleen da und warteten, während Michael Varenke etwas entfernt auf und ab ging und in sein Handy flüsterte.

»Was für ein Misttag, und dabei hatte er so gut begonnen«, raunte Alex ihr zu.

»Ist doch klar, dass Lukas sich freut, den Blödsinn loszuwerden, und du weißt genau, dass es Michaels Lieblingshobby ist, mir Misthaufen auf den Weg zu kübeln. Vor allem, mal ehrlich: Sehe ich aus wie eine feine Society-Lady? Ich weiß nicht, wie er sich das vorstellt, dass wir da nicht auffliegen. Und müssen wir dann da wohnen? Was soll ich denn mit Mattis machen?«

»Dann muss er halt mal ein paar Tage zu seinem Vater. Muss ja auch mal gehen«, meinte Alex und fragte sich, was er mit Susa machen sollte. Eigentlich hatte er vorgehabt, für ein paar Tage hinzufahren, um mit ihr gemeinsam zu überlegen, wie es mit ihnen und der gesamten Situation weitergehen sollte, wenn das Baby erst da war, aber das konnte er jetzt erst mal vergessen.

»Mit wem redet der denn da so lange?«, fragte Kathleen. »Ich hab noch nicht gefrühstückt. Hör mal, wie mein Magen knurrt.«

In dem Moment beendete Michael Varenke sein Gespräch. »Diese Blutsauger, Unverschämtheit!«, schimpfte er vor sich hin, während er einen Stuhl heranzog und sich vor die beiden Kommissare setzte. »Es ist eine Art Erpresserbrief aufgetaucht. Er wird gerade untersucht. Dummerweise ist er aber, bevor er zu uns kam, in die Hände der Presse gefallen. Es scheint eine undichte Stelle in der Anwaltskanzlei von Keitenburg zu geben. Die waren nämlich Empfänger des Schreibens. Ihr könnt euch denken, was das heißt. Aber irgendwo muss der Typ ja sein. Zumindest seine Leiche.«

Er verstummte abrupt, als die Tür aufging und die kleine Adelige mit den wilden Haaren in den Raum trat. »Gehen Sie davon aus, dass mein Vater bereits tot ist, Herr Varenke?«, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen.

»Nein, nein, natürlich nicht, schließlich ist ja gerade erst ein Erpresserbrief aufgetaucht, aber ausschließen können wir das natürlich erst, wenn er gesund und munter wieder da ist«, stammelte er. Dann fuhr er fort: »Das sind die beiden Kollegen, die sich bereit erklärt haben, den Undercover-Einsatz durchzuführen.«

Der kleine Körper straffte sich, sodass der Haarknoten wackelte, dann wandte sie sich Alex und Kathleen zu. »Das freut mich sehr. Wenn es Ihnen passt, fange ich am besten direkt damit an, Sie mit den Gepflogenheiten der Adelswelt vertraut zu machen, damit kein weiterer Fauxpas wie bei Ihren Kollegen die Nachforschungen unterbricht. Wo kann ich meinen Mantel unterbringen?« Ihr Blick war klar und intensiv. Alex spürte Gänsehaut auf seinen Unterarmen. Irgendwie fühlte es sich an, als würde sie bis auf den Grund seiner Seele blicken.

»Aber wie soll denn das gehen? Wir sind nicht adelig, und diese ganzen Manieren und Umgangsformen sind uns fremd. Und vor allem: Wir stehen nicht in diesem Adelsverzeichnis, diesem … diesem …«, platzte Alex heraus. Er warf einen kurzen Seitenblick auf Kathleen. Sie sagte keinen Ton. Diese zeitweise Verschlossenheit, in die sie immer wieder flüchtete, machte ihn nervös.

»Gotha Almanach«, ergänzte Frau von Keitenburg gelassen. »Da habe ich bereits eine Lösung gefunden, und was das andere angeht: Ein bisschen Übung, ein bisschen Konzentration und das Ganze läuft. Machen Sie sich keine Sorgen. Zwei Tage und Sie sind fit fürs Schloss, um es mal etwas überspitzt zu sagen.« Ihre Augen blitzten unternehmungslustig. Es sah wirklich so aus, als hätte sie Freude daran, ihre adeligen Kumpane mit den zwei Fälschungen zu foppen.

»Wunderbar, wunderbar, ich lasse Sie dann mal alleine. Wenn es etwas Neues wegen des Briefs gibt, lasse ich es Sie wissen.« Mit einem Grinsen verließ Michael Varenke den Raum.

»Dann wollen wir mal loslegen. Fürs Protokoll: Mein Name ist Jasmin, und wir duzen uns. Und ihr seid Alexander und Kathleen? Sehr hübscher Name übrigens.« Jasmin von Keitenburg machte es sich auf einem Stuhl, den sie ganz nahe heranzog, gemütlich. »Sprechen wir zuerst über die Möglichkeit, euch einzuschleusen. Ja, es stimmt, dass alle Mitglieder des Adels im Gotha verzeichnet sind. Und die Krux dabei ist, dass der Gotha auch bei so gut wie jedem Treffen von Adeligen konsultiert wird. Und es ist schlecht, wenn eine Linie im Mannesstamm erloschen ist. Wir müssen also eine Möglichkeit finden, euch als jemanden auszugeben, der dort gelistet ist, den aber niemand hier wirklich kennt. Und ich habe eine Lücke gefunden: Tadaaa – willkommen Oscar und Emilia von Uten.«

Alex runzelte die Stirn. Das Ganze hier hatte etwas erschreckend Unwirkliches. Er war zur Polizei gegangen, um Verbrecher zu überführen, um stark zu sein und um für Recht und Ordnung zu kämpfen. Und jetzt saß er hier, bekam einen albernen Namen verpasst und musste lernen, sich wie jemand zu benehmen, der einen Stock im Hintern hatte.

»Wie bitte?«, fragte er und bemühte sich, so viel Unwillen wie möglich in seine Stimme fließen zu lassen.

»Oscar und Emilia von Uten. Sie sind mit ihren Eltern als Babys nach Südamerika ausgewandert, und niemand hat sie seither gesehen. Sie haben nirgendwo debütiert oder Ähnliches. Ihr Alter ist auch in etwa so wie eures. Eine wundervolle Möglichkeit also, euch als Geschwisterpaar, das endlich zu Besuch ins alte Europa kommt, einzuschleusen. Dummerweise bin ich mir nicht sicher, wohin genau sie gezogen sind, aber das werde ich bis zu eurem Einzug rausbekommen, versprochen. Dann müssen wir über eure Jobs reden. Viele Adelige arbeiten im Auswärtigen Amt, im Kunsthandel oder in einer Privatbank, und sie haben eigentlich auch viele Geschwister. Es muss also einen Grund geben, warum eure Eltern in dieser Hinsicht so verhalten waren. Auf der Fahrt zum Schloss stimmen wir noch einmal alles ab.« Sie grinste.

 

Bis zum späten Nachmittag saßen sie in dem Besprechungsraum, nur unterbrochen von einer schnellen Mittagspause in der Kantine, die Jasmin von Keitenburg aber ebenfalls nutzte, um ihnen Tischmanieren näherzubringen. Alex hatte sich bisher immer für relativ gesittet gehalten, doch ihm rauchte der Kopf von den strengen Regeln der Adelswelt. Zum Teil waren es Kleinigkeiten: Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass man niemals Toilette sagte, sondern die feinen Piefkes ausschließlich von Klos redeten, um nicht als spießig zu gelten. Oder dass man sich nie einen guten Appetit oder einen schönen Abend wünschte und andere Nickeligkeiten. Zum anderen waren es auch Sachen, die er bereits kannte, wie dass man immer zuerst das äußerste Besteck nahm und wie man manierlich trank.

Kathleen war den ganzen Tag äußerst schweigsam. Immer wieder warf Alex ihr einen Blick zu, aber es schien, als hätte sie sich in ein Schneckenhaus zurückgezogen und wollte möglichst wenig Kontakt zur Außenwelt. Irgendetwas belastete sie. Dann verschloss sie sich wie eine Auster. Hauptsache, sie fing sich zügig, denn mit so einer maulfaulen Kumpanin würde er keinen Blumentopf auf Schloss Keit gewinnen und schon gar keinen Fall gemeinsam lösen.

Nachdem sich Jasmin von Keitenburg für heute verabschiedet hatte, gingen Alex und Kathleen gemeinsam den Flur zum Büro hinunter.

Prüfend sah Alex sie an, dann stieß er ihr sanft mit dem Ellbogen in die Seite. »Hey, was ist los? Kann ich dir helfen?«

Verwirrt sah sie auf. »Wie? Ach nichts. Ich werd das schon schaffen«, murmelte sie.

»Hast du Angst?«

Ihr Blick verfinsterte sich. »Was glaubst du wohl? Meinst du, ich fühle mich bei der ganzen Sache in irgendeiner Weise wohl? Ich bin nicht das typische Weibchen, zurückhaltend und dienend. Schon als kleines Mädchen bin ich rumgetobt und hab mich mit den Jungs gekloppt. Meinst du, ich bin geeignet, als feines Fräulein herumzulaufen und so zu tun, als wäre ich mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden, während ich weiß, dass mein nerviger Ex die Zeit nutzen wird, um meinem Sohn wieder dämliche Flausen in den Kopf zu setzen? Ach, das ist doch Scheiße!«

Einen Augenblick liefen sie stumm weiter, bis sie ihr gemeinsames Büro erreicht hatten. Hoffentlich war wenigstens Lukas schon weg. Sein zufriedenes Grinsen wäre jetzt ideal geeignet, das Fass zum Überlaufen zu bringen. Sie hatten Glück: Der Raum war leer.

Als er die Tür geschlossen hatte, sagte Alex sanft: »Glaubst du, mir geht es anders? Ich hab total Schiss davor, dass das Ganze in die Hose geht, dass wir auffliegen, oder nichts rausbekommen und der Typ verschwunden bleibt. Aber wenn wir es nicht versuchen, haben wir gar nichts erreicht. Warum bist du Polizistin geworden? Du willst Unrecht ausmerzen, um dem Guten mehr Raum zu geben, oder nicht? Und deshalb müssen wir dort einziehen und unser Bestes geben. Und vielleicht läuft es ja besser als gedacht. Warum gibt sich Jasmin so viel Mühe mit uns? Weil sie hofft, dass wir so ihren Vater finden. Gib uns eine Chance, Kathleen.« Er hatte ruhig gesprochen, beruhigend, obwohl es in seinem Inneren ganz und gar nicht ruhig war, doch wenn er Kathleen beschwichtigen wollte, musste er Gelassenheit ausstrahlen.

Mit einem Seufzer ließ sie sich auf ihren Stuhl sinken und verbarg das Gesicht auf den Armen. Leise ging Alex zu seinem Platz und griff nach der Akte, die jemand dorthin gelegt hatte. Es war ihr Fall. Schnell blätterte er nach hinten, aber von dem Brief war noch nichts zu sehen. Wahrscheinlich wurde er noch analysiert. Er setzte sich und begann zu lesen. Schnell zog die Zusammenfassung des Geschehens ihn in den Bann, sodass er erschreckt zusammenfuhr, als Kathleen plötzlich aufblickte und mit fester Stimme sagte: »Also gut, geben wir unser Bestes. Was hast du da?«

»Offenbar ist er mitten in der Nacht verschwunden. Von einem Fest. Jeder unterhielt sich, trank Wein und Sekt, lauschte der Musik oder tanzte, und plötzlich stellt einer fest, dass er weg ist. Alle machen sich auf die Suche, aber keine Spur von ihm. Außer einem Stück ausgerissenen Hemdstoff und ein paar Blutspritzern weiter weg. Außerdem ein paar Schleif- und Fußspuren. Allerdings sah es so aus, als wären nur ein paar Schuhe unterwegs gewesen. Also entweder tragen die alle die gleichen Latschen oder er wurde weggetragen oder – ein ganz verwegener Gedanke – er ist abgehauen und wollte das Ganze ein wenig dramatischer gestalten. Was zugegebenermaßen relativ unwahrscheinlich ist. Hier, willst du die Fotos sehen?« Er reichte ihr die Akte über den Tisch und stützte den Kopf auf die Hände. Draußen dämmerte es bereits. Ein Blick auf die Uhr ließ ihn aufschrecken. »Himmel, hast du mal auf die Uhr gesehen? Was ist denn heute mit Mattis? Und ich hab Frau Wolf versprochen, dass ich noch einkaufen fahre.«

»Shit!«, war alles, was Kathleen sagte, während sie sich ihre Jacke schnappte und nach draußen spurtete. »Wir sehen uns morgen. Mach’s gut!«