Es war sibirisch kalt, als Alex endlich nach draußen trat und sein Fahrrad abschloss. Obwohl er dick eingepackt war, spürte er die Kälte in allen Poren. Er hatte sich einen Kopfhörerstecker ins linke Ohr gesteckt, um bei der Rückfahrt mit Susa reden zu können. Den ganzen Tag war er nicht dazu gekommen, mit ihr zu sprechen, sodass sie auch noch nichts von dem neuen Fall wusste. Wahrscheinlich würde sie sich über die Vorstellung kaputtlachen, dass er sich als Adeliger ausgeben musste. Vorausgesetzt natürlich, dass es ihr endlich besser ging. Er schwang sich aufs Fahrrad und trat los, während er mit der linken Hand schnell Susas Nummer antippte und dann das Handy in die Jackentasche sinken ließ, um die Hände zum Fahren frei zu haben. Es klingelte viermal. Alex wollte schon auflegen, als doch endlich jemand abnahm.
»Ja?« Es war nicht Susa, aber die Stimme kam ihm merkwürdig bekannt vor.
»Äh, ist das nicht die Nummer von Susa …«, fragte er zögerlich.
»Sag mal, Alexander, erkennst du jetzt die Stimme deiner Mutter nicht mehr, oder was?«
»Oh … doch, natürlich. Ich hab nur nicht damit gerechnet, dich zu sprechen, wenn ich eigentlich Susa anrufen will. Wahrscheinlich hab ich in der Eile die falsche Nummer gedrückt«, stammelte er verlegen.
»Nein, nein, ist schon richtig. Ich bin gerade bei ihr, und sie hat mich gebeten, kurz ranzugehen, weil sie schon wieder am Kotzen ist.«
»Das heißt, ihr geht’s immer noch nicht gut? Mist!«
»Hör mal, Schätzchen, so ist das eben, wenn man jemanden schwängert. Viele Frauen haben Probleme mit Übelkeit in den ersten Wochen.« Jetzt senkte sie ihre Stimme zu einem Flüstern. »Aber machen wir uns nichts vor, danach kommen andere Dinge: Blähungen, Sodbrennen, Hämorrhoiden. Unter uns gesagt, wird es nicht viel besser. Und wenn das Kind erst mal da ist, dann ist das normale Leben für eine Weile vorbei. Apropos, habt ihr schon darüber gesprochen, wo ihr wohnen wollt und wann du wiederkommst?«
Dieses Gesprächsthema passte Alex jetzt überhaupt nicht in den Kram. Er bremste vor einer roten Ampel scharf ab und kam abrupt zum Stehen.
»Eigentlich wollte ich nur kurz von meinem neuen Fall erzählen. Ich muss undercover in Adelskreisen ermitteln und hab gerade einen Schnellkurs in Sachen Benimm.« Die Ampel schaltete auf Grün um, und Alex fuhr an, musste jedoch einem eng an ihm vorbeifahrenden Autofahrer ausweichen. »Piffer«, entfuhr es ihm.
»Na, da ist wohl noch ein bisschen was zu tun, was die Manieren angeht. Aber das ist doch eine nette Sache. Wenn du noch mehr Tipps brauchst: Du weißt doch, dass Rudi auch adelig ist, oder? Ich bin mir sicher, dass er dir gerne hilft, wenn du Fragen hast.«
»Rudi? Welcher Rudi?«
»Der Freund deines Vaters, mit dem er immer Karten spielt. Du kennst doch Rudi, Alexander! Rudolf von Schroffstein. Haben sie dir da in der Großstadt das Gedächtnis ausgelöscht, oder was?«
»Na klar, Mama, das machen sie hier mit jedem. Wenn man hier irgendwo rein will, bekommt man erst mal ein paar heftige Stromschläge, damit man alles vergisst, was einen beschäftigt hat. Das und die vielen Drogen hier in dem Moloch Berlin, ist doch klar.« Alex’ Stimme triefte vor Sarkasmus.
»Ich finde es nicht lustig, was du für Scherze machst, seit du hier weg bist. Susa ist übrigens gerade von der Toilette zurück. Ich geb sie dir«, sagte seine Mutter steif, und Susas sanfte Stimme beruhigte ihn. Wie viel angenehmer war es doch, mit ihr zu sprechen, als mit seiner Mutter. Irgendetwas an ihr reizte ihn immer dazu, sie auf die Schippe zu nehmen. Allerdings war es bedauerlich, dass es Susa immer noch so schlecht ging. Sie hatte sich allein heute sechzehn Mal übergeben müssen und behielt nichts bei sich. Deshalb hatte sie seine Mutter zu sich gerufen, die Ärztin war. Eine sehr gute Ärztin sogar, auch wenn sie nicht Alex’ Art von Humor teilte. Aber wirklich helfen konnte sie ihr auch nicht. Er würde eine Lösung finden müssen, vor allem, weil er auch jetzt nicht dazu kam, zu ihr zu fahren, sondern sich mit dem neuen Fall herumschlagen musste. Aber dass Rudi adelig war, schien die ganzen Jahre völlig an ihm vorbeigegangen zu sein, wobei man auch nicht wirklich sagen konnte, dass er sich für die Freunde seines Vaters sonderlich interessiert hätte.
Inzwischen war er zu Hause angekommen und hatte, kurz bevor er in den Fahrstuhl gestiegen war, das Gespräch beendet. Im Lift war sowieso kein Empfang, und wenn er oben war, musste er sich als Erstes um etwas Essbares kümmern, schließlich war die letzte Mahlzeit schon mehr als sechs Stunden her, und sein Magen hing ihm bis in die Kniekehlen. Erstaunlicherweise kam er, ohne dass Frau Wolf ihn oben abfing, in seine Wohnung, wo er sofort zum Kühlschrank lief, eine Pizza aus dem Tiefkühler holte, die Folie abknipperte und sie aufs Blech plumpsen ließ, bevor er den Herd voll aufdrehte.
Die ganze Situation mit der Schwangerschaft war ungünstig. Und so sehr er von der forschen Art seiner Mutter genervt war, musste er doch zugeben, dass sie in einem Punkt recht hatte: Sie mussten klären, wie es weitergehen sollte. Alex ließ sich in den Sessel fallen und starrte auf den Teppich, dessen Muster ineinander verschwamm. So gerne er mit Susa und dem Baby zusammen sein wollte, konnte er sich doch nicht vorstellen, das alles hier einfach zu verlassen und wieder nach Heidelberg zu ziehen. In die Enge des Neckartals, die oft erdrückend auf ihn gewirkt hatte. Auch wenn die Stadt im Sommer von Touristen überschwemmt war, kannte man sich weitgehend. Klar, es kamen immer wieder neue Studenten oder andere »Eingeschmeckte«, das heißt Zugezogene, die nicht aus Baden kamen, aber der Kern der echten Heidelberger war untereinander bekannt, zumindest in seinem Viertel. Man kannte sich, beobachtete sich und hatte seine Meinung. Viele empfanden das als geborgen und vertraut. Alex, der inzwischen die Freiheit einer Großstadt kennengelernt hatte, sah das als einengend an. Was würden sich alle gerade das Maul darüber zerreißen, dass Susa schwanger, unverheiratet und auf den ersten Blick allein war. Leicht war es sicher nicht für sie.
Ein scharfer Geruch ließ ihn aufschrecken. Wie lange hatte er hier gesessen und gegrübelt? Er wusste es nicht, aber seine Pizza war offensichtlich zu lange im Ofen. Der Rauchmelder piepte eindringlich, und eine Qualmwolke erfüllte die Küche. Alex stürmte zum Fenster, um es trotz der Kälte weit aufzureißen, nachdem er den Herd ausgeschaltet und die verkohlten Überreste seines Abendessens gemustert hatte. So ein Mist! Das war die letzte Pizza gewesen. Das Tiefkühlfach war leer. Also blieb ihm nur, essen zu gehen, denn er wollte sich nicht die Blöße geben, bei Frau Wolf zu klingeln und von seinem Missgeschick zu berichten, auch wenn die ihn sicher verpflegen würde. Was würde er denn für ein Vater sein, wenn er noch nicht mal für sich selbst sorgen konnte?
Alex überlegte, wo er hingehen konnte oder ob er etwas bestellen sollte, während er an einem harten Kanten Brot knabberte, um den schlimmsten Hunger zu betäuben. Er musste morgen dringend einkaufen gehen. Auch Frau Wolf wartete auf ihre Einkäufe, die er ihr wie immer versprochen hatte, zu übernehmen. Eigentlich war es komisch, dass er noch nichts von ihr gehört hatte. Für gewöhnlich passte sie ihn am Fahrstuhl ab oder klingelte wenig später, aber heute hatte er gar nichts von ihr gehört. Ob er mal nach ihr sehen sollte? Schließlich war sie auch nicht mehr die Jüngste. Kurz entschlossen ging Alex hinüber.
Doch auf sein Klingeln reagierte niemand. Er hörte das Läuten in der Wohnung widerhallen, aber sonst war alles still. Hmm, seltsam. Es passte nicht zu Frau Wolf, um die Zeit noch unterwegs zu sein, zumal es kalt und dunkel war. Das mochte sie nicht. Aber warum öffnete sie dann nicht? Ob er die Tür aufbrechen sollte? Da fiel ihm ein, dass er ja irgendwo einen Schlüssel zu ihrer Wohnung haben musste. Den hatte sie ihm schon vor einer ganzen Weile gegeben, falls es nötig sein sollte. Aber wo war er?
Hastig lief Alex zurück in seine Wohnung. An seinem Schlüsselbund hatte er ihn nicht. Vielleicht im Schlüsselkasten? Nee, natürlich auch nicht. Wo konnte er denn noch sein? Mit einem Schritt war Alex bei der Kommode im Flur und kramte in den überfüllten Schubladen. Was er hier drin alles für Müll hatte. Ein Haufen Papier, alte Eintrittskarten. Eine Schere, ein Lippenstift von Susa und ach … hier war er. Hastig griff Alex danach und war mit ein paar Schritten wieder an Frau Wolfs Tür. Seine Finger zitterten leicht, als er den Schlüssel im Schloss herumdrehte, aber dann ging es ganz schnell: Die Tür sprang auf, und Alex stürmte in die Wohnung.
Hektisch warf er einen Blick den Flur hinunter, doch dort war alles wie sonst. Auch die Küche war leer. Das Bad wirkte auch so wie immer. Blieben nur noch das Schlaf- und das Wohnzimmer. Beide Türen waren nur angelehnt, und mit einem Ruck hatte er die Schlafzimmertür aufgestoßen. Dort lag sie. Neben dem Bett und ungewohnt bleich, aber sie atmete. Erschrocken holte Alex Luft, dann kniete er auch schon neben ihr. Er hielt ihr die Finger an den Hals. Der Puls war regelmäßig, aber sie war ohnmächtig. Er musste die Feuerwehr rufen. Mit zitternden Händen griff er nach seinem Handy und wählte die 112.
Als er aufgelegt hatte, überlegte er, was er mit Frau Wolf machen sollte, bis die Kollegen kamen. Doch er traute sich nicht, sie hochzuheben, vielleicht hatte sie sich etwas gebrochen. Nervös sah er sich um. Sie würden sie sicher mitnehmen. Ob er schnell etwas für sie zusammenpackte? Aber sein Kopf war von der Aufregung ganz leer. Ihm fiel außer einer Zahnbürste und einem Nachthemd nichts ein. Besser er wartete damit und machte das später.
Frau Wolf stieß ein röchelndes Geräusch aus, lag aber weiter mit geschlossenen Augen dort und wirkte unnatürlich blass. Die Arme, hoffentlich war es nichts Schlimmes!
Nach unendlich erscheinenden Minuten, die er neben Frau Wolf hockend zitternd verbracht hatte, war der Notarzt endlich da. Mehrere Leute trampelten in die Wohnung. Einer kniete sich sofort neben Frau Wolf und untersuchte sie, während ein anderer dicht daneben stand und eine große Tasche hielt, beinahe ein Koffer.
»Akute Überzuckerung. Insulin«, sagte der Kniende und streckte auffordernd seine Hand aus. Zwei Sekunden später hatte er eine Spritze in der Hand, die er sofort in Frau Wolf hineinstach. Alex wurde übel. Die ganze Aufregung schlug ihm auf den leeren Magen.
»Ist es schlimm?«, presste er heraus.
»Sie hat eine Hyperglykämie. Wie lange liegt sie hier schon?«
»Keine Ahnung, ich hab sie gerade erst gefunden, aber ich kann mir vorstellen, dass es schon eine Weile so ist.«
»Wissen Sie, welche Medikamente sie gegen die Diabetes nimmt? Sind Sie ein Angehöriger?«
Alex schüttelte den Kopf. Ihm war neu, dass Frau Wolf an Diabetes litt. Sie hatte nie etwas erwähnt, aber vielleicht wusste sie es bisher ja auch gar nicht.
»Was passiert jetzt mit ihr?«, fragte er beklommen.
»Wir nehmen sie erst mal mit und untersuchen sie genauer. Nicht dass noch mehr dahinter steckt. Aber da Sie kein Angehöriger sind, kann ich Ihnen leider nicht noch mehr sagen.«
»In welches Krankenhaus kommt sie denn? Ich muss ihr doch ihre Sachen bringen.«
»Wo hat sie ihre Hausschuhe, damit sie mal aufstehen kann, wenn es ihr besser geht?«, fragte jetzt der mit dem Koffer.
»Sie kann gar nicht laufen. Sie sitzt im Rollstuhl«, sagte Alex. Übelkeit stieg in ihm hoch. Er fühlte sich so hilflos.
»Oh, ach so. Charité. So, los geht’s.«
Frau Wolf war inzwischen auf eine Trage geschnallt und wurde angehoben.
»Kann ich noch irgendwas machen?«, fragte Alex bedrückt.
»Beruhigen Sie sich erst mal. Wir kümmern uns schon um sie.« Und damit waren sie draußen. Alex ließ sich am Bett herabgleiten. So ein gequirlter Mist! Was wäre eigentlich passiert, wenn er nicht auf die Idee gekommen wäre, nach ihr zu sehen? Die Übelkeit wurde schlimmer. Er musste dringend etwas in den Magen bekommen, dann würde er ihre Sachen packen und ihr bringen. Mit vollerem Magen konnte er wieder besser denken und das innerliche Zittern würde hoffentlich auch aufhören.