Kathleen hatte nicht den besten Tag ihres Lebens gehabt. Dieser neue Einsatz machte ihr Angst. Sie hatte keine Ahnung, warum, aber sie hatte gehörigen Respekt vor diesen Adeligen und ihrer ungewohnten Art, miteinander umzugehen. Es fühlte sich an, als wäre sie so, wie sie war, nicht genug. Nein, schlimmer noch, als wäre sie, die Normalo-Mittelmäßige, weniger wert. Seit sich Roman von ihr getrennt hatte, hatte sie sich nicht mehr so verunsichert gefühlt. Sie parkte das Auto ein Stück weg von dem Hochhaus im Märkischen Viertel, in dem sie mit ihrem fast zehnjährigen Sohn lebte. Die paar Schritte durch die kalte Luft würden ihr hoffentlich den Kopf freipusten und Kraft geben. Die brauchte sie jetzt nämlich mit Sicherheit. Mattis forderte alles von ihr, vor allem, nachdem er sie seit dem Morgen nicht gesehen hatte. Schwächen verzieh er ihr im Moment nicht. Er brauchte eine starke, aber liebevolle Hand.
Als sie aus dem Auto stieg, fuhr ihr ein eisiger Windhauch mitten ins Gesicht. Die Haut zog sich schmerzhaft zusammen, und Kathleen musste tief Luft holen. Aber zumindest fühlte sie sich wieder mehr bei sich, als sie nach dem Schlüssel kramte, aufschloss und in den bereits wartenden Aufzug stieg. Erst mal musste sie Mattis von Nora abholen, die vier Etagen unter ihr wohnte. Das schlechte Gewissen nagte an ihr. Schon wieder kam sie später. Das wurde inzwischen zur Normalität. Wenn sie Nora nicht gehabt hätte, bei der Mattis nach der Schule blieb, wäre ihr ganzes Leben durch die ständigen Überstunden wie ein Kartenhaus zusammengekracht.
Darauf wartete Roman nur: dass sie als Alleinerziehende scheiterte und Mattis zu ihm zog. Denn bei ihm war immer jemand, seit er die Nerv-Drossel Roxana geheiratet hatte und sie zu Hause saß und den bald zu erwartenden Nachwuchs der beiden bebrütete. Aber das hätte ihr mit Sicherheit das Herz gebrochen. Die Vorstellung, Mattis nicht mehr täglich zu sehen und zu begleiten, raubte ihr den Atem. Auch wenn er mit der beginnenden Pubertät manchmal wahnsinnig anstrengend und fordernd war, liebte sie ihn doch mehr als alles andere auf der Welt.
Der Fahrstuhl hielt ein wenig wackelnd im fünften Stock, und Kathleen drückte auf den Klingelknopf. Zweimal kurz, einmal lang, das war ihr Zeichen geworden. Sie lauschte, aber erstaunlicherweise drang kein Laut heraus. Für gewöhnlich hörte man lautes Kinderspielen oder das sonore Flüstern, wenn Nora mit einem ihrer Kunden telefonierte.
Einen Augenblick später wurde die Tür aufgerissen, und Enrico stand vor ihr. Er war einer der beiden Söhne von Nora und dankenswerterweise Mattis’ bester Freund. Sie waren schon zusammen in den Kindergarten gegangen und waren jetzt Klassenkameraden.
»Ach, du bist das. Mama ist in der Küche«, sagte er mit enttäuschter Miene und rannte auch schon zurück ins Kinderzimmer.
Kathleen streifte sich die Schuhe von den Füßen und betrat die blitzsaubere Wohnung. Mit schnellen Schritten hatte sie den Flur durchquert und stand in der Küche, in der ihre Freundin bereits emsig umherwirbelte.
»Mhm, was gibt’s denn heute?«, fragte Kathleen und bemühte sich, die Selbstzweifel, die sie den ganzen Tag gequält hatten, wegzuschieben.
Mit einem Ruck blickte Nora von ihrem Schneidebrett hoch, auf dem sie gerade ein paar Möhren zerkleinerte.
»Was ist denn mit dir passiert? Du siehst ja aus, als hätten sie dir heute alle Zehennägel gezogen – ohne Narkose.«
Kathleen musste schlucken. Sie konnte machen, was sie wollte, Nora durchschaute sie immer.
»Neuer Fall. Ich muss undercover ins Schloss – als Adelige.« Mit jedem Wort war ihre Stimme leiser geworden. Kathleen hatte es selbst gemerkt, konnte aber nichts dagegen tun.
Nora hatte das Messer beiseite gelegt und zog Kathleen jetzt zu der Sitzgruppe, an der sie mit ihren Söhnen immer aß. »Ja, und? Das hört sich doch witzig an.«
»Du glaubst nicht, was wir alles lernen müssen. Da kann man nicht einfach so reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist, oder normal rumlaufen. Das ist unglaublich, was die für Regeln beachten müssen. Die leben nach außen so wie wir, aber im Innern ist der Teufel los, kann ich dir sagen. Und das Schlimme ist: Ich muss das alles können, damit nicht auffällt, dass ich eigentlich eine kleine, doofe Polizistin bin.« Kathleens Kopf hämmerte, während sie sprach. Der Tag war stressig gewesen.
»Ja, und? Du hast schon ganz andere Sachen geschafft. Warum machst du einen auf schüchtern? Die gehen auch zum Scheißen aufs Klo.« Nora war aufgestanden, hatte sich das Schneidebrett an den Tisch geholt, ihre langen schwarz glänzenden Haare über die Schultern geworfen und schnippelte weiter an den Möhren, wobei sie wirklich schnell war.
»Weiß ich ja, aber du kennst doch die Geschichten von Sissi und Aschenputtel und so, und irgendwie ist das alles ganz schön furchteinflößend.«
»Jetzt tu doch nicht so, als wärst du nichts wert. Was zählen so ein von und die ganzen Traditionen und der Mist, Hauptsache ist doch, dass du ein guter Mensch bist. Und das bist du, Kathi! Du wirst das toll machen, da bin ich sicher. Soll ich Mattis so lange nehmen, oder geht er dann zu Roman?«
Kathleen spürte, wie Noras Worte ihr Sicherheit gaben. Das Gefühl, ein kleiner Spatz zu sein, der neben den stolzen Adlern vor sich hin kümmerte, schob sich mehr und mehr in den Hintergrund.
»Ich hab noch nicht mit Roman gesprochen, aber ich nehme an, dass er sich die Chance nicht entgehen lassen wird. Aber es bedeutet mir wirklich viel, dass du …« Ihre Stimme versagte. Ein dicker Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet und blieb dort hartnäckig trotz intensiven Räusperns. Sofort war Nora bei ihr und nahm sie in den Arm.
»Ach lass mal, Süße, irgendwann fahre ich mal bei Rot über die Ampel, und du befreist mich dann aus den Krallen deiner Kollegen. Aber eins musst du mir versprechen: Du berichtest mir haarklein, wie diese Von-und-Zu-Fuzzis so leben. Und jetzt kannst du dich mal nützlich machen und den Tisch decken. Heute gibt’s Gemüsesuppe, und ihr esst natürlich mit.« Kathleen nickte und wischte sich verstohlen eine Träne von der Wange. Nora war wie immer ihr Engel in der Not. Wenn sie nur einmal auch etwas Tolles für sie machen könnte.