Der Shoppingtrip war erfolgreicher, als Alex erwartet hatte und früher beendet als gedacht, sodass den beiden Kommissaren heute noch genügend Zeit blieb, alles vorzubereiten. Morgen früh schon sollte es losgehen. Jasmin von Keitenburg würde sie abholen und verkünden, dass sie frisch aus Uruguay angekommen seien, um einen ausgedehnten Besuch bei den europäischen Familien zu machen und dabei die alte Heimat kennenzulernen. Kathleen konnte also das Gespräch mit Roman nicht länger vor sich herschieben. Sie waren immer noch Mattis’ Eltern und mussten daher alles tun, damit es ihm gut ging. Dieses Mal sollte es anders laufen, als bei ihrer letzten dienstlichen Reise nach Marokko, wo Roman so empfindlich reagiert hatte, als er von ihrer Abwesenheit und Mattis’ Aufenthalt bei Nora erfuhr.
Das Telefon klingelte dreimal, bevor er mit einem forschen »Hallo« abnahm.
»Ich bin’s Kathleen. Hast du kurz Zeit?«
»Ist irgendwas passiert? Geht’s Mattis gut?« Seine Stimme klang erschreckt.
»Nein und ja. Mattis geht’s gut. Ich muss allerdings morgen für ein paar Tage auf einen Einsatz und wollte dich fragen, ob du ihn nehmen willst oder ob er bei Nora wohnen soll.«
»Ach, wie lange soll es denn dauern?«, fragte er mit erstaunlich ruhiger Stimme. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal mit ihr so gesprochen hatte. Seit er ihr mitgeteilt hatte, dass ihre Ehe hiermit beendet wäre, weil er eine andere hätte, war der Ton zwischen ihnen frostig.
»Keine Ahnung, bis wir gefunden haben, was wir brauchen. Vielleicht zwei, drei Tage, vielleicht zwei Wochen.«
»Hmm. Was ist dir denn lieber?«, fragte er mit immer noch ungewohnt sanfter Stimme.
»Äh … das musst du wissen. Ich bin ja dann weg. Ich möchte nur, dass es Mattis gut geht.«
»Ja, es ist nur, Roxana ist ja schwanger, wie du sicher schon mitbekommen hast, und sie ist in ein wenig angespannter Stimmung seitdem, um es mal so zu sagen. Aber ich denke trotzdem, wenn es für dich okay ist, dass er hierher kommt. Er ist ja immerhin noch mein Sohn, und es sollte sich jemand um ihn kümmern, der auch das Sorgerecht hat, vor allem, wenn du noch gar nicht weißt, wie lange du weg bist. Wo geht’s denn hin?«
»Schloss Keit, irgendwo in Niedersachsen.«
»Oh lala, hast du etwa einen neuen Verehrer?«
»Quatsch. Ich hab doch gesagt, es ist beruflich. Holst du ihn morgen von der Schule ab? Dann müssen wir nur noch gucken, was mit seinen anderen Sachen ist.«
»Ach, Klamotten hat er ja auch hier. Und wenn wir was brauchen, dann holen wir es uns aus der Wohnung.« Seine Stimme klang entspannt. Fast so wie früher, als sie sich in ihn verliebt hatte.
»Ihr räumt aber nicht meine ganze Wohnung aus!«
»Lass dich überraschen.« Kathleen konnte seiner Stimme anhören, dass er grinste. Unfassbar, sie würden sich doch nicht endlich wieder wie normale Menschen unterhalten können ohne dem anderen mit jeder Äußerung eine Breitseite mitzugeben? Das wäre ja fantastisch!
»Na gut, dann erklär ich Mattis nachher alles. Bis dann!«
»Ja, lass es dir gut gehen auf deiner Tour de Schloss.«
»Es ist beruflich.«
»Schon klar. See you!« Damit legte er auf und ließ eine nachdenkliche Kathleen zurück. Roman war ungewohnt nett gewesen. Offensichtlich war die Situation mit Roxana ein wenig angespannt, oder er hatte irgendetwas mit Mattis vor. Hoffentlich klappte alles ohne größere Probleme.
Alex bekam den kalten Wind direkt ins Gesicht, während er in die Pedale trat und sich bemühte, den allgegenwärtigen Autos auszuweichen. Der Verkehr war um diese Zeit wesentlich dichter als zu der Zeit, wo er sonst fuhr, aber er wollte auf jeden Fall noch Frau Wolf einen Besuch abstatten, bevor er morgen auf unabsehbare Zeit verschwand. Er hatte ein paar Sachen zusammengepackt. Im Internet hatte er eine Seite mit Tipps gefunden, was man so für einen Krankenhausaufenthalt brauchte. Gut, es war eine Seite für Mütter, die zur Entbindung ins Krankenhaus gingen, aber so einen großen Unterschied konnte das ja jetzt auch nicht machen. Klar, Still-BHs und Brustwarzensalbe konnte er weglassen, aber Wechselkleidung und Bürsten brauchte ja wohl jeder. Seine Hände waren inzwischen ganz steif vor Kälte, doch weit war es nicht mehr. Dort vorne war schon der Krankenhauseingang. Hoffentlich ging es Frau Wolf besser. Er hatte noch nichts von ihr gehört, aber der Sanitäter hatte gesagt, dass sie sie hierher bringen würden.
Die Frau an der Information sah schon von Weitem so aus, als hätte sie einen Dinosaurier gefrühstückt. Ihre Mundwinkel waren nach unten gezogen, und tiefe Furchen waren in ihr Gesicht gegraben, was ihr das Aussehen einer schlecht gelaunten Marionette verlieh. Höchste Zeit, ihr ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Alex setzte sein schönstes Schwiegersohn-Lächeln auf und trat an den Tresen.
»Ja?«
»Ich möchte zu Frau Wolf. Sie wurde gestern mit der Feuerwehr eingeliefert, und ich habe hier ein paar Sachen für sie.«
»Sind Sie mit ihr verwandt?« Die Frage klang eher wie ein Bellen.
»Nein, wir sind befreundet. Ich …«
»Dann kann ich Ihnen keine Auskünfte geben. Der Nächste bitte«, unterbrach sie ihn harsch.
»Warum nicht? Ich will ihr doch nur etwas bringen und mich vergewissern, dass es ihr besser geht«, insistierte Alex.
»Treten Sie zur Seite. Ich habe Ihnen gesagt, dass es nicht geht«, schnarrte sie, ohne eine Miene zu verziehen.
»Hören Sie: Sie sagen mir jetzt sofort, wo Frau Wolf liegt, ansonsten haben wir hier ein Problem«, sagte er und zückte seine Dienstmarke. Seine Lächel-Vorsätze waren völlig verpufft. Manchen Leuten konnte man eben nur auf eine Weise begegnen.
Die Dinosaurierfrau zeigte sich unbeteiligt. Wahrscheinlich war sie gar nicht in der Lage, freundlich zu gucken. »Polizei? Warum sagen Sie das nicht gleich: Station 9, Zimmer 904. Der Nächste bitte.«
Alex spürte, wie sein Puls vor Wut hart in seinem Hals klopfte, als er die nach einer Mischung aus Desinfektionsmitteln, Blut und Dahinsiechen riechenden Gänge hinunterlief.
Frau Wolf lag mit geschlossenen Augen in dem klobigen Krankenhausbett. Das Nachbarbett war leer, aber benutzt, und der Nachttisch ihrer Nachbarin quoll über von Blumensträußen und Zeitschriften.
Frau Wolf sah eingefallen und fahl aus. Sofort spürte Alex Sorge in sich aufwallen. Da schlug sie die Augen auf. »Alexander. Das ist aber nett«, sagte sie mit ungewohnt leiser Stimme.
»Frau Wolf, wie geht es Ihnen? Ich hab Ihnen ein paar Sachen mitgebracht.«
»Gut, gut. Völlig übertrieben, mich noch hier festzuhalten. Ich muss mich bei dir bedanken, habe ich gehört. Offenbar war es ein Zuckerschock. Ich wusste gar nicht, dass ich Diabetes habe. Sie sind gerade dabei, eine Diät für mich zusammenzustellen und mich auf Medikamente zu setzen. Alles Geldschneiderei, wenn du mich fragst. Wenn die dich erst mal in ihren Klauen haben, lassen sie dich nicht mehr so schnell los, diese Krankenhausheinis.«
»Na ja, ist ja auch ganz nett, wenn Sie sich mal ein bisschen ausruhen und bedienen lassen«, bemühte sich Alex, sie aufzumuntern.
»Ausruhen? Hast du eine Ahnung, wie übel meine Bettnachbarin schnarcht und wenn sie nicht gerade mal zu einer Untersuchung weg ist, sieht sie ununterbrochen fern und kommentiert alles. Eine anstrengende Person.«
»Aber jetzt müssen Sie erst mal wieder total fit sein, bevor Sie rauskommen. Ich bin auch ein paar Tage weg. Ermittlungen.«
»Och nee, wohin musst du denn?« Sie sah enttäuscht aus. Offenbar hatte sie gedacht, früher hier rauszukommen, wenn sie Alex in der Hinterhand hatte, der sich um sie kümmern konnte.
»Das Adelsschwert hat zugeschlagen. Morgen geht’s ins Schloss. Sie können mich dann Oscar von Uten nennen.«
Jetzt grinste Frau Wolf. »Ein bisschen affig klingt das ja, aber wenn es hilft. Wann musst du weg?«
»Morgen früh geht’s los.«
»Was ist denn dann mit deinem Kochkurs? Dann versäumst du ja schon wieder Stunden.«
»Ist ja beruflich. Kann ich nicht ändern.«
»Hmm. Und wie geht’s Susa? Langsam etwas besser?«
»Ich hab sie heute noch nicht erreicht. Vielleicht ist sie wieder in der Schule. Gestern meinte sie, dass es ein wenig besser wird. Hoffen wir das Beste.«
In dem Moment ging die Tür auf, und eine Schwester schob einen Wagen vor sich her in das Zimmer.
»Wir machen jetzt die Abendrunde. Warten Sie bitte draußen?«, fragte sie erstaunlich freundlich im Vergleich zu dem Drachen an der Information.
»Ich muss sowieso gehen. Tschüss Frau Wolf, werden Sie schnell gesund. Keine Sperenzchen bitte. Ich melde mich. Ihr Handy ist auch in der Tasche. Und irgendwo muss auch das Ladekabel sein. Alles Gute.« Alex stand auf und stellte den Stuhl wieder an den Tisch, während das Gesicht der Krankenschwester immer ungeduldiger aussah.
»Danke, Alexander, oder soll ich lieber Oscar sagen? Und schnellen Erfolg.« Sie lächelte ihn an, doch Alex sah auch die dunklen Ringe unter ihren Augen und ihr eingefallenes Gesicht, als er ihr noch einmal zuwinkte und dann die Tür leise schloss.