Als Alex Platz nahm – erstaunlicherweise neben der kleinen Dicken mit der Perlenkette, die sich als Nicole Freifrau von Regenau vorstellte –, warf er einen schnellen Blick zu Kathleen. Hoffentlich hatte sie sich ein wenig gefangen und war nicht mehr so unsicher wie vorhin. Doch was er sah, ließ ihn einen Moment stutzen, während er sich bemühte, seinen Stuhl möglichst geräuschlos näher an den Tisch zu ziehen. Sie war in ein munteres Gespräch mit ihrem Tischnachbarn vertieft und hatte offenbar Spaß dabei, wenn er ihre freudige Miene richtig deutete.
In dem Augenblick legte ihm die Freifrau eine Hand auf den Arm und fragte: »Diese Adelstreffen sind immer wieder herzerwärmend, nicht wahr?« Dabei kam ihr Kopf seinem Gesicht ausgesprochen nahe. Man konnte nicht sagen, dass die Freifrau vor Berührungen zurückschreckte, denn jetzt lag ihre Hand schon auf seiner Schulter.
Nervös nickte Alex. »Bezaubernd«, säuselte er und bemühte sich, möglichst unauffällig von der fürsorglichen Freifrau wegzurutschen. Wieder ein Thema, das Jasmin nicht mit ihnen besprochen hatte: Wie wimmle ich aufdringliche Freifrauen ab, ohne sie vor den Kopf zu stoßen? Souveränität war das A und O. Es ging darum, so aufzutreten, als gehöre er selbstverständlich dazu, also musste es auch möglich sein, dezent sein Nichtinteresse zu signalisieren. Nachdem er immer wieder sanft seinen Arm aus ihrer Umklammerung gezogen hatte, sich aber weiterhin freundlich mit ihr unterhielt, waren die Fronten geklärt. Zwar legte sie immer wieder eine Hand auf seinen Arm, um ihre Worte zu unterstreichen, doch das schien eher an ihrem Temperament und weniger an aufwallenden Hoffnungen zu liegen. Der Vorteil war, dass die Freifrau fundierte Kenntnisse über alle Anwesenden besaß und diese auch freigiebig mit Alex teilte. Als er seine Verwunderung über das unterschiedliche Aussehen der Keitenburg-Geschwister ausdrückte, legte sie ihm wieder die Hand auf den Unterarm.
»Aber wusstest du es denn nicht? Ariane ist doch adoptiert. Graf Felix und seine Frau haben sie angenommen, als sie noch ein Kleinkind war. Plötzlich war sie da, und keiner weiß, wer ihre leiblichen Eltern sind. Eine Weile wurde gemunkelt, dass sie vielleicht einer unehelichen Affäre des guten Felix entsprungen ist, aber das spielt nun auch keine Rolle mehr. Sie ist so lange da, sie gehört einfach dazu.« Ihre Augen blitzten, als sie das erzählte. Offenbar liebte die Freifrau Klatsch, auch wenn Jasmin erzählt hatte, dass das unter Adeligen verpönt war. Aber vielleicht hatte sie Alex gerade deshalb neben der geschwätzigen Freifrau platziert, denn zumindest bekam er so einen vertieften Eindruck von allen Anwesenden.
Das Essen war ausgezeichnet, und der Abend plätscherte nett dahin, sodass Alex ganz verwundert war, als er irgendwann auf die Uhr sah und bemerkte, dass es bereits halb zwölf war. Bisher war niemand gegangen, sondern alle sprachen und lachten miteinander, während ein Glas Wein nach dem anderen verschwand. Es war also davon auszugehen, dass der gemeine Adelige ein ziemliches Steh- und Trinkvermögen besaß. Ein wenig seltsam war das ja schon, wenn man bedachte, dass der Hausherr verschwunden und vielleicht sogar tot war, aber der Abend war lange geplant, wie ihm Jasmin versichert hatte, und ließ sich nicht so ohne weiteres absagen und neu ansetzen. The Show must go on.
Inzwischen hatte Alex sich von der Freifrau loseisen können und sich mit den beiden Männern unterhalten, die vor dem Essen ebenfalls in der Gruppe um die Freifrau und Ariane gestanden hatte. Der lange Schlaksige hatte sich als Max von Kos vorgestellt, während der Hektische mit den langen Haaren sich als Thomas von Regenau, der Ehemann der Freifrau herausstellte. Die beiden waren verschwiegener als die Gute, aber zumindest schien Alex sich bei dem Gespräch nicht völlig daneben zu benehmen, denn sie ließen sich kein Befremden anmerken. Das konnte aber auch daran liegen, dass Alex den Eindruck hatte, dass er sich, je später der Abend wurde, immer mehr in seine Rolle einfand und weniger Skrupel und Zweifel hatte.
Jeder sprach höflich und achtungsvoll von dem verschwundenen Grafen Felix, doch niemand schien eine Ahnung zu haben, was passiert sein könnte, zumal er ja in Berlin verschwunden und niemand dabei gewesen war.
Als Alex sich nach Kathleen umsah, bemerkte er, dass sie immer noch mit dem Gleichen redete und lachte, und wenn er es nicht besser gewusst hätte, sah es fast aus, als würden sie miteinander schäkern. Das sah Kathleen gar nicht ähnlich. Im Stillen hatte er ihr den Beinamen »die Eisprinzessin« gegeben, auch wenn er wusste, dass sie ganz weich und lieb sein konnte, aber Männer hatte sie, seit Alex sie kannte, immer weit von sich ferngehalten. Nun, mit diesem Exemplar hier wirkte sie jedenfalls sehr vertraut.
Eine gute Stunde später wankte Alex die Treppe hinauf. Hinter ihm lief Kathleen, die ganz offensichtlich auch einen Drink zu viel hatte. Insofern musste ein Austausch über die Erkenntnisse des heutigen Abends auf morgen warten. Alex konnte kaum mehr die Augen offen halten. Der Tag war ungewohnt aufregend und vor allem lang gewesen. Doch man konnte zumindest feststellen, dass der Beginn zwar etwas holperig, aber auf lange Sicht zumindest erfolgreich war. Sie waren als Adelige von den anderen Adeligen akzeptiert worden und hatten an dem einen Abend mehr erfahren, als Lukas und Inka in der ganzen Woche.
Morgen früh mussten sie über ihre weiteren Strategien reden. Denn es ging hier Schlag auf Schlag weiter: Morgen war Musikabend und am Wochenende eine große Jagd. Ein bisschen seltsam war es ja, dass das Leben hier so weiterging wie bisher, obwohl der Chef des Hauses Keitenburg verschwunden war, aber offensichtlich war das die Strategie des Adels, der Events monatelang vorher plante und aufgrund der vielen Termine nicht die Flexibilität besaß, kurzfristig umzudenken. Nach dem heutigen Tag war Alex zuversichtlich, dass sie das Verschwinden von Graf Felix aufklären würden. Er half Kathleen, das richtige Zimmer wiederzufinden, und beeilte sich dann, noch eine Mütze voll Schlaf zu bekommen.