12. Kapitel

Alex hatte eine unruhige Nacht in dem so wunderschön anmutenden Bett verbracht. Unangenehmerweise war es furchtbar weich. Jedes Mal, wenn er sich im Schlaf umgedreht hatte, war er in die Kuhle in der Mitte gerutscht und aufgewacht. Er erwachte mit einem verspannten Nacken und heftigen Kopfschmerzen. Die Sonne schien für die Jahreszeit erstaunlich hell ins Zimmer, denn Alex hatte gestern Abend vergessen, die Vorhänge vorzuziehen. Er warf einen Blick auf die Uhr: acht Uhr vierzig. Sie hatten gestern nicht darüber gesprochen, wann und wo sie frühstücken würden, aber er wollte vorher auf jeden Fall noch Susa anrufen.

Ihre Stimme hörte sich leise und schwach an.

»Ist es immer noch so schlimm?«, fragte Alex und schwang die Füße aus dem Bett. In dem Moment zuckte ein heftiger Schmerz durch seinen Kopf. Bewegen war also im Moment nicht so gut.

»Es dauert eben seine Zeit. Bestimmt ist es bald besser. Ich muss es heute aber unbedingt schaffen rauszugehen. Es ist so gut wie nichts Essbares mehr im Haus.« Susa lachte auf. »So, nun aber genug gejammert. Wie läuft’s bei euch? Habt ihr schon eine Spur?«

»Ich bin noch nicht dazu gekommen, mit Kathleen zu reden, aber zumindest sieht es so aus, als wären wir nicht durch überaus ungebührliches Verhalten aufgefallen. Du kannst dir übrigens nicht vorstellen, mit wie viel Tonnen an Schmuck die Frauen hier aufkreuzen. Bei dem Essen gestern hatte man den Eindruck, dass ein Haufen weiblicher Weihnachtsbäume unterwegs ist.«

»Dann weißt du ja, was du mir zum nächsten Geburtstag schenken kannst.« Ihre Stimme wurde leiser und es war deutlich zu merken, dass sie mit sich kämpfte. Alex’ Kopf zersprang bald. Da meldete sich Susa wieder: »Du, ich muss Schluss machen, sonst gibt es noch ein Malheur. Bis bald, Schatz.«

»Gute Besserung, Liebling«, sagte Alex, aber sie hatte bereits aufgelegt. Ach, wenn er ihr doch irgendwie helfen könnte. Wenigstens den Einkauf und sie ein bisschen versorgen. Aber dafür war er zu weit entfernt. Vielleicht sollte er seine Eltern anrufen und sie bitten, Susa zu helfen. Einen Augenblick war er drauf und dran, die Nummer zu wählen, doch dann entschied er sich dagegen. In seinem verkaterten Zustand war es nicht verlockend, sich auch noch die Ermahnungen seiner Mutter oder die spitzen Bemerkungen seines Vaters anzuhören.

Als Erstes brauchte er etwas gegen die Kopfschmerzen. Natürlich hatte er nichts mit, aber vielleicht hatte Kathleen ja an Medikamente gedacht. Er öffnete die Zimmertür und lauschte in den Gang. Alles war ruhig. Barfuß und im Schlafanzug schlich er zu dem Zimmer, das Kathleen bewohnte. Zaghaft klopfte er an die Tür und drückte sein Ohr dagegen, aber es war nichts zu hören. Ob sie noch schlief? Aber sein Kopf führte ein wahres Trommelfeuer auf, sodass schnell etwas geschehen musste. Vorsichtig drückte er die Klinke herunter. Die Tür öffnete sich. Alex sah sich noch einmal hastig um, dann schlüpfte er hinein und schloss die Tür wieder. Kathleens Bett war gemacht und von ihr war keine Spur zu sehen. Himmel, wann war sie denn bloß aufgestanden? Er sah sich um. Das Zimmer sah sehr aufgeräumt aus. Nichts stand herum. Ganz anders als bei ihm. Aber wo zum Geier konnte sie Schmerzmittel aufbewahren? Alex merkte, dass die hämmernden Kopfschmerzen das Denken erschwerten. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Herrje, vertrug er denn gar nichts mehr? Ein langer Abend, ein paar Gläser Wein, und er lief herum wie ein Zombie.

Er ging ins Badezimmer und kramte in den Täschchen herum, die ordentlich aufgereiht auf dem Regal standen. Als er ein kleines pinkfarbenes öffnete, das von der Größe her gut für Tabletten gepasst hätte, kullerten mehrere Tampons auf den Boden. Schnell bückte er sich danach, um sie aufzusammeln, aber das war keine gute Sache für die Kopfschmerzen. Darüber hinaus wurde ihm auch noch furchtbar übel, sodass er seine Bemühungen einstellen musste. Es lag nur noch ein Tampon auf den Fliesen. Er gab ihm einen schnellen Stoß mit dem Fuß, sodass er unter die Kloschüssel rollte. Zumindest war er erst mal außer Sicht. Aber das Suchen im Bad war ihm vergangen. Vielleicht hatte sie etwas in ihrem Nachttischchen.

Er musste sich auf die Bettkante setzen, um nicht noch einmal zu riskieren, sich herunterzubeugen, und zog die Schublade auf. Wieder verschiedene Täschchen. Wie viele hatte Kathleen davon? Seufzend machte er sich daran, sie nacheinander durchzugehen. Beim zweiten hatte er Erfolg. Verschiedene Tablettenblister und Tropfen waren darin. Kathleen war für alles gerüstet. Kein Wunder, dass sie die Nacht unbeschadet überstanden hatte.

Er zog eine Packung Aspirin heraus und sah sich um. Wasser – er brauchte Wasser. Da fiel ihm das Badezimmer wieder ein. Ein wenig schwankend machte er sich auf den Weg dorthin, während er zwei Tabletten herausdrückte, um möglichst wenig Zeit zu verlieren. Diese Qualen waren ja nicht zum Aushalten. Gerade als er den Kopf unter den Wasserhahn hielt, weil der Versuch, genug Wasser in den Händen zum Mund zu bekommen, um die Tabletten zu schlucken, gescheitert war, hörte er ein Geräusch. Fast hätte er die Tabletten vor Schreck wieder ausgespuckt. Er lief zerknittert und fahl im Schlafanzug durchs Schloss. Wahrscheinlich hatte er sämtliche Ehrenkodexe verletzt. Was, wenn das Frau Kunze war, die hier sauber machen wollte? Da fiel ihm wieder ein, dass Kathleen ja laut Legende seine Schwester war. Dagegen sprach ja wohl nichts, dass ein Bruder sich Tabletten im Zimmer seiner Schwester besorgte, oder? Zögernd trat er aus dem kleinen Bad und suchte verkrampft nach einer lustigen Bemerkung, die er der wahrscheinlich überraschten Frau Kunze entgegenwerfen konnte.

Doch es war gar nicht die Haushälterin, die wie von der Tarantel gestochen herumfuhr, als er aus dem Badezimmer trat.

»Ach, du bist es!«, entfuhr es ihm, und Erleichterung machte sich breit.

Kathleen sah in mit weit aufgerissenen Augen an. »Kannst du mir bitte mal sagen, was du hier in meinem Zimmer machst? Du spinnst wohl, mich so zu erschrecken!«

»Ich hab ganz dringend was gegen meine Kopfschmerzen gebraucht, und da hab ich gedacht, dass du mir vielleicht helfen könntest.«

»Ach, und als ich nicht da war, hast du dich fröhlich selbst bedient?«, fragte sie mit einer Handbewegung zu dem auf dem Bett liegenden Täschchen mit den Medikamenten.

»Wenn du jemals so heftige Kopfschmerzen gehabt hättest, hättest du auch nicht lange überlegt«, sagte er zunehmend ärgerlich und hielt sich die schmerzende Stirn.

»Natürlich, Männerkopfschmerzen sind selbstverständlich Millionen Mal schlimmer als Frauenkopfschmerzen. Schon klar. Warum säufst du dann so viel, wenn du nichts verträgst? Entweder du achtest darauf, wie viel du trinkst, oder du besorgst dir deine eigenen Schmerzkiller und kramst nicht einfach meine Sachen durch. Sag mal, was hast du dann eigentlich im Bad gemacht?« Mit schnellen Schritten lief sie dorthin.

»Wasser. Ich konnte die Dinger ja nicht einfach so runterwürgen.« Von dem herausgefallenen Tampon sagte er nichts. Bei ihrer derzeitigen Stimmung würde sie dieses Versehen sicherlich auch in den falschen Hals bekommen.

»Und willst du jetzt den ganzen Tag im Pyjama verbringen, oder was?«, fauchte sie ihn an, während sie das Bett wieder glatt zog und das Täschchen im Nachttisch verstaute.

Die Bemerkung war Alex zu blöd, um zu antworten, und so hüllte er sich in beredtes Schweigen, während er im Schlafanzug mitten in Kathleens Zimmer herumstand.

»Ich meine es ernst, jetzt beeil dich mal ein bisschen. Wir haben schon alle gefrühstückt. Du kannst sehen, was du noch kriegst. Wir treffen uns in einer halben Stunde im Garten und reden beim Laufen. Frische Luft ist gut bei einem dicken Kopf.« Damit schob sie ihn hinaus.

Alex schlurfte in sein Zimmer zurück. Frauen hatten ja häufig einen grausamen Zug an sich, wenn Männer mal kränkelten. Das hatte er schon bei Susa erlebt, aber dass Kathleen auch so bösartig sein konnte, überraschte ihn doch.

 

Vierzig Minuten später fühlte er sich wie ein neuer Mensch. Die Kopfschmerzen waren verschwunden, er hatte ein leckeres Frühstück genossen, das Frau Kunze ihm frisch zubereitet hatte. Wie lange hatte er schon kein Omelett mehr gegessen? Und der frisch gepresste Orangensaft hatte ihn herrlich erfrischt. Ein Blick nach draußen zeigte ihm, dass es über Nacht geschneit hatte. Erstaunlicherweise erfreute ihn das, und er konnte es kaum erwarten rauszukommen.

Jetzt liefen Kathleen und er warm eingepackt über die verschneiten Wege in Richtung Wald. Schnell hatte Alex ihr das Wichtigste erzählt, das er gestern erfahren hatte. Sie wusste allerdings auch schon, dass Ariane von Keitenburg adoptiert war. »Das sieht doch ein Blinder mit ’nem Krückstock. Aber natürlich hab ich noch mal nachgefragt. Trotzdem scheint niemand etwas Genaues über ihre Herkunft zu wissen«, sagte sie und kickte lässig einen Schneeklumpen vor sich her.

»Apropos: Wer war eigentlich dein anhänglicher Begleiter? Ihr scheint euch ja prächtig verstanden zu haben.«

»Irgendwelche Probleme damit?«, zischte sie so heftig, dass sich Alex’ Kopfschmerzen prompt wieder meldeten.

»Gar nicht. Ich wollte ja nur wissen, wer er ist. Schließlich wirkt es ja ein bisschen komisch, wenn das ganze Schloss darüber redet, und dein eigener Bruder hat keine Ahnung, was da abgeht.«

Kathleen verdrehte die Augen und lief ein paar Schritte, ohne etwas zu sagen. Dann aber drehte sie sich zu ihm. »Er heißt Linus. Linus von Mahlensee, zufrieden? Und bevor du weiter Stunk machst: Er ist auch heute Abend zum Musikabend da.«

»Linus? Du bist sicher, dass es nicht der von den Peanuts ist? Ich mein ja nur: Bei dem Namen …«, giggelte Alex.

Kathleen funkelte ihn böse an und ging dann so schnell weiter, dass er Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten, ohne zu rennen. »Sehr witzig. Aber mit deiner Freifrau hast du natürlich einen ganz besonderen Fang gemacht. Drückt sie dich heute Abend wieder an ihre prachtvolle Mutterbrust?«

Einen Moment war Alex drauf und dran, eine patzige Erwiderung rauszuhauen, aber angesichts der bereits angespannten Stimmung verzichtete er darauf und sagte nur: »Vielleicht ist es besser, wenn wir zum sachlichen Teil kommen. Ich wollte dich nicht verletzen. Tut mir leid. Scheint ein netter Kerl zu sein, dein Linus.«

»Er ist nicht mein Linus. Wir verstehen uns nur gut. Und außerdem kann es nicht schaden, so viele Insiderinformationen wie möglich zu bekommen, oder nicht? Also gut: Hast du schon davon gehört, was mit der Frau von dem Verschwundenen passiert ist?«

»Ich dachte, die wäre tot.«

»Das sollte nach außen wohl auch so wirken. Nee, sie leben getrennt. Und sie wurde nach Mallorca verbannt, bis das Trennungsjahr vorüber ist. Komisch, oder? Vielleicht ist er ja auch bei ihr und die beiden haben sich versöhnt.«

»Und wer hat dann den komischen Brief geschrieben? Nee, das halte ich für unwahrscheinlich. Warum gibt es eigentlich keine weiteren Anweisungen, wie in dem Erpresserbrief angekündigt? Meinst du, sie haben ihn inzwischen getötet und deshalb melden sie sich nicht mehr? Und gab es eigentlich einen großen Rosenkrieg?«, fragte Alex, während er sich herunterbeugte, ein wenig Schnee griff und einen Schneeball zu formen begann, bis seine Handschuhe durchweicht waren.

»Das ist wohl in Adelskreisen nicht üblich. Nein, sie ist von einem Tag auf den anderen abgereist, und am Tag vorher haben sie einvernehmlich die Trennung beschlossen. Aber es wird gemunkelt, dass sie auf Mallorca nicht allein lebt.«

Sie waren ein paar Schritte im Wald gelaufen, aber dort war es zu glatt, sodass sie sich umwandten und wieder zurück zum Haus schlenderten.

»Sag mal, riechst du das auch? Irgendwie riecht es hier doch verbrannt, oder?«, fragte Kathleen plötzlich und sah sich um.

Alex schnupperte und blickte auf. »Da. Da brennt doch was. Das ist im Wald. Ganz in der Nähe, wo wir waren«, rief er und lief auch schon los. »Schnell, sonst brennt bald der halbe Wald.«

Kathleen hetzte ihm hinterher. Durch das Glatteis kamen sie nicht so schnell voran, aber kaum hatten sie den Wald erreicht, sahen sie das Unglück auch schon vor sich: Ein hoher Stapel Stämme brannte lichterloh.

»Los, greif so viel Schnee, wie du kriegen kannst und wirf ihn auf das Feuer«, rief Alex und hatte schon beide Arme voll.

»Das reicht doch nicht. Ich laufe schnell zum Schloss und hole Hilfe«, rief Kathleen und schlitterte los.

Gute zehn Minuten später war sie mit Julius von Keitenburg und zwei Männern zurück, die Alex noch nie gesehen hatte. Sie trugen Feuerlöscher bei sich und waren vom schnellen Laufen außer Atem.

»Es ist ja schon alles gelöscht!«, rief Julius von Keitenburg erfreut, während er nach Atem rang. »Gute Arbeit, Mann!«

Auch Alex musste nach Luft schnappen. Er hatte die letzten Minuten schwer gegen die Flammen gekämpft. »Ich würde an deiner Stelle noch mal mit dem Feuerlöscher drübergehen. Nachher gibt es noch ein paar kleine Brandherde, die wieder auflodern«, keuchte er.

Die Männer nickten und machten die Feuerlöscher bereit. Als dicker weißer Schaum die verkohlten Stämme bedeckte und noch einmal alles kontrolliert war, liefen sie langsam zurück. Die beiden Männer in Julius’ Begleitung hatten sich als Förster und Waldarbeiter herausgestellt, die gerade zu einer Besprechung in Julius’ Büro gewesen waren.

»Ich möchte niemanden beunruhigen, aber das war kein Zufall. Der Stapel wurde absichtlich angezündet. Jemand hat kleine Zweige darüber gestapelt, weil sie leichter Feuer fangen, und wenn ihr mich fragt, lag eindeutig der Geruch von Brandbeschleuniger in der Luft«, sagte Alex nach einer Weile.

Julius von Keitenburg nickte langsam. Seine für sein Gesicht etwas zu große Brille verlieh ihm ein eulenhaftes Aussehen. Einer der Männer flüsterte Keitenburg etwas zu. Alex konnte nicht wirklich etwas verstehen, doch der verschlossene Gesichtsausdruck Keitenburgs machte deutlich, dass es besser war, jetzt nicht genauer nachzufragen. Und so stapften sie schweigend zum Haus, wo sich Julius mit einem Schulterklopfen noch einmal bei Alex bedankte, bevor die beiden Kommissare wieder alleine waren.

»Der weiß doch genau, wer dahinter steckt, meinst du nicht?«, entfuhr es Kathleen.

»Sehr gut verstellen kann er sich nicht, aber es ist auch offensichtlich, dass er das lieber für sich behalten will. Entweder wir forschen bei Frau Kunze nach oder wir fragen Jasmin.«

»Dann doch lieber Jasmin. Nicht, dass es Frau Kunze verdächtig vorkommt, dass wir so viele Fragen haben«, sagte Kathleen und biss an ihrer Nagelhaut herum.

»Da müssen wir aber noch ein Weilchen warten. Sie ist vorhin weggefahren.«

»Und was jetzt? Schauen wir uns auf der anderen Seite noch um? Lass uns über den Hof gehen.«

Alex nickte. Im Moment kamen sie sonst sowieso nicht weiter.