18. Kapitel

Alex lag im Bett und starrte an die Decke, während er sein Handy auf der Brust umklammerte. Er hatte Probleme gehabt einzuschlafen. Zum einen machte er sich Gedanken, wie sie die Suche morgen angehen sollten, worüber er liebend gerne mit Kathleen geredet hätte, aber sie war auch um Mitternacht noch nicht zurückgekehrt. Zum anderen machte er sich Sorgen wegen Susa. Er hatte sie jetzt mehr als zwei Tage nicht mehr erreicht. Als es heute Morgen auch nicht klappte, beschloss er, seine Eltern anzurufen, um sie zu bitten, nach ihr zu sehen. Nervös lief er im Zimmer auf und ab und wählte ihre Nummer.

Es war noch ziemlich früh, aber Alex wusste, dass seine Eltern Frühaufsteher waren. Sie brachten es wirklich fertig, eine halbe Stunde früher aufzustehen, um die Zeit zu haben, gemeinsam in Ruhe zu frühstücken. Das zogen sie sogar durch, wenn seine Mutter Frühdienst hatte. Allerdings legte sich sein Vater um fünf Uhr dreißig, wenn sie losgefahren war, noch einmal aufs Ohr.

Jetzt allerdings klingelte das Telefon lange, ohne dass jemand den Anruf entgegennahm. Alex wollte schon resigniert auflegen, als ein gehetztes »Ja?« erklang.

»Mama?«, fragte er verdutzt.

»Alexander, bist du das? Ich hab’s eilig, ich will noch mal rasch bei Susa vorbeischauen.« Sie klang kurzatmig. Offenbar war sie gerannt, um das Telefon zu erreichen.

»Genau deswegen rufe ich an. Ich versuche seit zwei Tagen, sie zu erreichen und …«

»Ja, weißt du es denn nicht?« Eine plötzliche Kälte ergriff von Alex Besitz. Er hatte doch gewusst, dass etwas nicht stimmte. Aber bevor er etwas sagen konnte, fuhr seine Mutter fort: »Sie hat starke Blutungen seit vorgestern. Sie ist im Krankenhaus.« Ihre Stimme klang weit entfernt. Alex bemerkte, wie er schwankte, und setzte sich schnell aufs Bett.

»Ist etwas … ist mit dem Kind alles in Ordnung?«, krächzte er.

»Das kann man noch nicht sagen. Gestern hat man noch einen Herzschlag auf dem Ultraschall gesehen. Aber es muss natürlich eine Ursache für den Blutverlust geben …« Sie ließ die letzten Worte verhallen.

»Und Susa? Wie geht es ihr?«, fragte Alex leise. Das ganze Zimmer drehte sich plötzlich. Langsam ließ er sich nach hinten sinken.

»Nicht gut, natürlich. Ich denke, sie könnte dich jetzt sehr gut an ihrer Seite brauchen, Alexander.« Trotz seiner Aufgelöstheit konnte er den Vorwurf in ihrer Stimme deutlich hören. Du hast sie geschwängert und lässt sie jetzt alleine.

»Mama, ich bin mitten in einer Undercover-Ermittlung. Ich kann jetzt nicht weg. Ich tue mein Bestes, vielleicht kann ich mal kurz zwischendurch …«

»Du solltest deine Prioritäten mal überdenken, Alexander. So, ich muss jetzt. Ich habe Susa versprochen, ein paar Sachen vorbeizubringen.« Damit legte sie auf. Kein Wort des Abschieds, keine guten Wünsche. Sie war offenbar richtig sauer. Aber was sollte er denn tun? Sie mussten den Grafen finden, dann war er frei, aber was sollte er denn sagen, warum er ein paar Tage weg musste? Und konnte er Kathleen einfach so im Stich lassen? Nein, im Moment war das unmöglich.

Das Zimmer drehte sich langsamer. Alex atmete schwer, dann setzte er sich auf. Er hatte keine Zeit, sich gehen zu lassen. Susa brauchte ihn, aber er musste erst mal diesen blöden Fall von diesem hinterfotzigen Adeligen lösen. Ein furchtbarer Typ eigentlich: Mord, Stasi und dann einfach verschwinden, wenn es brenzlig wurde. Trotzdem schien er zumindest zu Jasmin eine äußerst liebevolle Beziehung gehabt zu haben. Aber sie würden ihn schnappen, und dann konnte er sich auch für den Mord an seinem Cousin vor Gericht verantworten, dafür würde er persönlich sorgen. Mit immer noch wackeligen Knien begann Alex sich langsam anzuziehen. Egal, wann Kathleen gestern wiedergekommen war: Die Arbeit rief!

 

Sie hatten den Tag damit verbracht, mehrere Häuser auch von anderen Adelsfamilien abzufahren, deren Adressen die von Keitenburgs ihnen genannt hatten, doch alle standen leer und das offenbar schon eine Weile. Es gab keine Spur von dem verschwundenen Familienoberhaupt. Entsprechend schlecht gelaunt kamen sie am späten Nachmittag wieder auf Schloss Keit an. Sie waren spät dran, denn in einer halben Stunde sollte bereits der Empfang beginnen, der das Jagdwochenende einläutete.

Kathleens ohnehin schlechte Laune war durch ein Telefongespräch mit Mattis, während Alex fuhr, noch mehr in den Keller gerauscht. Sie hatte lange mit ihm geredet, mindestens zwanzig Minuten, und war damit beschäftigt gewesen, ihren offensichtlich aufgebrachten Sohn zu beruhigen. Was Alex rausgehört hatte, war, dass er keinesfalls länger bei seinem Vater und seiner Neuen bleiben wollte. Kathleen hatte mit Engelszungen auf ihn eingeredet und darauf vertröstet, dass sie schon bald zurück sein und sie dann viel Spaß zusammen haben würden, aber er hatte sich nicht erweichen lassen und bestand darauf, dass sie ihn abholte oder er zu Nora durfte. Mit hochrotem Kopf hatte Kathleen das Gespräch beendet und mit einem saftigen Fluch ihr Handy auf den Boden des Beifahrersitzes geschleudert.

Alex sah sie kurz mitleidig an, sagte aber nichts. Was hätte er sagen sollen, das ihr half? Im Grunde stand sie unter genauso großem Druck wie er, den Abtrünnigen zu finden, um sich dann endlich um die Baustellen in ihrem Privatleben kümmern zu können, auch wenn das bei Kathleen hieß, dass sie sich von ihrem adeligen Lover verabschieden musste.

Der Empfang rauschte an Alex vorbei, ohne dass er nachher hätte sagen können, mit wem er alles geredet hatte. Nur Mark von Ruhleben hatte er noch genau in Erinnerung, was aber nicht so sehr an der interessanten Unterhaltung lag, sondern vielmehr daran, dass mitten im Gespräch sein Handy läutete. Alex warf mit einer gemurmelten Entschuldigung einen Blick auf das Display und sagte dann knapp zu dem jungen Adeligen mit der auffallend großen Nase und dem breiten Mund: »Ein wichtiger Anruf, den ich bereits erwartet habe. Ich bin gleich wieder da.« Mit einem wohlwollenden Nicken wurde er entlassen und beeilte sich, den mehr als gut gefüllten Salon zu verlassen, um das Gespräch noch rechtzeitig annehmen zu können.

Endlich war er draußen und drückte sofort auf die Gesprächstaste. »Hallo?«, rief er, während er die Treppe hinaufspurtete, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm.

»Alexander. Gibt es was Neues bei euch?«, dröhnte ihm die Stimme von Michael Varenke entgegen.

»Ist im Moment schlecht. Willst du vielleicht erst mal erzählen?«

Alex hielt immer wieder den Atem an, während er auf das lauschte, was ihm sein Chef zu berichten hatte. Endlich hatte er sein Zimmer erreicht. Mit einem Satz war er drinnen und warf die Tür hinter sich zu.

»Das ist ja wundervoll. Und die Adoption?« Er lauschte auf Varenkes Stimme, dann sagte er: »Ja, das habe ich mir gedacht. Bei uns ist auch ein bisschen was passiert.« Schnell informierte Alex ihn über den eindeutigen Brief und ihre heute erfolglose Suche. Sie verabredeten ein Gespräch für morgen Abend und legten auf.

Mit einem Seufzer ließ sich Alex aufs Bett fallen. Dieser Graf Felix war wirklich ein schlimmer Finger, auch wenn die Stasi ihren Teil zu seinem Verfall beigetragen hatte. Die Adoption war offensichtlich auf Druck der Stasi zustande gekommen. Ob Ariane davon wusste? Sie war die Tochter von sogenannten Republikverrätern und ihre Eltern, die vom DDR-Regime ins Gefängnis geworfen wurden, im Alter von drei Jahren weggenommen worden. In derselben Nacht noch war sie Graf von Keitenburg übergeben worden, der sie prompt adoptierte. Kein Wunder, dass sie ein gespaltenes Verhältnis zu ihrem Vater hatte. Stasi-Spion war er geworden, weil die Stasi von dem Mord an Maxim irgendwie Wind bekommen hatte. Damit hatten sie ihn erpresst, und er hatte brav ein paar Jahre Insiderwissen aus bundesdeutschen Adels- und Politikerkreisen geliefert. Du liebe Güte, das Ganze nahm immer größere Ausmaße an. Ob sie jemals wieder hier wegkamen? Und morgen früh musste er sich auf ein Pferd schwingen und einer Hundemeute in der Kälte hinterherjagen. Das Leben war nicht fair!