Es war unglaublich befreiend, aus den zu engen Reitklamotten zu schlüpfen und wieder Jeans und Hemd überzustreifen. Diese Episode mit dem Reiten wollte Alex so schnell wie möglich vergessen. Man musste seine Grenzen kennen. Bei dem großen Adelsball auf Schloss Charlottenburg in Berlin, der demnächst anstand, würde er eine deutlich bessere Figur machen. Tanzen hatte er wenigstens gelernt.
Bis die anderen von der Jagd zurückkamen, würde es noch ein wenig dauern. Ob er noch mal einen Blick in das Büro werfen sollte? Aber das konnte er nicht riskieren. Im Schloss wimmelte es heute von Personal, wobei er keine Ahnung hatte, wo die ganzen Leute plötzlich herkamen. Doch das brachte ihn auf eine Idee: Er hatte noch niemanden vom Personal befragt. Vielleicht hatte Frau Kunze ja eine Vermutung, wo sich der abtrünnige Graf versteckt halten konnte.
In der Küche herrschte ein geschäftiges Hin- und Herrennen. Erstaunlicherweise war es dabei still. Außer dem Klappern der Töpfe, dem Klacken von Messern auf Brettern und dem Brutzeln des Fleisches in den Pfannen war kein Geräusch zu hören. Jeder schien zu wissen, was er zu tun hatte. Frau Kunze griff gerade nach einem großen Tablett und wollte zur Tür hinaus. Das war seine Chance. Der Gentleman lag ihm.
»Lassen Sie mich das nehmen«, sagte er, kaum dass sie im Flur war, und griff nach dem Tablett.
Überrascht sah sie auf. Ihr Gesicht war verschwitzt und rot von der Anstrengung, aber jetzt lächelte sie.
»Oh nein, bitte, das geht doch nicht, Herr von Uten«, protestierte sie.
»Ich bestehe darauf. Wo geht es hin? Ich hoffe, Sie weisen mir den Weg.« Alex strahlte sie an, während er das schwere Ding vor der Brust balancierte.
»Oh, na dann … Ins Esszimmer bitte.« Und damit ging sie ihm voraus. Der Weg zog sich ganz schön. Sehr praktisch waren diese alten Schlösser nicht wirklich, wenn das Esszimmer einen Tagesmarsch von der Küche entfernt lag, aber wahrscheinlich wollte man nicht durch Küchengerüche belästigt werden, wenn man speiste, und für den Rest gab es ja schließlich Personal. Doch das erklärte auch, warum die Familie Keitenburg, wenn sie unter sich war, ausschließlich in der Küche aß.
Das Tablett wurde mit jedem Schritt schwerer, und Alex verwarf seinen Plan, ein ungezwungenes Gespräch mit Frau Kunze während des Laufens zu beginnen. Jetzt hatten sie das Esszimmer endlich erreicht. Er schnaufte ziemlich, musste er sich eingestehen, als er das schwere Tablett vorsichtig auf dem Tisch absetzte. Er war schon vollständig gedeckt und bot Platz für bestimmt dreißig, vierzig Leute.
»Vielen Dank, Herr von Uten. Den Rest schaffe ich schon alleine«, sagte Frau Kunze jetzt und begann geschäftig herumzuräumen. Doch so schnell ließ sich Alex nicht abwimmeln.
»Das sieht aber sehr schön aus.« Er lächelte die Haushälterin an.
Die ließ sich von ihrer Arbeit nicht ablenken, sondern sagte nur knapp: »Vielen Dank, wir machen das alles nach den Plänen des Herrn Grafen.«
»Ach! Des alten oder des neuen?«, fragte Alex interessiert.
»Des alten natürlich. Graf Felix legt Wert auf Details. Außerdem ist Julius noch nicht Graf«, antwortete sie, und Alex meinte, einen ein wenig beleidigten Klang herauszuhören.
»Natürlich. Das wird er erst nach dem Ableben seines Vaters, nicht wahr?«
Jetzt sah Frau Kunze mit einem strafenden Blick auf. »Diese Unterhaltung halte ich in der jetzigen Situation für ein wenig unpassend«, rügte sie ihn, bevor sie sich wieder über den Tisch beugte.
»Wir wollen alle, dass der Graf bald wieder putzmunter auftaucht«, versicherte ihr Alex. »Dabei fällt mir ein: Die Familie hat mich und meine Schwester damit beauftragt, mögliche Zufluchtsorte abzusuchen. Hätten Sie noch eine Idee, wo der Graf sein könnte?«
Ihr Gesicht zuckte hoch. »Glauben Sie, dass Sie ihn finden können, Herr von Uten?«, fragte sie mit glänzenden Augen.
»Das hoffe ich doch sehr. Wir haben unsere Hilfe angeboten, und das Angebot wurde gerne angenommen. Also denken Sie scharf nach, Frau Kunze, jeder Hinweis kann uns helfen«, sagte Alex mit Nachdruck, lächelte die aufgeregte Frau aber dabei an. »Ich verspreche Ihnen, dass wir ihn aufspüren werden.«
Jetzt nickte die kleine Frau, während sie die Lippen aufeinanderpresste, dann begann sie zögernd zu erzählen. Alex hörte gespannt zu und fragte nach.
Zehn Minuten später ging er nachdenklich den Flur hinunter. Wenn das stimmte, was Frau Kunze erzählt hatte, hatten sie vielleicht endlich eine Spur.
Noch bevor er den Treppenabsatz erreicht hatte, hörte er Stimmen aus dem Hof näherkommen. Instinktiv lief er die letzten Schritte schneller und versteckte sich hinter der hohen Säule, die die Treppe säumte. Vorsichtig lugte er hinunter. Er erkannte die hochgewachsene Gestalt Schambachs, der immer noch seinen Reitdress trug. Er hatte den Arm um eine wesentlich kleinere Person gelegt, die er sorgsam führte. Jetzt hatten sie die Halle erreicht, und Alex konnte hören, was sie sagten.
»Das ist doch gar kein Problem. Es wird dir guttun, warte nur ab. Pass auf, Stufe. Gut so. Du springst herum wie ein junges Mädchen. Weißt du noch, wo hier der Salon ist?«, säuselte der große Mann.
Ungläubig starrte Alex auf die ungewöhnliche Szene. Schambach hatte eine seltsame Art, mit Frauen umzugehen.
Die Frau sprach sehr leise, sodass Alex nicht verstehen konnte, was sie sagte, doch jetzt ergriff wieder Schambach das Wort. »Dafür werde ich selbstverständlich sorgen. Solange ich lebe, wird es dir an nichts fehlen, Mutter, vor allem nicht an Gin Tonics.«
Jetzt hatten die beiden die Halle mit langsamen Schritten durchquert, und ihre Stimmen verhallten im Gang.
Alex drehte sich um und ging weiter. Ein bisschen hatte er ja ein schlechtes Gewissen. Es wirkte intim, Schambach und seine Mutter zu belauschen, zumal die beiden eine außergewöhnlich innige Beziehung zu haben schienen. Schambach schien die Jagd für seine Mutter abgebrochen zu haben, denn noch war es im Hof still. Alex konnte sich nicht vorstellen, so mit seiner Mutter umzugehen. Wahrscheinlich hätte die ihn ungläubig angesehen und ihn dann zum Duschen geschickt, um sich wieder abzukühlen. Na ja, jeder Mensch war anders. Wenn nur Kathleen jetzt da wäre, dann hätte er mit ihr besprechen können, was er von Frau Kunze erfahren hatte. Ungeduldig sah er auf die Uhr. Wahrscheinlich dauerte es noch ein bisschen, bis die Jäger zurück waren. Zeit, sich für einen kurzen Moment aufs Ohr zu hauen.
Eine Stunde später war das Schloss erfüllt von angeregten Stimmen, aufgekratzten Menschen und einem intensiven Pferdegeruch.
Alex hatte sich unter das Adelsvolk gemischt, das den Salon bevölkerte und sich über die augenscheinlich aufregende Jagd austauschte. Aus dem Augenwinkel hatte Alex gesehen, dass im Hof die toten Hasen, Rehe und Wildschweine lagen, und er hatte schnell wieder weggesehen. Dieses Gemetzel war so gar nicht seins. Er musste Jasmin wegen Frau Kunzes Hinweis befragen, denn der Besuch dieses Ortes würde eine längere Fahrt erfordern, aber sie war als Gastgeberin naturgemäß sehr beschäftigt. Gerade reichte sie mit Ariane zusammen wieder Gläser mit dem Teufelszeug herum. Furchtbar, er musste darauf achten, sich von den beiden fernzuhalten.
Alex sah sich um. Wo steckte eigentlich Kathleen? Die hatte er seit der Jagd nicht mehr gesehen, aber auch jetzt war es zu voll, um seine nicht ganz so groß gewachsene Kollegin zu erspähen. Mitten im Raum stand Schambach. Er sprach laut und mit donnernder Stimme. Keine Frage, der Mann hatte Ausstrahlung, denn nicht wenige drängten sich um ihn und hingen an seinen Lippen. Immer wieder blickte er fürsorglich in die Ecke, in der seine Mutter mit einem Drink in der Hand in einem Ohrensessel thronte. Das war kein Ort, um Informationen über das Opfer herauszufinden.
Alex drehte sich suchend um. In einer Ecke stand eine kleinere Gruppe von Männern. Jeder von ihnen hatte schon ein Glas des Teufelszeugs in der Hand, sodass er dort vermutlich sicher davor war, auch von dem Mist trinken zu müssen. Als er näher kam, bemerkte er überrascht Kathleen, die in einer anderen Gruppe stand. Erstaunlicherweise stand sie mal nicht neben ihrem Adelsheini, sondern hatte etwas Abstand zu ihm, und die Blicke, die sie ihm zwischendrin immer wieder zuwarf, wirkten nicht gerade glücklich. Hmm, ob bei der Jagd irgendetwas zwischen den beiden passiert war?
Doch dafür hatte er jetzt keine Zeit. Fast hatte er die Gruppe erreicht, die er angesteuert hatte, da fiel ihm ein Mann auf, der mit seinem Glas in der Hand ein wenig unglücklich da stand. Das konnte natürlich an seiner Größe liegen, denn er überragte die Anwesenden um mindestens anderthalb Köpfe, oder aber an seiner dicken Brille. Das war seine Chance. Alex näherte sich ihm lächelnd und sagte: »Angenehme Jagd gehabt?« Er hätte ja auch noch einen Gruß vorweggeschickt, aber er wusste beim besten Willen nicht, was man als Jäger so sagte. Petri Heil oder Hals- und Beinbruch? Vielleicht ja so etwas Ähnliches wie Glück auf? Bevor er seinen Gedanken weiter nachhängen konnte, hatte sich der Mann mit der dicken Brille ihm zugewandt. Er lächelte unsicher, dann sagte er: »Ich bin nicht der geborene Jäger. Meine Augen sind einfach zu schlecht.« Seine Stimme klang ein wenig quäkend.
»Geht mir ganz genauso. Ist auch nicht meins«, beeilte sich Alex zu sagen.
»Ich habe deinen Namen vergessen. Du bist der Typ aus Uruguay, nicht wahr?«
»Genau. Oscar von Uten. Und wer bist du?«
»Johannes Bechten. Das Von lasse ich immer gerne weg. Das verstört meine Kundschaft ein bisschen.«
»Ach«, sagte Alex. »Wieso?«
»Ich bin Sozialarbeiter. Streetworker. Obdachlose lassen sich von Adelstiteln manchmal einschüchtern.« Er sagte das ganz ernst, aber Alex musste sich ein Lachen verkneifen. Johannes wirkte so ganz und gar nicht wie ein Streetworker. Er war furchtbar steif und unbeholfen, was aber auch an dem Reitanzug liegen konnte, der ihn offenbar ein wenig einengte.
»Wie schön. Und wie ungewöhnlich für einen Adeligen«, sagte Alex schließlich.
»Ein wirklich schöner Beruf. Und eigentlich entspricht er dem Kodex des Adels aufs Trefflichste: Tue Gutes, hilf anderen. Seltsamerweise finden manche die direkte Art meiner Arbeit dann doch verstörend.« Er sah unglücklich aus, der gute Johannes.
Alex beeilte sich, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. »Da hast du sicher berufsbedingt einen ganz anderen Ansatz zum Verschwinden von Felix von Keitenburg, oder?«
Überrascht blinzelte Johannes ihn an. »Ja, ja, das kann durchaus sein«, murmelte er. »Man muss ja die Gesamtsituation betrachten und dann sehen, welche Probleme da sind, die jemanden zu einem solchen Schritt leiten«, sagte er dann nebulös.
Jetzt war es an Alex, verblüfft auszusehen. »Das erscheint mir überaus klug.«
Nun war Johannes in Plauderlaune. Er leerte mit einem Zug das Glas mit dem Teufelszeug, dann beugte er sich konspirativ zu Alex herunter. »Es gibt durchaus Gründe, warum der Graf verschwunden sein könnte, aber im Vergleich zu meinen sonstigen Kunden fällt er ja weich.« Alex nickte ermutigend und brauchte auch nicht lange zu warten, bevor Johannes fortfuhr: »Wenn ich ein so nettes Häuschen in den Tiroler Bergen hätte, würde ich im Zweifel auch dort Zuflucht suchen.«
Alex blickte elektrisiert auf. Das Tiroler Häuschen hatte auch Frau Kunze schon erwähnt, während die Kinder das Grafen das geflissentlich vergessen hatten. Es war möglich, dass er sich dort versteckte, bis er alles Übrige geregelt hatte und wusste, wo er den Rest seines Lebens verbringen würde. Doch Johannes redete auch schon weiter.
»Ich habe gehört, dass er dort gesehen wurde. Die Haushälterin meiner Mutter hat eine alte Freundin in der Gegend.« Jetzt schwankte er leicht, dann sagte er mit vom Alkohol erhitztem Gesicht: »Er hat es auch nicht so leicht, der gute Felix.«
Alex sah ihn an. Begann er etwa zu weinen? Dann war er für den Job auf jeden Fall völlig ungeeignet. Was man als Streetworker zu sehen bekam, war doch um einiges härter als das, was Graf Felix zu erleiden hatte.
Er hätte ja gerne von Johannes noch gehört, was das Leben des Verschwunden so furchtbar machte, aber in dem Moment wurden die Türen zum Speisesaal geöffnet, und eine Klingel ertönte, sodass alle zu Tisch eilten, auch Johannes schien es jetzt eilig zu haben, Essen zu fassen. Aber zumindest warf das ein neues Licht auf den Fall: Wenn sich der Graf in einer familieneigenen Hütte in den Bergen aufhielt, warum kam dann keines seiner Kinder auf die Idee, ihn dort zu suchen? Stattdessen wurden er und Kathleen hier mühevoll eingeschleust. War das Einschalten der Polizei nur ein Ablenkungsmanöver, um den Betrug echter aussehen zu lassen? Apropos: Wo steckte eigentlich Kathleen?