Das sonore Summen seines Handys riss Alex nach nur wenigen Stunden aus dem Schlaf. Mit geschlossen Augen tastete er danach. Es fühlte sich an, als wäre er gerade erst eingeschlafen.
»Ja?«, krächzte er. Fahles Licht fiel in sein Zimmer, und sein Hals kratzte.
»Alexander? Warum gehst du nicht ans Handy? Ich versuche dich schon seit einer Stunde zu erreichen?«
»Mutter?« Er setzte sich auf, das Handy ans Ohr gepresst.
»Selbstverständlich. Es ist eine Sache, dass du dich bei uns nie meldest, aber eine Frage: Hast du deine schwangere Verlobte völlig vergessen?«
»Natürlich nicht. Im Moment ist es nur …«
»Ach, papperlapapp, egal was ist, Susa muss im Moment Priorität bei dir haben. Du bist schließlich nicht unschuldig daran, wie es ihr geht. Warum nimmst du dir nicht einfach ein paar Tage Urlaub und kommst hierher?« Ihre Stimme klang schneidend. Das kannte er. Es bedeutete: Egal, was du sagst; du kannst nicht gewinnen.
»Das würde ich ja gerne, aber ich sitze hier im Schloss, und der Vermisste ist tot und …«, setzte er trotzdem zu einer Erklärung an, doch seine Mutter schnitt ihm das Wort ab.
»Überleg dir gut, was du tust. Wenn sie das Baby verliert und du hast dich nicht um sie gekümmert, kannst du die Beziehung in die Tonne klopfen.« Die Wortwahl war untypisch für seine Mutter und zeugte von ihrer Erregtheit.
»Ich werd sehen, was ich tun kann. Und vielleicht kannst du mal dafür sorgen, dass ich mit Susa persönlich sprechen kann. Es muss doch möglich sein, ihr mal ein Handy in die Hand zu drücken, wenn ihres entladen oder sonst was ist.« Er bemerkte selbst den zickigen Tonfall, den er angeschlagen hatte, aber er konnte es nicht ändern. Natürlich machte er sich Sorgen um Susa und wäre am liebsten bei ihr gewesen, doch jetzt war der alte Keitenburg auch noch tot und nicht nur verschwunden, und das hieß, dass er nicht einfach hier abhauen konnte, um seine Freundin im Krankenhaus zu besuchen, die es für Oscar von Uten hier ja gar nicht gab.
Die Reaktion seiner Mutter kam prompt: Sie legte einfach auf. Ganz wunderbar, statt ihn in dieser angespannten Situation zu unterstützen, machte sie auch noch Druck auf ihn.
Er schleuderte das Handy wütend auf den Boden und legte sich wieder hin. Trotz aller Mühe schaffte er es jedoch nicht, wieder einzuschlafen. Seufzend stand er auf und schlurfte ins Badezimmer. Eine Dusche würde jetzt vielleicht helfen. Und Hunger hatte er auch. Kunststück, er hatte seit gestern Mittag nichts mehr gegessen. Aber erst mal eine heiße Dusche, dann würde vielleicht alles besser.
Doch er fühlte sich immer noch zerschlagen, als er sich abtrocknete. Er war gerade dabei, seinen Gürtel zu schließen, als die Tür aufgestoßen wurde und eine ziemlich wirr aussehende Kathleen in sein Zimmer stürmte. Ihre Haare standen von ihrem Kopf ab, und sie trug nur ein überdimensionales T-Shirt auf dem Klasse, wir singen stand.
»Hat er dich auch angerufen?«, fragte sie atemlos.
»Guten Morgen erst mal. Hast du schon mal was von anklopfen gehört? Vor einer halben Minute stand ich hier noch nackt.«
Irritiert blickte sie an ihm herab, dann wedelte sie mit der Hand, wie um seinen Einwurf zu verscheuchen. »Varenke hat angerufen. Die Presse macht Druck. Sie haben irgendwie von Keitenburgs Tod erfahren. Er hat gute Verbindungen in die Politik gehabt, und jetzt ist das Ganze eine höchst offizielle Sache. Man will den Mörder, am besten vorgestern.«
»Wir tun ja, was wir können …«, begann Alex, aber Kathleen ließ sich auf sein Bett plumpsen, zog die Beine an den Körper und redete einfach weiter.
»Er hat gesagt, sie haben darüber beraten, und wir sollen unsere Tarnung vorerst aufrechterhalten, aber damit sie den Eindruck haben, dass ein Polizist vor Ort ist, und damit es schneller vorangeht, schickt er Verstärkung. Und jetzt halt dich fest: Es ist Lukas.« Kathleen rollte mit den Augen.
Alex allerdings fühlte eine plötzliche Schwere, die von ihm schlagartig Besitz ergriff.
»Du machst Witze, oder?«, krächzte er. Sein Hals fühlte sich auf einmal wieder ganz rau an.
Wortlos schüttelte Kathleen den Kopf und sah ihn einfach nur an.
»Scheiße, wie stellt er sich das denn vor? Lukas ist doch zu blöd, so zu tun, als würden wir uns nicht kennen. Das war einer der größten Vorteile dieses Falles: Weit weg von Lukas sein zu können. Und jetzt? Nee, Kathleen, sag, dass das ein verfrühter Aprilscherz war, bitte.« Jetzt ließ sich auch Alex aufs Bett plumpsen. Seine ganze Energie war mit einem Mal wie weggeblasen.
»Er kommt heute gegen Mittag«, sagte sie und zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Wir sollten sehen, dass wir vorher mit der Familie sprechen und so viele Infos wie möglich zusammen bekommen, bevor Lukas hier wieder den Elefanten im Porzellanladen gibt. Ach ja: Der Bericht der Kollegen aus Österreich ist auch da. Er hat ihn mir per WhatsApp geschickt. Ist aber auf den ersten Blick nichts Spektakuläres. Ein Haufen Fingerabdrücke von Dutzenden von Leuten, keiner bisher bekannt. In zehn Minuten in der Küche, okay?« Damit stand sie auf und lief zur Tür.
Alex seufzte tief, dann sagte er: »In zehn Minuten«, und ließ seinen Oberkörper zurück aufs Bett sinken.
Als die beiden Kommissare nach einem hastigen Frühstück an die Tür des Büros klopften, herrschte dort schon ein emsiges Treiben. Jasmin und Julius saßen gemeinsam am Computer und starrten auf dem Bildschirm.
Alex klopfte an den Rahmen der offen stehenden Tür. Alle Köpfe fuhren herum und sahen die beiden Neuankömmlinge überrascht an. Dann erhob sich Jasmin und machte eine einladende Handbewegung.
»Guten Morgen, ihr beiden. Kommt doch herein. Julius und ich sind gerade auf der Suche nach einem passenden Bestattungsunternehmen.«
Er hatte Verzweiflung erwartet, Fassungslosigkeit, aber nicht diese sachliche Abgeklärtheit. Alex warf Kathleen einen irritierten Blick zu.
»Wir werden das mit Ariane abstimmen. Nun zu euch: Jasmin hat mich eingeweiht. Es war natürlich falsch, das hinter meinem Rücken zu machen, aber nun ist es nicht mehr zu ändern. Ich hoffe nur, dass sie ihre Lehren aus ihren Fehlern zieht«, sagte er mit einem scharfen Blick in Jasmins Richtung. Die senkte ihren Blick, erwiderte aber nichts. Julius fuhr fort: »Wir sind darin übereingekommen, dass es aus ermittlungstechnischen Gründen wahrscheinlich günstiger sein wird, euer Inkognito aufrecht zu erhalten. Allerdings erwarte ich zügige Arbeit. Wir sind damit beschäftigt, die Beerdigung zu organisieren. Das geplante Poloturnier werden wir ein paar Wochen nach hinten verschieben müssen, wobei wir dann natürlich Probleme mit anderen Terminen bekommen werden. Sehr ärgerlich! Von euch beiden erwarte ich zeitgleich lückenlose Aufklärung der Vorkommnisse. Schlimm genug, dass es überhaupt zum Tod meines Vaters kommen musste. Ein schnelleres Eingreifen hätte diese Konsequenz möglicherweise verhindern können.« Julius’ Eulengesicht war blasser als sonst, aber gefasst.
Alex wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als Ariane im Laufschritt den Raum betrat. Sie war von oben bis unten in schwarze Spitze gehüllt, was ihr zusammen mit den zu einem Knoten aufgesteckten Haaren und dem elegischen Gesichtsausdruck das Aussehen einer Filmdiva der Dreißiger verlieh. Sie war wunderschön, aber dabei wirkte sie kalt wie ein Fisch.
Alex schüttelte unwillig den Kopf. Herrje, trauerte hier denn niemand richtig? Oder entsprach das nicht der erwarteten Contenance? Irgendwie wirkte alles inszeniert und wenig echt. Da war ihm das laute Wehklagen seiner Mutter sogar lieber. Die Geschwister umarmten Ariane gemessen und wandten sich dann wieder dem Monitor zu, ohne die beiden Kommissare weiter zu beachten.
Alex und Kathleen sahen sich an. Dann schlenderte Kathleen langsam zu der Gruppe hinüber und lugte über die Schultern auf den Bildschirm.
Alex wartete einen Moment und räusperte sich dann laut.
Nur Jasmin blickte auf, lächelte kurz und wandte sich dann wieder dem Monitor zu.
»Wir müssen reden: Wenn wir Ergebnisse liefern sollen, müssen wir ein paar Fragen klären. Zum Beispiel: Wer kommt aus Adelskreisen in Betracht? Mit wem hatte euer Vater Fehden oder ungeklärte Probleme? Alles kann uns helfen.«
»Offenkundig sind wir gerade beschäftigt, aber wir können gerne einen Termin vereinbaren, um offene Fragen anzugehen«, sagte Julius, ohne aufzublicken. Auch die beiden anderen Keitenburg-Kinder reagierten nicht. Sie waren es gewohnt, dass die Männer der Familie die Entscheidungen für sie trafen.
Jetzt platzte Alex der Kragen. Er holte tief Luft und bemühte sich noch, bis zehn zu zählen, um seinen Ärger etwas abflauen zu lassen, platzte dann aber heraus: »Schluss damit, Keitenburg, ich bin keiner Ihrer Angestellten. Ich ermittle im Mordfall Ihres Vaters. Und wenn ich Antworten verlange, dann liefern Sie und zwar unverzüglich. Sonst haben wir hier den Tatbestand der Störung von Amtshandlungen gemäß § 164 StPO vorliegen, und ich könnte Sie alle festnehmen. Das dürfte Ihnen weitaus weniger gefallen als ein paar Minuten Gespräch mit uns.« Alex spürte, wie sein Kopf rot wurde und ärgerte sich darüber, aber Julius zeigte zumindest endlich eine Reaktion.
Er blickte mit gefurchter Stirn auf und musterte Alex. Offenbar überlegte er, was er von dessen Wortschwall halten sollte. Dann antwortete er zögernd: »Na schön, dann lassen Sie hören. Aber beeilen Sie sich, ich bin sehr beschäftigt.« Während er sprach, hob er das Kinn. Auch seine Schwestern sahen jetzt auf. Ariane schien ebenfalls Bescheid zu wissen, dass sie keine Adeligen waren, denn auf ihrem ebenmäßigen Gesicht war keine Spur von Verwunderung zu erkennen.
Alex nahm Julius noch ein paar Sekunden wütend aufs Korn, dann hatte er sich gefasst und wandte sich Kathleen zu. »Schreibst du mit?«
Sie nickte. »Aber dann brauche ich noch …«
»Hier«, wurde sie barsch von Julius unterbrochen, der ihr einen Block und einen edlen Kugelschreiber zuschob. »Können wir dann endlich beginnen?«
»Natürlich: Wer kommt als Mörder Ihres Vaters in Frage?«, sagte Alex schnell und hob ebenfalls das Kinn. Es war eine Machtprobe zwischen ihnen, das war deutlich zu spüren, aber jetzt kam es vor allem auf die Ergebnisse an.
Nachdem sie zwanzig Minuten Katz-und-Maus mit den Keitenburg-Kindern gespielt hatten, die sich erst schwer taten, dann aber endlich gesprächig wurden, nachdem Alex noch einmal das Strafgesetzbuch zitiert hatte, waren auf einmal schwere Schritte auf dem Flur zu hören.
Alle drehten erwartungsvoll die Köpfe.
Die Atmosphäre war ein bisschen so, wie wenn man als Kind voller Anspannung auf die näherkommenden Schritte des Weihnachtsmanns lauschte. Plötzlich sprang Jasmin von ihrem Stuhl auf und flog dem um die Ecke biegenden Mann um den Hals. Charlie, der in der Ecke geschlafen hatte, blickte überrascht über die Unruhe auf.
»Onkel Leopold«, seufzte Jasmin und begann völlig unvermittelt zu weinen. Sie hing an dem mindestens zwei Köpfe größeren, wie immer korrekt gekleideten Schambach, der das Spektakel sichtlich genoss. Er tätschelte Jasmin von Keitenburg den Rücken und murmelte etwas wie »Na, na, Mäuschen, wird schon wieder«, während er lächelte. Hinter ihm stand ein dümmlich grinsender Jungspund, der eine runde Harry-Potter-Brille und einen Pullover mit V-Ausschnitt trug und neben der gewaltigen Aura Schambachs irgendwie blass wirkte.
»Onkel Leopold, das ist aber nett, dass du vorbeischaust«, sagte jetzt Julius, der sich erhoben hatte und mit ausgestreckter Hand auf den großen Mann zuging, an dessen Hals immer noch seine Schwester hing.
»Ich musste doch sehen, ob ich meinem Patenkind in dieser schwierigen Situation nicht helfen kann. Das ist wirklich höchst ärgerlich mit Felix.« Er bemühte sich offensichtlich, seinem Gesicht einen traurigen Ausdruck zu verleihen, doch so ganz gelang ihm das nicht. Jasmin allerdings begann nach seinen Worten noch stärker zu schluchzen. Er drückte sie an sich und sah jetzt doch etwas betreten aus.
»Wann präsentieren Sie uns den Schuldigen?«, wandte sich Schambach plötzlich mit zusammengekniffenen Augen an Alex, der etwas abseits stand.
Alle Augen richteten sich auf Alex, dann aber fragte Jasmin immer noch schluchzend: »Woher … woher weißt du davon?«
»Hast du den mal auf einem Pferd gesehen? Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock, dass das keiner von uns ist.« In seinen Worten schwang etwas Anklagendes mit. »Hör zu, Freundchen, wir behalten dich im Auge. Ich habe einflussreiche Freunde. Ein Fingerschnipsen von mir und du bekommst kein Bein mehr auf den Boden. Nirgends. Also gib dir Mühe, klar? Und jetzt brauchen wir hier ein bisschen Ruhe. Huttner, begleiten Sie unseren Freund hinaus und sagen Sie Radloff, dass es ein wenig später wird. Ich kann mein Patenkind nicht in einem derartig aufgelösten Zustand zurücklassen.«
Sein Begleiter nickte eifrig und ging bereits zur Tür, die er Alex auffordernd aufhielt. »Selbstverständlich, Chef. Kann ich Ihnen einen kleinen Imbiss bringen lassen?« Sein wachsames Herumwittern erinnerte Alex an ein emsiges Kaninchen. Er sprach mit aufgeregter Stimme, als gäbe es nichts Spannenderes, als seinem Herrn zu dienen.
Alex warf einen fragenden Blick zu Kathleen, aber sie verzog keine Miene, sondern streichelte der abwesend dreinblickenden Ariane den Rücken und beachtete ihn gar nicht. Gut, sollte sie bleiben, vielleicht bekam sie ja noch irgendetwas Brauchbares heraus, während er wie ein kleiner Junge auf sein Zimmer geschickt wurde. Abrupt drehte sich Alex auf dem Absatz um und stürmte den Gang hinunter. Das devote Kaninchen ließ er weit hinter sich. Nach Fitness suchte Schambach seine Mitarbeiter offenbar nicht aus.