Alex ging wirklich auf sein Zimmer. Er wollte die Zeit nutzen, um seine Gedanken und die Fakten, die sie hatten, zu ordnen und vielleicht eine Spur zu entdecken. Er setzte sich mit einem Packen Papier, das die Umrisse von Schloss Keit mittig eingeprägt hatte, mit angezogenen Beinen auf sein Bett, schnappte sich einen Kugelschreiber von seinem Nachttisch und schrieb alles auf, was ihm in den Sinn kam. Am Ende hatte er fünf eng beschriebene Seiten. Unwillig schnalzte er mit der Zunge. So brachte das gar nichts. Er musste alles nach Personen ordnen und dann sehen, was ihm das sagte.
Eine halbe Stunde später hatte er alles neu untergliedert und ließ den Stift aus der schmerzenden Hand fallen. Viel schlauer als vorher war er allerdings nicht. Eine Menge Spuren, aber keine war wirklich heiß.
Wo blieb eigentlich Kathleen? Die saß doch wohl nicht immer noch im Büro herum und kraulte den Rücken der schönen Ariane. Wahrscheinlich hatte das Kaninchen seinen Vorschlag in die Tat umgesetzt, und die so fürchterlich Trauernden schlugen sich unten den Bauch voll. Da fiel ihm auf, wie hungrig er eigentlich war. Vorhin wollten sie so schnell wie möglich mit den Geschwistern reden und jetzt …
Er überlegte, ob er warten sollte, bis sich Schambach endlich verzogen hatte oder ob er dem Drängen seines knurrenden Magens nachgeben sollte. Doch während er noch überlegte, wurde die Tür aufgerissen. Empört sprang Alex auf. Er hatte Kathleen doch jetzt häufig genug erklärt, dass man vorher anklopfte. In der Tür stand allerdings nicht Kathleen, sondern jemand, mit dem er so früh noch nicht gerechnet hatte.
Er stieß die Luft aus, während er sich nach hinten zurück aufs Bett plumpsen ließ. »Ach, nee«, sagte er nur, während er den unwillkommenen Besucher anstarrte.
Der sah aber auch nicht so aus, als wäre er so glücklich, wieder auf Schloss Keit zu sein, jedenfalls polterte Lukas gleich los: »Glaubste, ich bin scharf darauf, wieder hier zu sein? Anordnung vom Chef. Also: Was habt ihr?«
Alex straffte den Rücken. »Gute Fahrt gehabt?«, presste er heraus, während er versuchte, den Schrecken über Lukas’ plötzliches Erscheinen zu verdauen.
»Laberst du jetzt auch um den heißen Brei herum? Ist doch scheißegal, wie die Fahrt war, jetzt bin ich ja hier. Also: Wo soll ich schlafen, was gibt’s zum Essen? Und habt ihr schon einen Verdächtigen?« Lukas blieb mitten im Raum stehen, was neben seinen Worten einen gewissen Druck auf Alex ausübte.
Er stand auf und reckte sich. »Viele Verdächtige, aber keine heiße Spur. Den Rest musst du mit der Familie klären. Ich bring dich runter. Wollte eh gerade los.«
»Mann, Mann, Mann, was macht ihr beiden hier eigentlich die ganze Zeit, außer in Honig und Eselsmilch zu baden? Der Chef dreht am Rad. Die ganze Zeit klingelt das Telefon; Politiker, Presse, alle wollen sie wissen, ob wir schon was haben. Und ihr schaukelt hier eure Eier und lasst es euch gut gehen, was?« Lukas’ Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt. Es war glasklar, dass er eine Gelegenheit suchte, seinem Dauerrivalen Alex ans Bein zu pinkeln. Doch den Zahn wollte er ihm so schnell wie möglich ziehen.
»Ist mir klar. Lass dieses Platzhirschgehabe. Wir tun unser Bestes. Jetzt geh nach unten, lass dir ein Zimmer zuweisen, dann reden wir weiter«, sagte Alex mit möglichst ruhiger Stimme.
Lukas warf ihm noch einen Blick über die Schulter zu, der nicht geeignet war, Alex’ Laune zu verbessern, bevor er das Zimmer endlich verließ. Der Hunger war ihm jetzt auch vergangen.
Eine Stunde später saßen sie mit Kathleen in ihrem Zimmer. Ihre Augen waren verquollen, als ob sie geheult hätte, aber Alex wollte sie in Gegenwart des nervigsten Kollegen aller Zeiten nicht fragen, was passiert war. Ob Schambach ihr auch die Hölle heiß gemacht hatte? Oder war etwas mit Mattis?
Besorgt sah Alex sie von der Seite an, doch jetzt war einfach nicht der richtige Moment, sich nach dem Seelenheil seiner Kollegin zu erkundigen. Erst mussten sie Lukas loswerden.
Der saß bräsig und zufrieden nach dem Bauernfrühstück, das Frau Kunze ihnen in der Küche serviert hatte, auf Kathleens Bett und pulte sich irgendetwas aus dem Zahn. Sein Verhalten war mehr als peinlich gewesen. Er war wie ein Walross durchs Schloss gefegt und hatte sich einen Teufel darum geschert, höflich oder zurückhaltend zu sein. Wenn er eine Tradition hatte, dann die, überall mit dem Kopf durch die Wand zu gehen.
Alex sah auf seine Notizen. »Ich fasse mal zusammen, was wir bisher haben«, begann er, und endlich nahm auch Lukas die Hand aus dem Mund, wischte sie an seinen Hosenbeinen ab und sah ihn an.
Als er geendet hatte, sagte Kathleen immer noch nichts, sondern sah weiterhin verheult aus, während sie ihn ansah.
»Wie, mehr habt ihr nicht? Was habt ihr die ganze Zeit gemacht? Die Eier …«
»Wir kennen deine Ansicht, vielen Dank!«, fiel Alex ihm ins Wort. »Die Frage ist doch eher: Wie machen wir jetzt weiter?«
»Ist doch klar wie Kloßbrühe: Wir nehmen uns alle zur Brust und fühlen ihnen auf den Zahn«, sagte Lukas, und seine Hand wanderte schon wieder zu seinem Mund.
Schnell unterbrach ihn Alex: »Guter Plan, allerdings nur für dich. Schon vergessen? Wir gelten hier immer noch beide als Adelige, also können wir uns nicht hinstellen und Gott und die Welt vernehmen.«
»Na, ist ja klar: Ich darf ackern, während ihr euch die Eier …«, empörte sich Lukas.
»Ja, ja, wissen wir. Halt endlich die Klappe!«, rief Alex und stürmte aus dem Raum.
Das war schon das zweite Mal heute. So langsam wurde ihm das zur Gewohnheit.
Er lief hastig zu seinem Zimmer, griff nach Mantel und Schal und stürmte die Treppe hinunter. Wenn er jetzt keine Bewegung bekam, würde er platzen. Mit einem heftigen Stoß öffnete er die Tür in den Garten. Im selben Moment kam ihm der Gedanke, dass das vielleicht keine gute Idee war, sollte jemand dahinter stehen, aber glücklicherweise war niemand dort. In ihm brodelte es. Es war doch alles schon schwer genug. Lukas mit seinen blöden Sprüchen und der ständigen Angriffslust hatte ihm da gerade noch gefehlt. Wütend rannte Alex hinaus, dass der Schnee unter seinen Füßen davonstob. Die Sonne stand tief und blendete ihn, aber er rannte trotzdem – halb blind – weiter. Nur weg von dem ganzen Krampf und den Problemen.
Als er beim Wald angekommen war, blieb er schwer atmend stehen. Er beugte sich nach vorne, um besser Luft zu bekommen, und sah dabei auf die verkohlten Überreste des Holzstoßes. Irgendwie waren hier alle verrückt. Also passte Lukas wunderbar hierher – trotz seiner absoluten Manierenfreiheit und raubeinigen Art. Aber was machte er selbst dann noch hier? Seine Freundin lag schwanger mit seinem Baby im Krankenhaus, Frau Wolf brauchte ihn, und seine Mutter war auch noch sauer auf ihn. Vom Job gar nicht zu sprechen. Seine ganze Welt krachte aus den Angeln, und er saß hier, ließ sich zur Schnecke machen und kam kein Stück voran. Verdammter Mist. Alex holte aus und trat mit voller Wucht gegen einen der angekohlten Baumstämme. Er ächzte auf und hielt sich den Fuß. Der war immer noch verdammt hart.
»Verlierst du jetzt auch noch den Verstand, oder was?«, hörte er plötzlich eine Stimme.
Schnell stellte er den Fuß wieder auf die Erde und sah sich um. Kathleen kam langsam auf ihn zu. Eingehüllt in ihre dicke Jacke sah sie seltsam klein aus, was aber auch an der Traurigkeit liegen konnte, die sie ausstrahlte.
»Ach, geht schon wieder. Aber was ist eigentlich mit dir los?«
»Glaub nicht, dass Lukas mich nicht auch unheimlich nervt. Was denkt sich dieser Kerl eigentlich? Unglaublich«, sagte sie langsam.
»Geschenkt. Wir wissen schon eine ganze Weile, dass er ein Arsch ist, aber du hast doch noch was anderes«, ließ sich Alex nicht ablenken.
Kathleen seufzte. Sie sah aus, als würden ihr gleich die Tränen kommen, dann fing sie sich jedoch wieder. »Ich hab mit Linus Schluss gemacht.«
»Schluss? Das tut mir leid. Aber warum denn? Es wirkte alles so harmonisch zwischen euch. Der Prinz mit seiner Aschenputtel-Prinzessin.«
Kathleen sah in mit traurigen Augen an. »Das ist es ja gerade: zu harmonisch. Er war irgendwie … ich weiß nicht … langweilig. Wir sind zu verschieden.«
»Hat er etwa den Adeligen raushängen lassen?«
»Nein, nein, das ist es nicht. Ach, ich muss das alles erst noch ein bisschen sacken lassen. Aber gib doch zu, dass diese Sache sowieso keine Zukunft hat. Er hält mich für eine ganz andere. Ist eh die Frage, wie er auf die Wahrheit reagieren würde.«
»So einer ist der nicht«, war alles, was Alex dazu einfiel. Was sollte er auch sagen? Wenn Kathleen einen Entschluss gefasst hatte, ließ sie sich sowieso nicht davon abbringen, das hatte er inzwischen des Öfteren leidvoll erfahren müssen. Aber offenbar ging ihr die ganze Sache näher als vermutet.
Sie gingen langsam zurück zum Schloss. Inzwischen dämmerte es bereits, und die Kälte kroch in alle Ritzen und Löcher. Wie freute er sich schon auf den Frühling. Dann würde es Susa hoffentlich auch besser gehen. Wie sie sich wohl heute fühlte? Er musste sie nachher noch einmal anrufen.
Als Alex gerade die Tür öffnen wollte, um wieder ins Warme zu gelangen, schwang sie ihm entgegen. Er taumelte vor Schreck zurück, fing sich dann aber wieder.
»Ach da steckt ihr. Ich habe euch schon überall gesucht.«
Es war Jasmin. Sie sah wieder ganz fröhlich aus.
»Ich wollte euch nur sagen, dass Onkel Leopold wieder weg ist. Er kann ein bisschen furchteinflößend wirken, ich weiß, aber er ist ein ganz lieber Kerl, wenn man ihn ein bisschen näher kennt.«
»Das kann er wunderbar verstecken«, murmelte Alex und deutete ins Schlossinnere. »Lässt du uns rein? Ist ein bisschen frisch hier draußen.«
»Ach ja, Entschuldigung. Er ist wirklich ein ganz Lieber. Ihr solltet mal sehen, wie er sich um seine dreiundneunzigjährige Mutter kümmert. So etwas Liebevolles, unglaublich. Wir haben jetzt übrigens ein Datum für die Trauerfeier: am Freitag ist es so weit. Muss erst mal ohne den Leichnam stattfinden, denn wer weiß, wann Obduktion, Freigabe und Überführung durch sind. Ist vielleicht auch für euch ganz spannend, denn schließlich verrät sich der Mörder doch oft auf der Trauerfeier, oder? Ist jedenfalls in den Krimis immer so.«
Alex wollte gerade etwas erwidern, als sein Handy klingelte. Er warf einen Blick auf das Display, seufzte und zeigte in den Garten, während er es ans Ohr drückte.
»Michael, hallo«, sagte er.
»Was macht ihr da draußen denn für einen Müll? Du glaubst nicht, was hier los ist: Die Pressevertreter rennen mir die Bude ein. Keine Ahnung, woher die das wissen, aber Lukas hat gesagt, dass ihr noch gar nichts habt? Wie kann das sein, Alexander? Ihr seid da jetzt schon wie lange?« Die Stimme seines Chefs überschlug sich fast. Alex spürte, wie die Wut auf Lukas, die er eben erfolgreich zurückgedrängt hatte, wieder aufloderte.
»Das stimmt doch so gar nicht. Allerdings ist die Tatsache, dass wir einen Mörder suchen, noch relativ neu. Vorher sollten wir den Vermissten aufspüren, das haben wir getan, nur leider eine Stunde zu spät.«
»Papperlapapp. Ich will Ergebnisse. Sofort. Kein Tässchen Tee hier und ein Pastetchen da, sonst könnt ihr die Außendienstarbeit vergessen. Dann ist Aktensortieren angesagt bis zum staubigen Ende eures Lebens.«
Piiiieep, das Gespräch war beendet. Einen Moment war Alex drauf und dran, sein Handy in den Schnee zu schleudern und die Wut auf Gott und die Welt hinauszubrüllen. Aber im Grunde hatte Varenke die gleichen Ziele wie er: Den Fall so schnell wie möglich aufzuklären.