Um kurz vor vier saß er im Auto und fuhr los. Er hatte Kathleen noch einen Zettel geschrieben, damit sie morgen früh nicht allzu überrascht wäre. Der Schlüssel für den Landrover lag an derselben Stelle, an der er ihn vor ein paar Tagen abgelegt hatte. Allerdings war nicht mehr viel Benzin im Tank. Er musste erst mal eine Tankstelle finden.
Als er um sieben Uhr auf dem Rastplatz nach seinem Handy griff, um Varenke über seine Flucht zu informieren, spürte er deutlich die Anstrengung der letzten Stunden. Er hatte das Lenkrad so fest umklammert, dass seine Schultern verspannt waren. Der Schmerz zog bis in den Kopf.
Es klingelte zweimal, und Alex hoffte schon, dass Varenke noch schlief und das unvermeidliche Gespräch dadurch nach hinten verschoben würde, doch da hörte er auch schon die schnarrende Stimme seines Chefs: »Ja?«
»Äh, Chef? Hier ist Alexander Rosenberg«, sagte er langsam.
»Gibt’s was Neues?« Varenkes Stimme hörte sich seltsam an, so als hätte er etwas im Mund.
»So konkret noch nicht. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich für einen Tag nicht vor Ort sein kann. Meine Freundin ist im Krankenhaus …« Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn Varenke fiel ihm ins Wort.
Alex hörte ein Spucken oder so etwas Ähnliches, dann hörte sich Varenkes Stimme wieder klarer an, sodass er sein scharfes Zischeln exzellent verstehen konnte: »Ich glaub, es hackt. Ich hab mich gestern unmissverständlich ausgedrückt, denke ich. Alle haben mit Hochdruck daran zu arbeiten, den Fall aufzuklären. Wo bist du? Egal, du hast nirgends zu sein als vor Ort, ist das klar? Heute Abend will ich Ergebnisse!« Seine Stimme wurde immer lauter.
»Die wirst du mit Sicherheit bekommen – von den anderen. Meine Freundin hat unser Baby verloren, ich …«
»Das tut mir leid, aber es besteht im Moment keine Chance, den Fall zu vernachlässigen. Du weißt, dass die Presse uns zerfleischt. Jetzt ist die Sache sogar schon bis zum Bundeskanzleramt vorgedrungen …« Jetzt war es an Alex, den Wortfluss seines Chefs zu unterbrechen.
»Ich bin morgen früh wieder vor Ort. Es tut mir leid, Chef.«
Plötzlich wurde Varenkes Stimme ganz leise. »Ich verspreche dir, Alexander, wenn du meinen Befehlen zuwider handelst, kannst du deinen Job vergessen. Ich arbeite nicht mit Befehlsverweigerern zusammen. Und sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
»Ich hab das alles verstanden, und es tut mir leid, aber es geht nicht anders«, erwiderte Alex.
»Lukas hat die Leitung der Ermittlungen. Unwiderruflich. Überleg dir gut, was du tust, Rosenberg. Das Kind ist tot, du kannst es eh nicht mehr retten. Aber du bist drauf und dran, auch noch deinen Job aufs Spiel zu setzen.«
Damit legte er auf.
Alex holte tief Luft, als er das Handy auf den Beifahrersitz legte und einen LKW-Fahrer dabei beobachtete, wie er den dunkelroten Vorhang wegzog, mit dem er seine Fahrerkabine über Nacht verhüllt hatte, um dort zu schlafen. Alex schwitzte aus allen Poren. Auch wenn er sich bemüht hatte, ruhig zu wirken, hatte ihn das Gespräch stark aufgewühlt. Aber er hatte heute Nacht seine Entscheidung getroffen. Nichts konnte ihn davon abbringen.
Jetzt musste er nur noch Kathleen beibringen, dass sie den Tag alleine mit Lukas würde arbeiten müssen. Schnell tippte er ihre Nummer ein. Es juckte ihn in den Fingern. Er wollte weiter. Noch wenige Stunden, dann war er hoffentlich da.
Kathleen nahm das Gespräch sofort an. Doch bevor er ihr erklären konnte, was er wollte, platzte es schon aus ihr heraus, und sie schluchzte wie ein kleines Kind: »Alex, es ist so furchtbar. Ich hab gerade mit Nora gesprochen. Sie sagt, dass Mattis todunglücklich ist wegen dieser dummen Roxana. Er ist gestern nach der Schule nicht zu Roman, sondern nach Hause gegangen und wollte dort alleine bleiben, bis ich wiederkomme. Der Arme, kannst du dir vorstellen, wie er leidet?« Wieder schluchzte sie.
Na wunderbar, wenn sie jetzt auch noch erfuhr, dass er für heute verschwunden war, sprang sie wahrscheinlich aus dem Fenster.
Aber sie nahm die Nachricht besser auf, als er gedacht hatte, wünschte ihm und Susa alles Gute und bedauerte seinen Verlust aufrichtig, bevor sie auflegten. Es tat gut zu wissen, dass er sich auf Kathleen verlassen konnte, obwohl sie selbst so aufgelöst war. Endlich konnte er weiter. Er startete den Motor und rollte langsam in Richtung Autobahn zurück.
Als er endlich bei Susa ankam, war es schon fast Mittagszeit. Er hatte eine ganze Weile in einem Stau an einer Baustelle gestanden. Inzwischen war Susa operiert. Er hatte von seiner Mutter erfahren, dass alles gut verlaufen war und es ihr den Umständen entsprechend ging. Aber die Umstände waren eben nicht besonders prickelnd.
Sie lag im Krankenhaus Salem. Er war dort noch nie gewesen, wusste aber, dass es im Stadtteil Handschuhsheim lag. Fast direkt vor dem Krankenhaus fuhr gerade jemand aus einer großen Parklücke, sodass Alex den Jeep dort hineinlenken konnte. Er sprang aus dem Auto und spürte seine von der langen Fahrt steifen Glieder. Nachdem er sich kurz gestreckt hatte, kamen seine Muskeln aber wieder in Gang. Er wusste von seiner Mutter, in welchem Zimmer Susa lag und fand es problemlos. Als er davor stand und die Hand schon zum Klopfen erhoben hatte, senkte er sie wieder. Angst durchfuhr ihn. Was würde ihn erwarten? War sie am Boden zerstört? Hatte sie Schmerzen? Würde sie ihm Vorwürfe machen?
Er hörte hinter sich Schritte näherkommen und drehte sich um. Es war eine Schwester, die offenbar sehen wollte, was er dort tat. Alex atmete tief aus und klopfte dann. Ohne auf eine Antwort zu warten, trat er ein, und dort sah er sie. Sie lag in einem Zimmer, in dem noch ein anderes Bett stand, das aber frei war. Susa lag mit geschlossenen Augen da. Sie war bleich, fast weiß, und ihre langen Haare waren wie Engelsflügel um sie gebreitet. Sie sah aus wie Schneewittchen. Wunderschön, aber von Traurigkeit umwoben. Leise ging Alex näher und zog einen Stuhl heran, auf den er sich setzte. Vorsichtig legte er seine Hand auf ihren Arm. In dem anderen Arm steckte die Braunüle, an die ein Tropf angeschlossen war, dessen Flüssigkeit langsam in Susas Körper tropfte. Alex seufzte. Plötzlich war alle Energie aus ihm gewichen. Er spürte die Müdigkeit und den nagenden Hunger, aber das war egal, denn endlich war er bei Susa. Seinem Engel. Seinem Ein und Alles. Wie hatte er sie verlassen können? So deutlich wie jetzt hatte er nie gefühlt, wie ungeheuer wichtig sie ihm war.
Die Schwester sah zur Tür herein. »Es ist aber noch keine Besuchszeit.«
»Ich bin extra aus Berlin hierher gekommen und muss nachher schon wieder weg. Ich bin der … der …«, stotterte er.
»Ach, sind Sie der Vater des Kindes? Es tut mir leid, aber Sie werden ein Neues bekommen, wenn das Schlimmste vorbei ist. Sagen Sie mir Bescheid, wenn sie wach ist? Ich muss dann Blutdruck und Fieber messen, aber ich will sie nicht wecken.« Jetzt lächelte sie sogar.
Alex nickte und wandte sich wieder Susa zu. Sie schlief immer noch. Er hörte die Tür ins Schloss schnappen, als die Schwester den Raum verließ, und die Gedanken schossen in seinem Kopf herum. Hatte die Schwester recht? Würden sie wirklich noch ein Kind bekommen? Susa hatte sich in den letzten Wochen so gequält, und er war weit weg von ihr gewesen. Und was hatte es gebracht? Sie lag hier, sah verwundet und zart aus und tat ihm unheimlich leid. Das schlechte Gewissen wühlte in ihm. Ohne ihn läge sie jetzt nicht hier. Wie gern hätte er mit ihr geredet, aber die Schwester hatte recht: Auch er wollte sie nicht aufwecken.
Er lehnte sich weit vor und legte den Kopf neben sie. Es war ziemlich unbequem, aber dieses Nähegefühl war unbeschreiblich. Trotzdem fühlte er sich so hilflos und klein. Das mit Susa hatte er vermasselt, sein Job stand auf dem Spiel, sein Team war am zerbröseln, Frau Wolf, einfach alles, was seine Welt ausmachte, war kaputt. Er hatte verloren. Der Täter hatte gewonnen: Er hatte nicht nur das Leben des Grafen zerstört, sondern seines gleich mit. Er musste ihn finden. Er wollte und musste es. Der Tag konnte nicht ohne Ergebnisse zu Ende gehen. Aber diese Müdigkeit war einfach unglaublich. Es war zwar furchtbar unbequem, aber Susa so dicht bei sich zu spüren war wunderschön. Er wollte nur für einen Augenblick die brennenden Augen schließen. Nur einen kleinen Moment …
Mit einem Ruck fuhr er auf. Er hatte etwas an der Wange gespürt, aber vielleicht hatte er es auch nur geträumt. Er sah ein lächelndes Gesicht. Susa.
»Bist du aufgewacht?«, murmelte er. Seine Zunge klebte am Gaumen. Er hatte keine Ahnung, wann er das letzte Mal getrunken hatte.
»Du bist da«, sagte sie. Sie lächelte immer noch. Ihre Augen waren eingesunken, und man sah ihr die Qualen der letzten Wochen und der Operation an. Aber sie lächelte. Sie war nicht sauer auf ihn. Oder zumindest schien sie ihm verziehen zu haben.
»Wie geht es dir?« Er streichelte ihre Wange.
Sie zuckte mit den Achseln. »Wo kommst du her?«
»Aus Schloss Keit. Und ich muss nachher wieder zurück. Aber ich wollte dich unbedingt sehen.«
»Bist du die ganze Nacht gefahren?« Ihre Stimme klang zart und schwach wie das Tschilpen eines frisch geschlüpften Vogels.
»Erst ab vier Uhr. Alles okay.«
»Hast du was getrunken und gegessen?«
»Das ist doch jetzt völlig egal, Hauptsache, ich bin hier.«
»Es tut mir leid. Ich hab alles versucht …«, sagte sie plötzlich, und Traurigkeit überschattete ihre Miene.
»Hey, du gibst dir ja wohl nicht die Schuld für all das hier. Wenn ich nicht wäre, lägst du jetzt nicht hier. Es sollte nicht sein. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Weißt du, was die Schwester gesagt hat? Wir können noch einen Haufen Kinder haben, wenn wir wollen. Alles ist gut, Susa. Wenn sich jemand Vorwürfe machen sollte, dann ich, weil ich nicht an deiner Seite war und dich unterstützt habe, als es dir schlecht ging.«
»Du musstest arbeiten. Wenn du gekonnt hättest, wärst du hergekommen. Habt ihr ihn eigentlich gefunden, euren verlorenen Grafen?«
»Ach, das weißt du ja noch gar nicht. Haben wir. Aber leider tot. Jetzt müssen wir den Mörder finden.«
»Welche Spuren habt ihr?«, fragte sie und deutete auf eine Mineralwasserflasche, die auf ihrem Nachttisch stand. Er goss ihr etwas in einen Schnabelbecher und hielt ihn ihr an die Lippen.
»Darfst du das denn schon? Dabei fällt mir ein: Die Schwester hat gesagt, dass ich sie holen soll, wenn du aufwachst.«
»Warte noch einen Moment, sonst läuft die ganze Maschinerie mit dem Messen, Spritzen und Verbinden wieder an, und wir haben noch weniger Zeit für uns. Erzähl mir, was ihr schon habt«, beruhigte sie ihn. »Hier, der Rest ist für dich.« Sie deutete wieder auf die Flasche.
Jetzt bemerkte Alex erst, wie durstig er war. Er setzte die Flasche an die Lippen und trank sie in einem Zug aus. Wie gut das Wasser tat. Er lächelte Susa an. Da ging es ihr so schlecht, und trotzdem achtete sie noch auf ihn. Dann begann er zu erzählen.
Doch mittendrin stockte er auf einmal. Er hatte Susa gerade davon berichtet, wie sie Keitenburg gefunden hatten, und in dem Moment zuckte ein Gedanke durch seinen Kopf. Das war es! Das war die Lösung, und sie stand so messerscharf vor seinen Augen, dass er sich fragte, warum sie nicht gleich darauf gekommen waren. Wie elektrisiert sprang er auf. Kathleen musste das Gästebuch checken. Sie hatten es völlig vergessen, aber da in Adelskreisen so viel Wert auf die Dokumentation der Besuche gelegt wurde, war es mehr als naheliegend, die letzten Einträge durchzugehen. Es war zumindest möglich, dass sich der Täter, um den Konventionen zu genügen, eingetragen hatte. Auf jeden Fall gehörten alle, die dort standen, zu ihren Verdächtigen. Einer von ihnen konnte ihr Täter sein, schließlich trug man sich für gewöhnlich ein, wenn man kam, und die Auffindesituation der Leiche legte nahe, dass der Täter nicht mit erhobener Waffe hineingestürmt war, sondern es zunächst nach einem normalen Besuch aussah. Er war schon vorher da gewesen. Sie hatten es hier nicht mit einem Raubmord zu tun, sondern mit einer irgendwie gearteten Beziehungstat. Wenn er sich allerdings nicht eingetragen hatte, brauchten sie ein weiteres Indiz. Aber vielleicht konnten ihnen die auffälligen Steine in der Einfahrt des Jagdhauses dabei weiterhelfen. Wenn sie so porös waren, dass sich Abrieb an den Radaufhängungen bildete … Er musste so schnell wie möglich zurück und seinen Verdacht überprüfen. Am liebsten hätte er einen Freudentanz um Susas Bett gemacht, als die Schwester hereinkam.
»Sie ist ja wach. Warum haben Sie mir nicht Bescheid gesagt?«, fragte sie Alex vorwurfsvoll. Doch der zuckte nur mit den Achseln. Er war gerade so euphorisch, dass ihn nichts schocken konnte. Mit einer langen Umarmung und einem dicken Kuss verabschiedete er sich von Susa, nachdem er ihr blitzschnell von seinen Erkenntnissen erzählt hatte, dann machte er sich auf den Rückweg. Aber nicht ohne sich in der Cafeteria noch einen großen Kaffee und ein Schinkenbrötchen zu holen.