30. Kapitel

Aus dem Salon tönten laute Stimmen, aber es war niemand zu sehen. Bevor er irgendwem begegnete, wollte er das wichtige Beweisstück erst mal in Sicherheit bringen. Es musste so schnell wie möglich in eine Tüte, damit keine Spuren verloren gingen. Kathleen hatte sie irgendwo in ihrem Zimmer. So schnell es mit dem schmerzenden Bein ging, stieg er die Treppe hoch. Auch der obere Gang war leer, und so ging er schnurstracks zu Kathleens Zimmer. Sie war bestimmt noch unten bei der Leichenschmausmeute, und es schien auch kein Licht unter dem Türspalt hindurch, sodass er aufs Anklopfen verzichtete.

Doch kaum stand er im Zimmer und knipste das Licht an, da fuhr er erschrocken zurück. Kathleen war doch auf ihrem Zimmer, und sie war nicht allein: Eng umschlungen saß sie mit Linus von Mahlensee auf ihrem Bett. Sie hatten die Köpfe aneinander gelehnt und leise miteinander geredet, als Alex die Idylle störte.

»Oh, das tut mir so leid. Ich wusste nicht … ich dachte, es wäre niemand da und …« Er stockte. Was sollte er sagen? Linus von Mahlensee wusste nichts von ihrer wahren Identität, und die Frage nach einem Beutel für ein offensichtlich benutztes Taschentuch würde mehr als seltsam wirken.

Die beiden waren auseinandergefahren, als er ins Zimmer gekommen war, und standen jetzt möglichst weit voneinander entfernt da. Wie konnte er nur möglichst schnell an die Tüten kommen, ohne deutlich zu sagen, was er wollte? Je länger er das Tuch in der Hand hielt, desto mehr Spuren konnte jeden Moment verloren gehen. Er hielt das Tuch auf der Kathleen zugewandten Seite und wedelte möglichst unauffällig damit, in der Hoffnung, dass sie verstand, was er wollte.

Aber das klappte überhaupt nicht. Kathleen – offenbar immer noch erschreckt darüber, dass er sie ertappt hatte – stand mit rotem Kopf und verwuschelten Haaren da und sah ihn an.

Auch der ertappte Liebhaber sagte kein Wort, und so sah sich Alex gezwungen, das Schweigen zu durchbrechen. Es gab keine andere Möglichkeit. Er wollte auf keinen Fall, dass die Spur flöten ging, also sagte er möglichst unauffällig: »Hast du vielleicht noch eine von deinen … kleinen Mülltüten da? Ich habe da etwas, das dringend entsorgt werden müsste.« Und damit wedelte er mit dem Tuch herum.

»Ich bringe dir einen Mülleimer. Warte kurz. Kathleen, im Bad ist doch sicher einer, oder?«, sagte Linus von Mahlensee und lief sofort los. Kathleen stand immer noch da wie eine Kuh, wenn’s donnert, und rührte sich nicht.

»Ich brauch einen Indizienbeutel, schnell. Das ist eine wichtige Spur«, raunte er ihr zu, doch da stand schon ihr Liebhaber vor ihm und hielt ihm lächelnd den Mülleimer hin.

»Das ist sehr nett, danke, aber ich möchte doch …«, stammelte Alex, aber Kathleen unterbrach ihn.

»Er weiß Bescheid, ich hab ihn vorhin eingeweiht. Es stört ihn gar nicht, dass ich nicht die bin, für die er mich gehalten hat, und er will uns helfen, so weit er kann. Hier sind die Beutel. Heißt das, du hast einen Verdacht?«

»Ich habe eine Idee, wer es gewesen sein könnte«, sagte Alex und blickte dann auf den immer noch mit dem Mülleimer da stehenden Linus.

»Was? Woher? Wer war es? Können wir ihn gleich einbuchten? Keine Angst vor Linus, er ist vertrauenswürdig.« Sie lief aufgeregt auf ihn zu.

Alex warf noch einen Blick auf Linus, beschloss dann aber, Kathleens Einschätzung zu vertrauen. »Wo hast du das Gästebuch? Wir können den Kreis auf die eingrenzen, die Keitenburg in den Tagen zwischen seinem Verschwinden und der Ermordung besucht haben. Es sei denn, der Täter hat sich bewusst nicht eingetragen. Er scheint seine engsten Vertrauten noch einmal zum Abschied zu sich gebeten zu haben. Er wird sie gebeten haben, den Besuch vor seinen Kindern geheim zu halten, damit sie nicht querschießen und ihn am Ende noch von seinem Vorhaben abbringen. Im Adel ist man es gewohnt, gewisse Dinge unter den Teppich zu kehren. Da wird nicht groß gefragt, warum. Seine Kinder hat er in dem Glauben gelassen, er wäre in Berlin entführt worden und noch immer dort oder sonst wo. Es war irgendeine persönliche Sache, was genau, weiß ich noch nicht.«

»Das ist ja Klasse. Wie konnten wir das Gästebuch vergessen«, juchzte Kathleen und hüpfte mit roten Wangen zu ihrem Schrank.

»Aber so einfach ist das mit dem Einbuchten nicht. Wir müssen eine Möglichkeit finden, es dem Mörder lückenlos nachzuweisen. Und das könnte noch ein Problem werden, weil auch ein Chauffeur, wie der von Schambach, mit dem ich gerade eine reizende Begegnung hatte, es gewesen sein könnte. Oder sein kleiner Assistent.«

»Wir brauchen also einen Plan!«, sagte Kathleen und strahlte. Und auch Linus knetete nervös lächelnd seine Hände, nachdem er Kathleen einen liebevollen Blick zugeworfen hatte.