Von der Trauerfeiergesellschaft hatten sie niemanden mehr gesehen. Stattdessen saßen sie bis weit nach Mitternacht in Kathleens Zimmer und redeten. Linus war zwischendurch in die Küche geschlüpft und mit einer Platte belegter Brote, einer Kanne Tee und einer Flasche Rotwein zurückgekommen. Er hatte dabei ein aufgeregtes Stimmenwirrwarr aus dem Salon gehört, aber nichts Genaues verstehen können. Kathleen hatte nach dem Gästebuch gekramt und es schließlich auf dem Boden ihres Schranks gefunden. Hastig blätterten sie darin, und Kathleen schrieb sich auf einem kleinen Notizblock alle Namen auf. Triumphierend sahen sie sich an.
»War ganz schön viel los in den letzten Tagen dort unten. Nur noch ein kleiner Schritt, dann kommen wir hier wieder raus«, frohlockte Alex. »Komisch ist nur, dass Schambach nicht drin steht. Mir ist nämlich noch eine Idee gekommen: Du erinnerst dich an diese interessanten Kiesel auf der Einfahrt dort? Ich hab gedacht, dass man vielleicht Spuren ihres Abriebs an den Autos sehen könnte und … Bingo! Bei Schambach hab ich orangefarbene Sprenkel in der Radaufhängung gefunden. Er war also definitiv in letzter Zeit dort.«
Seltsamerweise wirkte Kathleen gar nicht so begeistert darüber, wie er erwartet hätte, doch sie lächelte und sagte: »Vielleicht auch drei, vier Schritte, aber zumindest war das eine brillante Idee von dir.«
Sie beschlossen, dass sie es mit der Spurensicherung an den Autos noch einmal versuchen wollten, dass es aber sicherer war, wenn Kathleen es alleine tat, um nicht noch mehr Aufsehen zu erregen. Doch Linus widersprach vehement, und so endete die Diskussion damit, dass die beiden Verliebten Arm in Arm die Treppe hinunterliefen, um – sollten sie erwischt werden – vorgeben zu können, nur noch etwas Luft schnappen zu wollen.
Leider waren inzwischen nur noch wenige Wagen da, aber an zweien davon entdeckten sie den gleichen Abrieb, allerdings mit mehr anderem Straßendreck vermischt als bei Schambach, und nahmen hastig Proben davon, während Alex oben begann, die Schnittchen zu vertilgen.
Später berichteten sie ihm von der Trauerfeier, während sie sich die restlichen Schnittchen schmecken ließen. Allerdings waren so viele Gäste vor Ort gewesen, dass Kathleen keinen Hinweis für ihren Fall hatte entdecken können. Immerhin hatte sich Lukas an dem Tag nicht allzu peinlich benommen und nur immer wieder den einen oder anderen zur Seite genommen, um ihn zu verhören. Aber Kathleen und Linus hatten heute niemanden tränenüberströmt danach in der Ecke stehen sehen. Er hatte durch Zufall auch einige der letzten Besucher Keitenburgs in die Mangel genommen, doch alle waren kontrolliert und traditionell durch und durch gewesen, sodass die Ermittler keine neuen Erkenntnisse verzeichnen konnten. Und trotzdem mussten sie es schaffen, die Mauern aus Manieren und Bonhomie zu durchbrechen. Die Frage war nur, wie das gelingen sollte.
Da stellte sich Linus von Mahlensee als überaus hilfreiche Ergänzung ihres Teams heraus, denn er hatte Insiderwissen, das er zu der späten Stunde und mit ein paar Gläsern Rotwein intus, bereitwillig mit ihnen teilte.
Nachdem ihm aber immer wieder die Augen zufielen und seine Zunge zunehmend schwerer wurde, streichelte Kathleen ihm über die Wange und sagte: »Ich glaube, das war jetzt genug Wein, meinst du nicht? Ich geb dir ein Glas Wasser, dann kommst du wieder auf die Beine.« Damit ging sie ins Badezimmer.
»Eine liebe Kleine!«, murmelte Linus und seufzte, bevor er noch einen Schluck Rotwein nahm.
Am nächsten Morgen kam die Ernüchterung. Sie hatten zwar einen Plan, sogar einen guten, wie Alex fand, aber jetzt war es an der Zeit, das schwierigste Mitglied ihres Teams einzuweihen. Alex wollte nicht und, auch Kathleen hatte sich standhaft geweigert, und so hatten sie beschlossen, eine Münze zu werfen. Alex nahm Zahl und verlor.
Also beschloss er, nach dem Morgenkaffee Lukas zu suchen und mit ihm zu reden, auch wenn er darauf ebenso viel Lust hatte wie auf einen ausgedehnten Zahnarztbesuch inklusive Bohren.
Er schlenderte zum Salon und überlegte einen Moment, ob es sich nicht gehörte, auch ein Mitglied der Keitenburgs in ihren Plan einzuweihen. Den Gedanken verwarf er aber genauso schnell, wie er gekommen war, denn sollte ihre These doch aus unerfindlichen Gründen falsch sein, könnte auch ein anderer Täter in die Falle tappen, und diese Chance wollte er nicht gefährden.
Der Salon war leer. Seltsam, er hätte schwören können, dass Lukas wie eine Spinne im Netz dort auf seine Verhörbeute lauerte, aber offenbar hatte er andere Pläne. Schönes Team, wenn ein Mitglied Alleingänge vorzog und sich einen Dreck darum scherte, die anderen über sein Vorgehen zu informieren.
Alex stieß die Tür zum Garten auf und sah hinaus, doch auch hier war keine Spur von Lukas zu sehen.
Auch ein Blick aus dem Vordereingang brachte ihn nicht weiter: Ein paar einsame Autos standen dort, darunter auch Lukas’ Wagen, also war er zumindest nicht weggefahren.
Alex spürte Wut in sich aufsteigen. Wie viel wertvolle Zeit er mit der Suche nach Lukas verplemperte, die er anderweitig viel besser hätte nutzen können. Auch der beste Plan konnte immer noch weiter ausgefeilt werden. Mit schnellen Schritten lief er durchs Schloss. Dass Lukas nicht auf seinem Zimmer war, hatte er schon vor dem Besuch in der Küche festgestellt, aber wo konnte er noch sein?
Er bemerkte, dass er in Richtung Büro lief. Kurz bevor er um die Ecke bog, wusste er, dass er den richtigen Riecher gehabt hatte, denn laute Stimmen drangen an sein Ohr, darunter auch eindeutig die von Lukas.
»Das kommt überhaupt nicht in Frage!«, hörte Alex jetzt Julius von Keitenburg empört sagen. Er konnte ihn vor seinem inneren Auge vor sich sehen, wie er mit roten Wangen vor Lukas stand.
»Das ist nicht Ihre Entscheidung. Sie haben sich an die Anweisungen der Polizei zu halten!«, röhrte jetzt Lukas, offensichtlich auch sehr erregt.
»Das ist immer noch mein Schloss … also … das Schloss meiner Familie. Und ich kann mich nicht erinnern …«
»Guten Morgen, die Herren!« Alex hatte das Büro erreicht und musste ein Schmunzeln unterdrücken, denn die Szene spielte sich genauso ab, wie er sie sich vorgestellt hatte. Die Köpfe der Kontrahenten, die wie zwei kampfbereite Hähne voreinander standen, fuhren herum.
»Ich möchte euch nicht stören, aber Lukas, ich muss dringend mit dir reden«, sagte Alex mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zuließ. Er streckte auffordernd die Hand aus.
Erstaunlicherweise folgte Lukas der Aufforderung, wahrscheinlich aber nur, weil er bemerkt hatte, dass er mit dem starrköpfigen Julius im Moment nicht weiterkam.
Dafür sprach auch, dass Lukas ihn, kaum waren sie auf dem Flur, von hinten anzischte: »Was ist denn? Ein sturer Bock am Tag reicht mir.«
Alex ignorierte seine Äußerung geflissentlich und marschierte weiter den Flur hinab.
»Gehen wir ein bisschen spazieren?«, fragte er, doch Lukas schnaubte nur.
»Ich hab keine Zeit rumzuwanken. Es gibt viel zu tun.«
»Also in den Salon, na schön«, sagte Alex und öffnete die Tür.
»Was ist denn nun so Geheimnisvolles? Sag bloß, du hast den Täter gefunden.«
Alex zuckte nur mit den Schultern und zeigte auf eine Sitzgruppe. Als sie saßen, sah er Lukas einen Moment an, nur um die Macht des ersten Wissens noch kurz auszukosten und die unwillige Neugier des Kollegen zu genießen, dann begann er zu erklären.
Obwohl Lukas sich anfangs sichtlich sträubte, anzuerkennen, dass nicht er, sondern Alex dem Täter auf die Spur gekommen war, gab er am Ende des Berichts seine Haltung auf. Besser noch, er ließ sich sogar zu einem zähneknirschenden Gute Arbeit, Kollege! hinreißen. Das Einzige, was er monierte, war die Tatsache, dass er in ein paar Tagen in voller Montur auf dem alljährlichen Adelsball, der im Schloss Charlottenburg in Berlin stattfand, aufkreuzen sollte. Aber am Ende stimmte er zu, dass das die beste Möglichkeit war, dem Täter eine Falle zu stellen und ihn womöglich zu überführen.
Als sie alles geklärt hatten, stieg Alex innerlich kopfschüttelnd die Treppen hinauf.
Wer hätte gedacht, dass Lukas sich als so umgänglich erweisen konnte. Man konnte fast den Eindruck bekommen, dass es mit der Zusammenarbeit im Team doch noch etwas werden konnte.