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MARCUS

EIN JAHR ZUVOR

E s war mal wieder einer dieser typischen Grillabende bei Sawyer.

Seit der sich diese Hütte gekauft und umgebaut hatte, spielten sich viele der Treffen hier ab. Es gab reichlich Bier und Essen und jeder hatte eine gute Zeit.

Ich genoss die Abende bei meinem besten Freund in der Regel, doch nur solange, bis sein jüngerer Bruder Mason den Mund aufmachte. Der war schon immer ein nerviges Großmaul gewesen. Er war Sawyer und mir von Kindesbeinen an auf Schritt und Tritt gefolgt. Anfangs hatte mich das nicht gestört, denn er war nur zwei Jahre jünger als wir. Doch irgendwann hatte er damit angefangen, uns darauf hinzuweisen, wie ungewöhnlich unsere Freundschaft war. Er hielt es für seltsam, dass ein Uhu und ein Eichhörnchen so gut miteinander auskamen, dass sie die dicksten Freunde waren. Mit anderen Worten – Mason war ein Snob! Er bildete sich was darauf ein, dass das Tier ihrer Familie eine der größten Eulenarten war und betonte immer wieder, dass meinesgleichen eigentlich nur als Beute gut war. Nicht, dass sich Wandler untereinander fraßen. Das kam nun wirklich nicht vor, es sei denn, man hatte es mit einem durchgeknallten Serienkiller zu tun.

Natürlich konnte es sein, dass einer der Havens in seiner Uhuform ein Eichhörnchen jagte und fraß, aber das war dann ein Tier und kein Wandler!

Trotzdem war Mason nie müde geworden, sich spaßeshalber auf mich zu stürzen, wann immer wir uns in unserer Tierform begegnet waren.

Das hatte auch mit zunehmendem Alter nicht nachgelassen, doch seit ich als promovierter Arzt nach Banff zurückgekehrt war, war Mason geradezu unausstehlich geworden. Er hackte bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit auf mir herum, machte mich wegen meiner zu weichen Art oder der Tatsache, dass ich naturgemäß Vegetarier war, ständig an. Ich hatte schon das ein oder andere Mal versucht, in Ruhe mit ihm darüber zu reden, ihm klarzumachen, wie sehr mich seine Art nervte oder gar verletzte. Allerdings waren seine Sprüche dann nur bissiger geworden.

So war ich ihm in den letzten Jahren einfach aus dem Weg gegangen, sofern das ging. Im Grunde war das schade, denn ich mochte Mason eigentlich, wenn man jemanden mögen konnte, der einen zur Weißglut trieb! Aber er hatte das gute Aussehen und den Charme, den alle Havens hatten. Bei Mason war beides etwas rauer und herber ausgeprägt, was mich leider nur noch mehr anzog. Natürlich würde ich nie so weit gehen, ihm das zu sagen oder es ihn spüren zu lassen. Ich war ja nicht lebensmüde!

Aber trotzdem konnte ich wie so oft nicht umhin, ihn zu beobachten, wie er mit vollkommener Selbstsicherheit den Raum dominierte!

Er hatte ein Fass seiner neuesten Bierkreation für den Abend mitgebracht und dieses floss schon seit ein paar Stunden in Strömen! Alle hatten gute Laune, unterhielten sich angeregt und für mich wurde es auch Zeit, mein Glas erneut zu füllen.

Ich hatte eine 48-Stunden-Schicht hinter mir und musste erst in drei Tagen wieder im Krankenhaus sein. Um sicherzustellen, dass es auch so blieb, hatte ich mein Handy ausgeschaltet und beschloss nun, mir heute Abend die Kante zu geben. Dann würde ich vielleicht die Tatsache vergessen, dass meine Familie vor ein paar Jahren Banff in Richtung Ostküste verlassen hatte, weil meiner Mutter das kalte Wetter zu sehr zugesetzt hatte. Meine Schwester war mit ihnen gegangen, da ihr Gefährte einen besseren Job gefunden hatte und so war ich im Augenblick das einzige Eichhörnchen weit und breit.

Doch ich konnte mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, Banff zu verlassen. Ich liebte die Stadt und die Wälder, die Freiheit und meinen Job im Krankenhaus. Außerdem war Sawyer mein bester Freund und den konnte und wollte ich nicht im Stich lassen. Zumal er nach wie vor darauf wartete, dass sein Gefährte auftauchte, von dem er schon seit fünfzehn Jahren wusste, dass er existierte.

Manchmal fragte ich mich, was besser war – so wie Sawyer zu wissen, dass der Gefährte irgendwo da draußen war und ewig zu warten oder unwissend wie ich zu sein. Es war ja nicht so, als würden alle Wandler einen Gefährten finden! Manche lebten ihr ganzes Leben glücklich und zufrieden ohne ihn, fanden einen guten Partner, der sie glücklich machte, heirateten, bekamen Kinder und führten ein durch und durch harmonisches Dasein. Aber der kleine Romantiker in mir wartete insgeheim doch darauf, dass der Eine auftauchte, der mich von den Socken riss! Der Gefährte, der das Tier und den Mensch in mir auf gleicher Ebene rief und ansprach.

Verflucht!

Bevor ich jetzt auf den Selbstmitleidstrip kam, sollte ich mir lieber etwas zu essen und zu trinken besorgen und das Denken für heute einstellen.

So stieß ich mich von der Mauer ab, an die ich mich gelehnt hatte und schlenderte zu der Gruppe Männer hinüber, die rund um das Fass standen und sich unterhielten.

„Was muss man tun, um hier etwas zu trinken zu bekommen?!“

„Als Pflanzenfresser? Probier es mit Männchen-machen!“, kam die prompte Antwort von Mason, der ebenfalls in der Gruppe stand.

Dafür erhielt er einen wenig sanften Boxhieb seines Bruders Caiden und Sawyer hielt mir einen gut gefüllten Becher hin.

Auch, wenn ich es nicht gerne zugab, aber Masons Bier war mehr als gut! Er verstand sein Handwerk und je länger der Abend dauerte, desto mehr trank ich davon.

Aber nicht nur ich hatte mittlerweile ordentlich einen in der Krone, auch die anderen Anwesenden waren gut angetrunken, als wir gegen Mitternacht begannen, die Terrasse und die Küche aufzuräumen.

„Hey, Sawyer, wir sind dann mal weg!“, Caiden und Xander winkten in die Küche. Die Zwillinge der Familie verdienten nicht nur ihr Geld mit demselben Job, sie wohnten auch zusammen. Überhaupt konnte ich mich kaum an eine Zeit erinnern, in der die Brüder nicht im Doppelpack aufgetaucht wären.

Dabei waren die beiden so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Aber es passte offensichtlich. Als die beiden weg waren, waren es nur noch Sawyer, Mason und ich. Wie immer, wenn ich mit Mason und keinem bis wenig Menschen zwischen mir und ihm in einem Raum war, wurde mir ganz anders.

Wurde ich ganz anders.

Ich wurde unsicher und deshalb überheblich, das wusste ich selbst!

Da musste ich nicht warten, bis Sawyer mir fragende Blicke zuwarf oder bis Mason mich ansah, als käme ich von einem anderen Planeten.

Scheiße, der Kerl war zwei Jahre jünger als ich und er schaffte es immer und immer wieder, dass ich mich klein, komisch und weniger wert fühlte. Nicht mit Absicht, das unterstellte ich ihm gar nicht. Aber seine ganze selbstsichere Art, sein Erfolg, den er mit der kleinen Brauerei hatte, führte immer wieder dazu, dass ich mich klein und langweilig fühlte. Mein Leben bestand aus Arbeit, Verantwortung, langen Schichten und wenig Freizeit. Sein Leben bestand aus Freunden, dummen Sprüchen, langen Abenden in der Kneipe seines Vaters und jeder Menge Affären, wenn man den Gerüchten glauben durfte.

Und wenn ich wie gerade angetrunken war, dann machte das meine Minderwertigkeitskomplexe nur noch schlimmer. Er hatte mindestens genauso viel getrunken wie ich, doch ich war derjenige, der schwankte und Wortfindungsschwierigkeiten hatte.

Verflucht, es war wohl an der Zeit, dass ich mich auf den Heimweg machte. Ich blickte mich um, langsam, damit die Welt sich nicht schneller als mein Kopf drehte. Es sah so aus, als wären die meisten Spuren beseitigt.

Also hob ich die Hand und winkte in den Raum: „Ich bin dann mal weg, Sawyer. Wir sehen uns morgen?!“

Ich merkte, dass ich schwankte, doch es war mir egal. Dank des Alkoholspiegels traf mich Masons Spruch auch fast nicht. Ich lächelte drüber hinweg, dass er mir ein „Schau mal, das Wiesel wankt!“ hinterher rief. Zumindest ließ ich ihn nicht merken, dass er mich getroffen hatte!

Ich sagte nichts mehr, antwortete weder ihm noch sagte ich etwas zu Sawyer. Ich schnappte mir nur so würdevoll wie möglich meinen Rucksack und verließ die Hütte.

Gott sei Dank war ich zu Fuß gekommen, denn so musste ich morgen meinen Wagen nicht abholen.

Leider kam ich nicht schnell genug voran, denn schon kurz darauf hörte ich Schritte hinter mir.

„Hey Wiesel! Warte mal! Ich glaube, du hast etwas verloren!“

Schnell überlegte ich, was ich verloren haben könnte, doch mir fiel beim besten Willen nichts ein. Nicht, dass ich im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten wäre, aber ich war mir doch sicher, dass ich nichts außer meinem Rucksack mitgebracht hatte und ich hatte mit Sicherheit auch nichts ausgepackt?!

Trotzdem blieb ich stehen und drehte mich zu Mason um, der schnellen Schrittes hinter mir herlief. Allein schon sein breites Grinsen ließ mich ahnen, dass ich es ewig bereuen würden, angehalten zu haben!