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MASON

HEUTE

E ine Woche war vergangen, seit ich überstürzt von meinem Elternhaus aufgebrochen war. Man könnte auch sagen, dass ich mich einfach nur verpisst hatte. Doch dieses ganze rosarote Geschwafel über das wunderbare Leben mit einem Gefährten ging mir einfach nur auf die Nüsse!

Nicht, dass ich meinem Bruder sein Glück nicht gönnte. Ich wusste ja, wie lange er auf seinen Gefährten gewartet hatte. Ehrlich, ich freute mich für ihn! Sean und Sawyer waren ein süßes Paar und Sean schien erstaunlich gut mit der Situation klarzukommen. Für einen Menschen und für die kurze Zeit, die er erst eingeweiht war. Aber genau das war es, was mich würgen ließ! Es war einfach zu viel Zuckerguss auf einmal für mich.

Schon seit einem Jahr, seit diesem bescheuerten, besoffenen Kuss, fragte ich mich, ob das, was ich damals gefühlt hatte, nur ein Traum gewesen war. Es war doch einfach hirnrissig zu glauben, dass das Wiesel und ich Gefährten waren. Nicht, dass ich ihn seit diesem Abend nochmal wirklich gesehen hatte. Ich war ihm aus dem Weg gegangen, wann immer wir uns im selben Raum befunden hatten.

Ja, ich hatte mich von Marcus und damit auch von Sawyer zurückgezogen, ich hatte mich rar gemacht und viel mehr gearbeitet. Ich hatte Schichten in der Kneipe übernommen, vordergründig, um meinen Vater zu entlasten, aber in Wahrheit hatte ich damit immer eine gute Ausrede, wenn Sawyer mal wieder zum Grillen einlud. Es war ja nicht so, als hätten wir uns sonst täglich gesehen. Gut, vielleicht früher mal, aber das war lange her und ich hatte ein eigenes Leben, Liebhaber, Freunde, Hobbies.

Okay, vielleicht nicht in den letzten zwölf Monaten. Da war ich dann doch zu fokussiert gewesen auf meine neuen Kreationen. Und es hatte sich gelohnt! Mittlerweile konnte ich darüber nachdenken, zu expandieren, denn die Qualität meines Bieres hatte sich rumgesprochen und ich erhielt immer mehr Aufträge von Kneipen, Bars und Restaurants auch außerhalb von Banff. Nicht, dass ich in der letzten Woche irgendwelche Mails gecheckt hatte. Denn ich hatte mich in die Berge verzogen, lebte in meiner Uhuform nach meinem eigenen Takt und versuchte zu vergessen, dass mein Bruder mir das perfekte Leben vorführte.

In ein paar Tagen, wenn ich mich beruhigt hatte und Sean und Sawyer und ihre Verbindung nicht mehr das Hauptthema im Hause Haven sein würden, würde ich wieder nach Hause zurückkehren. Doch bis dahin hatte ich vor, einen Freund zu besuchen und vielleicht ein paar Nächte in einem Bett zu verbringen und statt Mäusen und anderen Kleintieren doch mal eine warme Mahlzeit und einen Drink zu schnorren.

Deshalb hockte ich auf einem Baum gegenüber der Hütte und wartete darauf, dass mein Freund aufwachte oder sich vor der Tür zeigte. Der Bär war etwas eigen, was seine Privatsphäre anging. Es gab wohl niemanden, der ihn kannte und auf die Idee kam, einfach bei ihm reinzuplatzen!

Als er schließlich den Kopf zur Tür herausstreckte und vage in meine Richtung winkte, war mir klar, dass er schon längst gewusst hatte, dass ich dort herumlungerte.

„Wie lange willst du auf dem Baum hocken, bevor du endlich ins Haus kommst?“

Dann schloss er die Tür wieder und ich schickte mich an, mich zu verwandeln und mir aus der obligatorischen Kiste neben dem Haus ein paar Sachen zum Überziehen zu suchen. Irgendwann war es bei den Wandlern in und um Banff üblich geworden, stets eine Kiste mit Klamotten für alle zugänglich aufzustellen. So musste man nicht immer fragen, betteln oder nackt rumlaufen. Ich entschied mich für eine alte Jogginghose und ein T-Shirt, das auch schon bessere Tage gesehen hatte. Wenn mich nicht alles täuschte, dann hatte es einmal meinem Bruder gehört.

Anschließend trat ich ohne zu klopfen ein und wurde von einem herrlich würzigen Eintopfduft und dem einladenden Bild einer mir wohl bekannten und geöffneten Bierflasche auf dem Tisch begrüßt.

„Wie können zwei Brüder nur so unterschiedlich sein?!“, waren dann die ersten Worte, die Tino an mich richtete.

Ich schnappte mir das Bier, nahm einen kräftigen Zug und freute mich insgeheim darüber, dass er meine neueste Kreation zu mögen schien, und fragte so unschuldig wie eben möglich: „Was hat Sawyer denn getan, dass du auf diese Idee kommst?“

Tino grinste mich schräg an und wedelte mit dem Kochlöffel in meine Richtung. „Du weißt, dass ich die letzten Tage mit deinem Bruder verbracht habe! Er hat mich mit seiner Maschine durch die Gegend geflogen und ich durfte mir die ganze Zeit anhören, wie toll es war, endlich seinen Gefährten gefunden zu haben. Mir bluten jetzt noch die Ohren von dem ganzen Gesäusel und du? Du versteckst dich hier oben, statt in Banff alle Kerle und ein paar der Frauen verrückt zu machen. Entschuldige also, wenn ich dich nur auf das Offensichtliche hinweise!“

Ich lehnte mich betont lässig an die kleine Theke, die den Wohnbereich von der Küche abtrennte und begann das Etikett von der Flasche zu knibbeln.

„Wer sagt denn, dass ich das nicht vorher getan habe?!“

„Ich mag nicht oft in Banff sein, aber ich habe meine Ohren überall. Irgendwie scheint ihr es zu eurem Hobby gemacht zu haben, mich hier zu besuchen. Ehrlich, es vergeht kaum ein Monat, in dem nicht irgendwer aus deiner Familie oder irgendein anderer Wandler bei mir auftaucht. Und mehr als einmal habe ich mir anhören dürfen, dass du dich zurückziehst, nicht mehr du selbst bist und dich insgesamt viel zu ruhig verhältst. Also, sagst du mir, was los ist?“

„Wer bist du? Mein verdammter Psychiater?“, maulte ich Tino an. Manchmal hatte der Bär so eine Art, die mich echt auf die Palme brachte.

Doch der Mann lachte einfach nur laut auf. In Momenten wie diesen hatte ich das Gefühl, dass sein Bär verdammt nah unter der Oberfläche schimmerte. Tino war von Natur aus groß und breit, sein dichtes, braunes Haar, der Vollbart und die braunen, warmen Augen verstärkten den Eindruck nur noch. Aber wenn er wie jetzt lachte und einen dabei mit seinem Blick fixierte, dann hatte man in der Tat das Gefühl, es mit einem Bären zu tun zu haben. Die Tiefe seiner Stimme tat ihr Übriges. Dabei war er im Gegensatz zu seinem Vater ein durch und durch friedliebender Mensch, der keiner Fliege etwas zu leide tat und lieber zurückgezogen in den Bergen lebte als sich dem Trubel der Stadt auszusetzen. Wir waren alle zusammen zur Schule gegangen und kannten uns von klein auf. Wobei Tino genau wie Marcus häufig bei uns zu Hause gewesen war. Doch aus völlig unterschiedlichen Gründen. Tinos Familienverhältnisse waren gelinde gesagt schwierig gewesen, wohingegen Marcus einfach nur Sawyers bester Freund war.

Marcus! Wieso schaffte ich es nicht, auch nur ein paar Tage nicht an ihn zu denken? An sein Lächeln, an die Art, wie er unseren Kuss zuerst erwidert und mich dann von sich gestoßen hatte. An all die Gefühle, die mich seitdem quälten und …

Ich stöhnte laut auf und trank lieber noch einen Schluck, bevor ich irgendetwas sagte, was ich hinterher bereute!

„Nein, ich bin nicht dein Psychiater. Ich glaube nicht, dass ich dazu gemacht bin, mich mit deinen Neurosen zu beschäftigen. Aber so, wie du gerade guckst, brennt dir irgendwas auf der Seele.“

Er wandte sich kurz dem Topf zu und sah mich dann mit freundlichem Blick an.

„Du weißt, dass du mit mir reden kannst, wenn du jemanden brauchst, oder? Ich mag kein Psychiater sein, aber ich bin für einen Freund immer da!“

„Ich weiß, es ist nur …“, ich brach ab, weil mir beim besten Willen kein passendes Adjektiv einfallen wollte, das die Lücke füllte.

„Kompliziert?“, vollendete Tino meinen Satz und ich dachte einen Moment darüber nach.

„Das trifft es nicht ganz, verwirrend und verstörend wäre wohl passender.“

„Erklär’s mir!“, forderte Tino mich auf, füllte gleichzeitig zwei Schüsseln mit einem Eintopf und reichte mir eine davon. Mein Magen knurrte laut und vernehmlich und er kicherte. Ein Geräusch, das durch und durch unmännlich war und so gar nicht zu einem Bär passte. Doch das war Tinos eher verspielte Seite, die dann zum Vorschein kam.

„Mach dich nicht lustig über mich! Ich habe seit Tagen nur von Mäusen und anderem Getier gelebt.“

Er hob verteidigend seine Hände. „Hey, das ist nicht meine Schuld! Ich habe dich nicht gezwungen, als Uhu zu leben. Aber vielleicht essen wir tatsächlich erstmal, dann reden wir, wenn du willst.“

Ich nickte zustimmend und genoss das leckere Essen, das er mit mir teilte.

Nachdem wir gemeinsam die Küche aufgeräumt und immer noch nicht über meine Probleme gesprochen hatten, schlug Tino vor, dass ich ihn in seine Dunkelkammer begleiten sollte.

„Dann kann ich ein bisschen an den letzten Fotos arbeiten und du kannst so tun, als wäre ich nicht da. Vielleicht lösen die Stille und das kaum vorhandene Licht deine Zunge?!“

Ich brummte etwas Unverständliches, folgte ihm aber trotzdem über die im Vorratsraum verborgene Treppe in seinen Keller. Wir hatten ihm geholfen, dieses Versteck anzulegen. Es machte Sinn, denn wenn er im Winter für einige Monate in den Winterschlaf fiel, dann wollte er dabei nicht von neugierigen Wanderern entdeckt werden. Für einen Nichteingeweihten sah die Hütte unbewohnt und verlassen aus. Nur wenige wussten von dem Kellergeschoss. Es war schon mehr als einmal vorgekommen, dass Tino nach einem Winterschlaf festgestellt hatte, dass jemand die Hütte für einige Tage als Quartier genutzt hatte. Das war in den Bergen nicht unüblich. Zwar gab es richtige Schutzhütten, doch wenn man etwas abseits der Pfade unterwegs war, dann fand man auch diese Hütte.

Meist hinterließen die Fremden eine kurze Botschaft und etwas Geld für die verbrauchten Konserven, die Tino gut sichtbar auf der Arbeitsplatte hinterließ. Die Tür zum Abstellraum hielt er von innen verschlossen, so dass jeder Besucher denken musste, dass der Besitzer der Hütte den Raum verschlossen hatte, bevor er sie für die Zeit seiner Abwesenheit verlassen hatte. Dies wurde respektiert.

Angst, dass jemand in der Hütte randalierte während seines Winterschlafs hatte Tino nicht, denn die meisten Menschen, die sich in diesen Monaten in den Bergen rumtrieben, waren normalerweise vernünftige Leute.

Tino hatte recht gehabt, dass die Atmosphäre in seiner Dunkelkammer mich entspannte, vielleicht waren es aber auch nur die Lösungsmittel, die ich einatmen musste!

Auf jeden Fall betrachtete ich eine Weile lang die Bilder, die dort hingen, sah ihm bei der Arbeit zu und fragte dann: „Wie merkt man, ob man seinem Gefährten begegnet ist?“

Tino schwieg ein paar Sekunden, vielleicht, um den Schock zu überwinden, den ich ihm mit der Frage versetzt hatte, dann erwiderte er: „Keine Ahnung! Ich habe mir sagen lassen, dass es für jeden ein bisschen anders ist. Frag Sawyer …“

„O nein, das werde ich schön sein lassen, denn er wird mich mit Fragen bombardieren bis ich ausflippe. Außerdem weiß ich ja schon, wie es bei ihm war. Er wusste seit fünfzehn Jahren, wer sein Gefährte sein würde! Er musste nur darauf warten, bis Seans Träume einsetzten und der in Banff auftauchte. Scheiße, das ist alles so verwirrend!“, ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare und anschließend übers Gesicht.

Tino sah nicht von seiner Arbeit auf und das gab mir den Mut, weiterzusprechen: „Kann es sein, ich meine, ist es möglich, dass man jemanden seit Jahren kennt und plötzlich macht es – bamm – und er ist dein Gefährte? Aus heiterem Himmel ohne Vorwarnung oder … keine Ahnung … ein leises Anklopfen im Kopf?!“

„Mason, ich habe die unterschiedlichsten Geschichten gehört. Aber ich bin kein Experte. Wie du weißt, waren meine Eltern keine Gefährten, sie … meine Mum ist einfach schwanger geworden und so blieb sie bei Tiberius, bis sie es nicht mehr ausgehalten hat und gegangen ist – ohne mich! Du fragst also wirklich den Falschen. Aber was bringt dich dazu zu glauben, dass es so sein könnte?“

„Ich“ – o Gott, ich würde es tatsächlich zum ersten Mal aussprechen, oder? – „ich habe vor einem Jahr eine Dummheit begangen. Ich habe mit besoffenem Kopf jemanden geküsst und seitdem … ich weiß auch nicht, ich fühle so ein seltsames Ziehen in der Brust. Ich kann es nicht einordnen! Weiß der Geier, ob das eine Verbindung ist, die sich aufbaut oder einfach nur … keine Ahnung“, beendete ich ziemlich lahm meinen Satz.

„Hast du mit dem anderen mal darüber geredet? Wenn er auch ein Wandler ist, kann er dir vielleicht etwas dazu sagen?!“

Als hätte ich darüber nicht schon oft genug nachgedacht in den letzten Monaten!

Ich lachte bitter auf. „Ja, er ist ein Wandler, aber ich habe seitdem kein Wort mit ihm gesprochen, zumindest kein nettes. Ich bin ihm aus dem Weg gegangen, wenn es sich eben bewerkstelligen ließ. Er … ich weiß noch nicht mal, ob ich ihn überhaupt mag!“

So, nun war es heraus. Auch, wenn das eine halbe Lüge war, denn ich bewunderte ihn, ich beneidete ihn, ich fand ihn süß und anziehend … und ich hasste ihn dafür, dass er in mir immer nur den kleinen, nervigen Bruder seines besten Freundes gesehen hatte.

„Ich sehe dein Dilemma, mein Freund. Aber wie willst du wissen, ob er dein Gefährte ist, wenn du nicht mit ihm redest? Vielleicht empfindet er seit einem Jahr dasselbe Ziehen wie du? Vielleicht fragt er sich schon genauso lange, was mit euch seit jenem Kuss passiert ist?“

„Der?“, ich lachte verbittert. „Ich glaube nicht. Dessen Ego ist viel zu groß, um sich über sowas wie einen betrunkenen Kuss Gedanken zu machen und selbst wenn, ich bin mir sicher, dass er nie in Erwägung ziehen würde, mich als seinen Gefährten zu akzeptieren. Immerhin existiert auch bei uns sowas wie ein freier Wille. Nur, weil das Schicksal uns als perfektes Paar ausersehen hat – und ich sage nicht, dass es so ist! – heißt das noch lange nicht, dass er mich wählen würde.“

Scheiße, ich war so frustriert und genervt von mir, dass ich Tinos nächste Frage beinah überhörte, aber nur beinah.

„Aber du magst ihn und würdest ihn akzeptieren?“

Das war die Frage aller Fragen.

Würde ich Marcus als Gefährten anerkennen, wenn er auf mich zukommen würde? Es war ja nicht so, als würden Wandler diese Verbindung leichtfertig eingehen. Immerhin war sie für immer! Hatte man sich einmal an einen Gefährten gebunden, dann gab es kein Zurück, keine Scheidung, kein Überlegen. Man konnte und wollte dann nie wieder ohne den anderen sein. Man starb zwar nicht, sollte der andere sterben, aber man trauerte und nur in den seltensten Fällen fand man einen neuen Partner, der diese Lücke zu füllen im Stande war. Man mochte vielleicht die Wahl haben, einen Gefährten anzuerkennen oder eben nicht, doch danach war die Verbindung unlösbar.

„Also?!“, holte Tino mich aus meinen Gedanken.

Wie war nochmal die Frage gewesen? Ach ja, würde ich Marcus als meinen Gefährten akzeptieren, wenn er auf mich zukäme?

Scheiße, ja, das würde ich tun! Was sagte das über mich aus? Ich würde mich mit Freuden in seine Arme werfen und die Verbindung mit ihm eingehen.

Doch statt das zuzugeben, sagte ich: „Das ist nicht wichtig, denn das wird nie und nimmer passieren! Das würde bedeuten, dass er bereit wäre, mich in sein Leben zu lassen. Ich kann mir beim besten Willen kein einziges Szenario vorstellen, indem er bereit wäre, die Verbindung mit mir einzugehen. Er hat seine Meinung mir gegenüber oft genug klargemacht. Ich gehe ihm auf die Nerven und er toleriert mich, weil …“

Ich verstummte, denn ich hatte schon viel zu viel gesagt!

Noch ein oder zwei Hinweise und Tino würde eins und eins zusammenzählen und wissen, dass es Marcus war, über den ich sprach. Und dann würde er mir zustimmen und nur bestätigen, was ich sowieso schon wusste, dass der liebe Herr Doktor nie und nimmer bereit wäre, mich als Gefährten zu wählen. Dass er so weit über mir stand, dass diese Verbindung einfach nur lächerlich war und dass Marcus – selbst WENN wir Gefährten wären – lieber mit einem anderen Mann eine ganz gewöhnliche Partnerschaft eingehen würde, als sich ausgerechnet an mich zu binden.

Also hielt ich meine Klappe und Tino, an dem vielleicht doch ein Psychiater verloren gegangen war, ging schweigend seiner Arbeit nach und ließ mich in Ruhe. Für die Zeit, die wir noch in der Dunkelkammer eingesperrt waren, sah ich mir seine Arbeiten genauer an. Er hatte wirklich das richtige Auge für Details, für Winkel, Belichtung und Farben. Jedes dieser Bilder war beeindruckend, aussagekräftig und wunderschön. Egal, ob er nur einen Sonnenuntergang oder eine Waschbärfamilie beim Tollen auf der Wiese festgehalten hatte.

Ein Bild zog mich besonders an. Zunächst sah ich nur einen Baum, eine alte Eiche, wie man sie hier überall finden konnte. Majestätisch, imposant und unbesiegbar stand sie mitten auf einer Lichtung und wäre auch so schon wunderschön und betrachtenswert gewesen. Was dem Bild aber eine gewisse Leichtigkeit und Unverwechselbarkeit gab, war das Tier, das flink und ohne sich seiner Umgebung bewusst zu sein, kopfüber den Stamm herunter huschte. Tino hatte den Kleinen so vortrefflich festgehalten, dass man die flüssigen Bewegungen förmlich sehen konnte.

Ein Eichhörnchen, natürlich! Und nicht irgendeiner dieser Nager, sondern einer, den ich überall erkennen würde.

Ich stöhnte laut auf, als mir klar wurde, dass es sich bei diesem Motiv um niemand anderen als Marcus handelte.

Zum Glück ließ Tino auch das unkommentiert!

Als ich mich gut eine Stunde später von dem Bär verabschiedete, weil ich es wirklich nicht länger aufschieben konnte, in mein menschliches Leben zurückzukehren, nahm Tino mich zum Abschied in den Arm.

„Wann sehen wir dich denn wieder mal im Ort?“, fragte ich ihn, bevor er mir noch einen guten Ratschlag mit auf den Weg geben konnte.

Er grinste nur, wusste genau, was ich beabsichtigte und machte nur eine vage Bewegung mit der Hand.

„Keine Ahnung, wann ich wieder Lust auf Gesellschaft habe. Vielleicht dann, wenn du mit Marcus geredet hast?!“

Ich war nicht schnell genug, um meinen Gesichtsausdruck neutral zu halten, denn er lachte laut auf.

„Wenn du dich fragst, woher ich das weiß, dann vergisst du wohl, wie gut wir uns alle kennen. Rede mit ihm, vielleicht überrascht er dich!“

„O ja, ich kann mir gut vorstellen wie mich dieses Wiesel überrascht! Er wird mich auslachen und meinem Bruder brühwarm erzählen, was für ein Idiot ich bin! Danke, ich verzichte!“

Nun wurde Tinos Blick ernst, ernster, als ich ihn jemals erlebt hatte.

„Versau dir nicht die Chance auf einen Gefährten, nur, weil du zu stolz bist! Ihr müsst eure alten Animositäten endlich hinter euch lassen. Ich kann nicht für Marcus sprechen, aber die Aussicht auf den wahren Gefährten lässt einen schon mal die Meinung ändern!“

„Wenn er überhaupt mein Gefährte ist und ich mir das nicht nur einbilde!“

„Auch das wirst du nicht erfahren, wenn du nicht mit ihm redest!“