E s klopfte an meiner Bürotür und ehe ich noch die Chance hatte, zu antworten, öffnete sich die Tür und Nancy, eine Schwester, steckte den Kopf herein. Schon an ihrem verkniffenen Mund erkannte ich, dass ihr das, was sie mir zu sagen hatte, nicht gefiel. Nicht, dass ihr viele Dinge gefielen, aber sie war eine zuverlässige Kraft, also sah ich über ihre Launen häufig hinweg.
„Doktor? Da draußen sitzt eines der Crow-Kinder mit seiner Mutter. Schon wieder! Irgendwann rufe ich die Fürsorge! Die Familie macht nach außen immer so einen netten Eindruck, sie haben ja auch Geld und alles, aber so oft, wie diese Kinder sich verletzen. Da muss doch etwas im Busch sein! Meinen Sie nicht auch?“
Sie blickte mich über den Rand ihrer Brille hinweg an und erwartete offensichtlich, dass ich ihr zustimmte oder – noch besser – ihr die Erlaubnis erteilte, die Behörden einzuschalten. Doch stattdessen schüttelte ich nur den Kopf.
„Nancy, nun machen Sie mal aus einer Mücke keinen Elefanten! Die Kinder sind eben ein bisschen wild. Stellen Sie sich mal vor, Sie hätten Drillinge und noch einen Säugling! Da geht es schon mal ein bisschen ruppiger zu.“
Sie rümpfte die Nase und fixierte mich missbilligend.
„Sagen Sie hinterher aber nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt!“
„Schon gut“, versuchte ich sie zu besänftigen. Dann stand ich auf und schnappte mir meinen weißen Kittel. „Bringen Sie Mutter und Kind bitte in Raum zwei und holen mir die Akte? Ich kümmere mich drum!“
Sie nickte, aber ließ mich spüren, dass sie ganz und gar nicht meiner Meinung war. Ich unterdrückte ein Stöhnen und schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass Sean, Sawyers menschlicher Gefährte, so schnell wie möglich an diesem Krankenhaus anfing und ich in ihm einen Eingeweihten haben würde. Das Arbeiten mit menschlichen Pflegern in einem Krankenhaus in einer Wandlerhochburg war nicht gerade einfach!
Ich beeilte mich vor Nancy im Untersuchungsraum zu sein, um mir den neuesten Unfall genauer anzugucken. Wandler heilten zwar schneller als Menschen, das hieß aber nicht, dass es weniger schmerzhaft war oder keiner Behandlung bedurfte. Allerdings war Wendy, die Mutter der Kinder, auch etwas übervorsichtig!
Ich setzte mein entspanntestes Lächeln auf und betrat den Raum.
Auf den ersten Blick erkannte ich das Problem, der Junge hielt sich seine rechte Hand, die in einem falschen Winkel stand, hatte aber trotzdem ein angedeutetes Lächeln auf den Lippen.
„Na, was ist denn dieses Mal passiert?“
Der Kleine guckte von links nach rechts, um sich zu versichern, dass keine fremden Ohren anwesend waren, dann begann er: „Es war soooo cool, echt! Ich hab einen Sturzflug versucht und er hat auch geklappt, bis meine Schwester von links kam und mich gerammt hat, dann bin ich gegen einen Baum gekracht und …“, er hob seine Hand, um deutlich zu machen, was passiert ist.
Ich sah mir die Hand an und konnte ohne großes Fachwissen sagen, dass sie gebrochen war. Bevor ich allerdings etwas sagen konnte, ergänzte Wendy: „Er hat sich sofort zurückverwandelt und ich habe ihn gezwungen etwas anzuziehen. Dann sind wir hierher gefahren. Ich habe nur Angst, dass er einen bleibenden Schaden davontragen wird. Er muss ja auch in die Schule und …“
Ich legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. Manchmal fragte ich mich wirklich, was für eine Kindheit sie gehabt haben musste, denn sie regte sich bei der kleinsten Verletzung zu sehr auf.
„Tun Sie mir den Gefallen und rufen mich das nächste Mal bitte an. Die Schwester ist mittlerweile der Meinung, dass die Kinder bei Ihnen misshandelt werden, so oft, wie ihnen etwas zustößt.“
Wendy sah mich mit großen, entsetzten Augen an und schien zu verstehen, was das bedeuten konnte. Dann nickte sie.
Nun fuhr ich fort: „Okay, wenn das hier ein normaler Fall wäre, wenn sich also ein Mensch die Hand gebrochen hätte, dann würde ich sagen, dass wir es röntgen und vielleicht sogar operieren müssen. Doch wie die Dinge liegen, würde ich es erstmal mit einer Schiene probieren. Die Hand muss geschont werden und am besten heilt sie, wenn du über Nacht ein Rabe bleibst und die nächsten drei Tage nicht fliegst. Sollte die Hand dann noch schmerzen, dann ruft mich an, verstanden?!“
„Drei Tage nicht fliegen?! Das ist Folter! Was, wenn morgen alles verheilt ist? Ich meine, was, wenn da schon nichts mehr weh tut?!“
Ich sah die Panik in den Augen des Jungen. Sich verwandeln und dann nicht nach der Natur des Tieres handeln zu können, war wirklich nicht so einfach. Ich konnte das gut nachvollziehen. Allein der Gedanke, mich in ein Eichhörnchen zu verwandeln und dann nicht rumtoben zu dürfen … lieber nicht darüber nachdenken.
Wie über so einiges, was sich in den letzten Monaten ereignet hatte!
Ich entließ Mutter und Kind nach ein paar Minuten und freute mich, dass meine Schicht zu Ende war.
Schnell schaute ich mich noch auf der Station um, instruierte meine Ablösung und machte mich dann auf den Weg in meine kleine Wohnung. Auf dem Heimweg holte ich mir noch schnell etwas zu essen bei meinem Lieblingsrestaurant und war froh, als ich die Tür hinter mir schließen konnte. Manche Tage waren einfach zu lang!
Doch ich hatte mir dieses Leben ausgesucht. Schon immer seit ich denken konnte, hatte ich Arzt werden wollen und das nicht in einer schicken Praxis mit jeder Menge Privatkunden, sondern ich wollte den Menschen helfen! Und genau das tat ich auch in Banff. Ich war der erste und einzige Wandler im Krankenhaus und so zu einer Anlaufstelle für alle Wandler im Umkreis geworden. Manch einer meiner Kollegen fragte sich und mich, wieso ausgerechnet ich einen so großen Zulauf an Patienten hatte. Ich antwortete stets nur, dass das an meinem ausgeprägten Charme läge. Die Tatsache, dass ich trotz dieses wahnsinnigen Charmes immer noch alleine war, wog allerdings schwer auf meiner Seele.
Es war nicht so, als würde ich nicht gut aussehen oder als würde es mir an Möglichkeiten mangeln. Im Gegenteil und ich war auch kein Kind von Traurigkeit! Zu Studienzeiten hatte ich viel gedatet, war rausgegangen, hatte das Leben genossen. Genauso wie in den ersten Jahren, nachdem ich nach Banff zurückgekehrt war. Doch dann war der Job stressiger und ich vielleicht auch anspruchsvoller geworden. Die Lust auf One-Night-Stands war mir vergangen und vor allem im letzten Jahr hatte ich immer wieder das Gefühl, dass mir etwas fehlte, dass ich mich nach etwas sehnte. Doch ich konnte nicht genau sagen, was das war!
Ich schob es auf den Stress und die Sorge um Sawyer, als klar gewesen war, dass sein Gefährte bereit, aber noch lange nicht in seinem Leben war.
Sawyer war der Bruder, den ich nie gehabt hatte.
Er war über viele Jahre hinweg der Mensch gewesen, an den ich mich gewandt hatte, wenn ich jemanden zum Reden brauchte oder auch nur keine Lust darauf hatte, die Pizza alleine zu essen. Wir waren ein unschlagbares Dreamteam, nur hatte er jetzt Sean und damit rückte ich automatisch in die zweite Reihe. Nicht, dass ich eifersüchtig war oder so. Im Gegenteil! Ich freute mich für ihn, denn er hatte so lange darauf gewartet, dass sein Gefährte endlich auftauchte und er hatte alles Glück dieser Erde verdient. Es zeigte mir nur, wie einsam ich ohne ihn war!
Aber davon würde ich mich nicht runterziehen lassen. Wir würden in Zukunft wieder Zeit miteinander verbringen. Im Augenblick aber schwebten die beiden im siebten Himmel, zumal Sean gerade erst von einem längeren Aufenthalt in Livingston zurückgekommen war. Er hatte noch einmal nach Hause gemusst, um seinen Job zu kündigen und seine Wohnung aufzulösen. Er war erst seit wenigen Tagen wieder zurück und nun wichen sie sich nicht von der Seite. Verständlich, aber auch ein wenig nervig. Ich jedenfalls würde ihnen in naher Zukunft aus dem Weg gehen. Sie waren einfach zu zuckersüß zusammen und das führte nur dazu, dass ich ein leichtes Ziehen spürte. So, als würde mein Unterbewusstsein mir irgendetwas sagen wollen. So, als würde ich irgendetwas übersehen. Etwas, von dem ich nicht wusste, was es war oder sein sollte!
Ich ließ die halb gegessene Pizza auf dem Tisch stehen und ging zum Kühlschrank, um mir ein Bier zu holen. Das hatte ich mir nach dem Tag verdient.
Was ich mir offensichtlich auch verdient hatte, waren noch mehr Gedanken und ein paar Kopfschmerzen, nachdem ich einen tiefen Schluck getrunken und ohne Nachzudenken einen Blick auf das Etikett geworfen hatte. Natürlich war es eines von Masons und natürlich war es gut, besser als gut! Es gab einen Grund, warum ich immer zu dieser Marke griff. Leider erinnerte es mich nur jedes Mal an diesen seltsamen Abend vor ungefähr einem Jahr.
Jenen Abend, an dem wir alle ziemlich betrunken gewesen waren und Mason mich aus welchem Grund auch immer geküsst hatte.
Scheiße, er hatte mich damals vollkommen überrumpelt und meine Reaktion war vielleicht etwas unangemessen gewesen. Ich hatte ihn als übergriffig bezeichnet und ihn nicht ernst genommen. Doch kam ich nicht umhin, zuzugeben, dass mir der Kuss gefallen hatte, sofern ich mich daran erinnern konnte. Ich war schon ziemlich betrunken gewesen. Aber das, woran ich mich noch erinnerte, war erinnerungswürdig. So viel wusste ich noch!
Ich hatte nach diesem Vorfall ein paar Wochen mit mir gehadert, wie und ob ich darauf reagieren wollte und mich schließlich dazu entschieden, das Gespräch mit Mason zu suchen. Das jedoch stellte sich als extrem schwierig heraus. Stets hatte Mason Besseres, Anderes oder Wichtigeres zu tun, wenn ein Treffen bei Sawyer angestanden hatte. Sobald wir uns im selben Raum aufhielten, egal ob in der Kneipe, bei Sawyer oder den Havens, sobald er mich sah, drehte er auf dem Absatz um und verschwand. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Denn verstanden oder durchschaut hatte ich Mason in all den Jahren, die ich ihn nun kannte, nie.
Er war mir immer zu laut und zu selbstbewusst erschienen und daran hatte sich in den letzten Monaten nichts geändert. Außer vielleicht, dass ich ihn wegen seiner Braukunst und seines Geschäftssinns noch ein bisschen mehr bewunderte. Doch das würde ich ihm und seinem ohnehin schon riesigen Ego bestimmt nicht auf die Nase binden! Wenn ich ihn überhaupt einmal zu fassen bekommen würde.
Doch wahrscheinlich bildete ich mir seine abweisende Art einfach nur ein, weil ich ihn bewusst oder unbewusst beobachtete. Wenn ich ihn darauf ansprechen würde, dann würde er mit Sicherheit nur mit den Schultern zucken und mich ansehen, als hätte ich nicht mehr alle Latten am Zaun.
Verdammt!
Ich pfefferte das angebissene Stück Pizza mit etwas zu viel Wucht zurück in den Karton.
Wieso konnte ich einfach nicht aufhören, an diesen arroganten Typen zu denken? Seit er als kleiner Hosenscheißer hinter Sawyer und mir hergelaufen war, war er eine permanente Konstante in meinem Leben gewesen. Mal mehr, mal weniger nervend, aber nie so wichtig, dass ich mir Gedanken über ihn gemacht hätte. Zumindest keine, wie die, die ich in den letzten Monaten hatte. Sinnliche, heiße und einfach unangemessene Gedanken. Und daran war nur dieser eine Kuss schuld.
Wieder quälten mich Kopfschmerzen und auch dieses Ziehen setzte wieder ein. Wenn ich nur wüsste, was mein Unterbewusstsein mir sagen wollte.
Im Grunde konnte es nur eine einzige Sache bedeuten. Ich wusste, dass es nicht jedem Wandler vergönnt war, seinen Gefährten zu finden. Doch mein Geist oder mein Instinkt wussten wohl, dass etwas passieren würde! Irgendwo da draußen schien mein Gefährte auf mich zu warten und die Tatsache, dass ich den Kuss mit einem anderen Kerl nicht vergessen konnte, war wohl verwirrend für mein Hirn.
Ja, so musste es sein! Ich musste Mason aus dem Kopf bekommen. Eigentlich machte er es mir ja leicht, indem er mir die kalte Schulter zeigte. Damit machte er deutlich, dass ihm der Kuss nichts bedeutete. Nun war es an mir, ihn aus meinem Kopf zu bekommen, um frei zu sein für meinen Gefährten, der da draußen darauf wartete, dass ich ihn fand!
Um mich von all den Gedanken abzulenken und abzuschalten, ging ich in mein Schlafzimmer, zog mich aus, verwandelte mich und nutzte dann die überaus praktische Katzenklappe, die ich mit Sawyers Hilfe beim Einzug in diese Wohnung eingebaut hatte.
So war ich in der Lage, meine Wohnung im zweiten Stock verlassen und betreten zu können ohne, dass mich jemand bemerkte. Die meisten Wandler besaßen Häuser mit direktem Zugang zum Wald. Da ich allerdings bei meiner Rückkehr nach Banff zum einen kein Haus gefunden hatte und zum anderen keine Zeit für eine lange Suche gehabt hatte, war meine Wahl auf diese Eigentumswohnung gefallen. Sie lag in der Nähe des Krankenhauses und hatte einen wundervollen Kletterbaum vor dem Schlafzimmerfenster, genau das, was ich brauchte, um schnell raus und wieder rein zu kommen. In den ersten Monaten hatte ich das Fenster aufgelassen, doch dann war Sawyer auf die Idee mit der Katzenklappe gekommen und Mason hatte sich natürlich halb totgelacht, als er das gehört hatte!
Ich fand sie allerdings sehr praktisch und Sawyer und ich hatten sie in Absprache so groß gestaltet, dass er sich in seiner Uhuform hindurchzwängen konnte. Dies hatte er bisher nur ein einziges Mal ohne mich gemacht, als er sich zu Hause ausgesperrt hatte.
Raus aus dem Fenster, rauf auf den Baum und schon huschte ich kopfüber den Baum hinunter und über den kleinen Weg hinter dem Haus, dann durch den nächsten Garten und ab in den kleinen Park.
Ich hielt erst inne, als ich sicher auf einem der höchsten Bäume des kleinen Parks saß, weit weg von den Hunden, die dort herumtollten. Hier, weit weg von allen Problemen der menschlichen Welt, abseits der Gerüche und Geräusche der Straßen, beherrscht von meinem tierischen Instinkt fühlte ich mich freier und entspannter als in meiner Wohnung. Ich harrte eine ganze Weile aus und entschied mich dann dafür, einen Abstecher in den Wald zu machen. Ich hatte nur eine halbe Pizza und einen Schluck Bier intus. Das reichte mir nicht für diesen Abend. Doch der Wald bot ein reichhaltiges Angebot, quasi ein Buffet und es wartete nur darauf, von mir probiert zu werden.
Und genau das tat ich!
Ich fraß Pilze, Zapfen, junge Triebe und ein paar Nüsse, lief hin und her und genoss es in vollen Zügen. Für einen Außenstehenden mochte es hektisch und unorganisiert aussehen, doch ich liebte genau diesen kleinen Tanz. Er lockerte mich und gab mir das Gefühl von Freiheit. Es war ein wundervoller Ausgleich zu meinem stressigen Job, es erdete mich und half mir dabei abzuschalten. Wenn ich kein Wandler wäre und meine Spannungen nicht in Tierform abbauen könnte, dann wäre ich wohl ein passender Kandidat für ein Burnout.
Ich blieb bis weit in die Nacht hinein, horchte auf die Geräusche der Natur, der Tiere und Wandler um mich herum, gab sogar meinem inneren und im Augenblick auch äußeren Tier nach und vergrub ein paar Nüsse, die ich gefunden hatte. Nicht, dass ich jemals im Winter danach suchen würde. Aber es war lustig und machte Spaß. Es entspannte mich und half mir, am Ende eines langen Tages abzuschalten.
Ich musste kichern, als mir nun der Gedanke durch den Kopf schoss, ob sich jemand, der auf Daddy-Kink stand, wohl genauso fühlte, wenn er so weit losgelassen hatte, dass er voll in seiner Rolle als Little aufging?
Der Moment, wenn er oder sie soweit im Subspace war, dass alles andere unwichtig war und nur noch das Hier und Jetzt und die eigenen Bedürfnisse zählten? Ich hatte mich nicht besonders viel mit diesem Lebensstil beschäftigt, vertrat aber den Standpunkt „leben und leben lassen“, sofern man niemanden damit verletzte. Wer war ich, dass ich urteilen durfte oder sollte, wo ich doch selbst gerade eine fast kindliche Freude dabei empfand, Nüsse von A nach B zu tragen und sie im Waldboden zu verscharren?
Erst weit nach Mitternacht merkte ich, dass meine Beine langsam müde wurden, also machte ich mich auf den Heimweg.
Kurz bevor ich den Baum vor meinem Schlafzimmerfenster erreicht hatte, spürte ich wieder dieses dumpfe Ziehen, diese Ahnung von etwas, von dem ich nicht wusste, was es war. Ich blickte mich blitzschnell um und fühlte in diesem Moment, dass ein unbekannter Wandler sich in der Nähe rumtreiben musste!
War er der Grund für diese Empfindungen? Wer war er und wo war er? Ich konnte ihn nicht näher bestimmen, fühlte nur seine Anwesenheit. Mich durchlief ein Schauer der Erregung! Diese Emotionen und Reaktionen waren keine Einbildung. Konnten keine Einbildung sein, dafür waren sie viel zu stark. Ich wusste nicht, wie es sich anfühlen musste, wenn man seinem Gefährten gegenüberstand. Nur, dass man es dann wusste ! Zumindest in dem Moment, den das Schicksal für geeignet hielt. Und da ich nichts, aber auch gar nichts Vergleichbares jemals gefühlt hatte, musste es der Wahrheit entsprechen. Mein Gefährte war irgendwo in der Nähe und ich würde ihn treffen, wenn nicht heute, dann morgen!
Ich kletterte den Baum hinauf und sah mich dabei weiter suchend um. Etwas sagte mir, dass ich mich der Quelle dieser Schwingungen immer mehr näherte. Mein Tier war so aufgeregt, dass ich am liebsten wieder den Baum hinuntergeklettert wäre, mich verwandelt und laut „Hier bin ich, komm heraus!“ gebrüllt hätte. Allerdings sah ich in diesem Moment eine Bewegung zwischen den Ästen eines benachbarten Baumes. Ich wandte mich in die Richtung und … wäre beinah von meinem Ast gefallen. Denn dort saß ein Uhu und zwar einer, den ich nur zu gut kannte!
Mason!
Das durfte doch nicht wahr sein! Von allen Zeugen, die ich bei meinem ersten Treffen mit meinem Gefährten dabeihaben wollte, war Sawyers kleiner Bruder der letzte. Denn der erinnerte mich nur an diesen Kuss und an all die Gefühle, die dadurch in mir hochkamen. Das waren nicht die Bilder, die ich im Kopf haben wollte, wenn ich meinem unbekannten Gefährten zum ersten Mal gegenüberstand.
Ich warf einen wütenden Blick in Masons Richtung, bei dessen Nachtsichtfähigkeiten war ich mir sicher, dass er ihn sehen würde. Dann huschte ich den Baum hinauf und verschwand in meinem Schlafzimmer. Dort verwandelte ich mich zurück, duschte schnell und warf mich dann frustriert aufs Bett.
Heilige Scheiße! Das konnte doch nicht wahr sein!
Wieso musste dieser Mann genau in diesem Moment auftauchen?
Ich brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich endlich eingeschlafen war und dann verfolgten mich die Eindrücke des Abends in meinem Traum.
Immer wieder fühlte ich die Anwesenheit meines unbekannten Gefährten, ich sah ihn schemenhaft vor mir stehen, sein Gesicht vor mir verborgen. Ich versuchte, ihm näher zu kommen, rannte durch den Wald, wollte zu ihm, wollte sehen, wer es war, wollte ein Bild haben, nach dem ich im realen Leben suchen konnte. Doch als ich ihn endlich erreichte, ihm die Hand auf die Schulter legte und er sich zu mir umdrehte – waren es Masons Augen, in die ich blickte.
Mit einem Ruck wurde ich wach. Ich war schweißnass gebadet, mein Herz schlug mir bis zum Hals, als hätte ich den Lauf durch den Wald tatsächlich gemacht.
Stöhnend vergrub ich mein Gesicht im Kissen. Wieso musste mich dieser Mann bis in meine Träume verfolgen? Was war nur an diesem einen betrunkenen Kuss so besonders gewesen, dass ich ihn nicht aus meinem Schädel bekam?
Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es schon fast Zeit war, um aufzustehen. Da an Schlaf nicht mehr zu denken war, stand ich auf und zog mir meine Joggingsachen an.
Vielleicht würde ein gutes Workout helfen, meine Gedanken zu sortieren und mich fit für den nächsten Arbeitstag zu machen!