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MASON

I ch hatte lange über Tinos Worte nachgedacht.

Lange abgewägt, was das richtige Verhalten wäre. Immerhin konnte ich mir ja nicht wirklich sicher sein, dass Marcus mein Gefährte war. Es war ja nur ein eher vages Gefühl, ein Gedanke, eine Idee, nichts Konkretes.

Trotzdem hatte mich die Neugier heute Abend nach Marcus suchen lassen. Ich kannte ihn gut und lange genug, um zu wissen, wo ich ihn finden würde. Seit Jahren hatte er einen Lieblingsort im Wald, wo er sich gerne aufhielt. Nicht zu weit weg von den Wegen, aber doch tief genug im Wald, um sicher zu sein, dass zufällige Wanderer ihn nicht stören würden. Ich hatte mich weit genug von ihm entfernt gehalten, dass er mich nicht spüren konnte, aber so nah, dass ich in der Lage war, ihn zu beobachten.

Die Sonne war bereits untergegangen und er schien einen Heidenspaß dabei zu haben, seinen tierischen Instinkten nachzugeben und einen Wintervorrat zu vergraben. Nicht, dass er ihn jemals brauchen würde. Aber wenn wir uns unserer tierischen Seite ganz hingaben, dann war dies etwas ungemein Befreiendes und genauso musste es auch für Marcus sein. Unabhängig von dem Stock im Arsch, den er normalerweise hatte, wenn er ein Mensch war.

Er war süß! Einfach nur lustig zu beobachten und brachte eine Saite meines Herzens zum Klingen, die ich nur selten spürte und noch seltener zeigte!

Schließlich hörte er auf mit seinem kleinen Tanz, sah sich ein letztes Mal um und machte sich auf den Weg raus aus dem Wald.

Da ich sein Ziel ahnte und noch nicht bereit war, mein Stalken für heute aufzugeben, flog ich voraus zu seinem Haus und hockte mich in einen der benachbarten Bäume. So hatte ich seinen Kletterbaum und den Eingang zu seinem Schlafzimmer bestens im Blick. Als Sawyer und er die Katzenklappe dort eingebaut hatten, hatte ich mich, wie es nun mal meine Art war, darüber lustig gemacht. Nicht weniger oder mehr als Caiden, doch wie immer hatte Marcus auf meine dummen Sprüche heftiger und genervter reagiert. Doch das war ja nichts Neues! Es war über die Jahre immer so gewesen, dass Marcus meine Frotzeleien ernster genommen hatte als die von jedem anderen.

Bei diesem Gedanken überkam mich wieder die Panik, was ich tun sollte, wenn sich Marcus schlussendlich doch als mein Gefährte herausstellen sollte? Wie sollte ich an der Seite eines Mannes glücklich werden, der mich und meine Art ablehnte? Der so stoisch und ernst war, dass er mich stets dazu brachte, ihn reizen zu wollen?

Gerade, als ich verschwinden wollte, um einen klaren Kopf zu bekommen und nicht von Marcus gesehen zu werden, passierten drei Dinge auf einmal.

Zuerst sah ich Marcus den Baum hinaufhuschen, dann spürte ich die Anwesenheit eines fremden Wandlers und dann, als ich meinen Blick wieder auf Marcus fixierte, spürte ich ein heftiges, starkes und unbeschreibliches Ziehen. Wenn ich in Menschengestalt gewesen wäre, hätte ich mir wohl mit der Hand über die Brust gerieben, um den kleinen Schmerz loszuwerden. So aber konnte ich nichts anderes tun, als Marcus anzustarren. Den Mann, den ich schon mein ganzes Leben lang kannte. Den Mann, der mich, seit ich denken konnte, anzog und gleichzeitig abstieß. Den Mann, der hochnäsig und herablassend war und auf jeden meiner noch so freundlich und lustig gemeinten Sprüche genervt reagierte. Den Mann, der der beste Freund meines Bruders war und den ich vor einem Jahr mit besoffenem Kopf geküsst hatte.

Den Mann, der – und da war ich mir jetzt leider hundertprozentig sicher – mein Gefährte sein sollte!

Marcus musste es auch gespürt haben, denn er blickte sich verwirrt um.

Immer noch spürte ich den fremden Wandler in der Nähe, doch der rückte in Anbetracht dessen, was ich gerade entdeckt hatte, vollkommen in den Hintergrund.

Ich musste ein Geräusch oder eine Bewegung gemacht haben, denn nun sah Marcus in meine Richtung. Doch statt des Erkennens, das mich durchzuckt hatte, erkannte ich in seinen Augen nichts als Entsetzen, Ablehnung und Verwirrung. Nichts von den Gefühlen, die ich spürte und die mir den Atem nahmen. Er starrte mich an, als wäre ich das Allerletzte, als würde meine bloße Existenz ihn beleidigen und anwidern.

Ohne einen weiteren Blick in meine Richtung flitzte er den Stamm hinauf und verschwand in seinem Zimmer.

Ich war … ich wusste gar nicht, was ich war und wie ich mich fühlen sollte. Es gab wenig zusätzliche Gesetze unter den Wandlern, dazu zählte zum einen die Geheimhaltung und die Tatsache, dass die Verbindung zweier Gefährten etwas Besonderes war. Es sollte schon vorgekommen sein, dass die Verbindung aus dem einen oder anderen Grund nicht funktionierte, aber das, was Marcus mir gegenüber gerade demonstriert hatte, die blanke Abneigung, das war im Grunde ein absolutes No-Go! Quasi ein Schlag ins Gesicht! Oder unter die Gürtellinie.

Er mochte enttäuscht sein, weil das Schicksal uns auserkoren hatte, vielleicht auch im ersten Moment entsetzt. Aber diese offene Abneigung? Als wäre er stinksauer auf mich? Was hatte ich ihm getan? Ich war mit Sicherheit nicht schuld an dieser Wahl. Es war ja wohl kaum so, dass ich irgendeinen Einfluss auf unser Schicksal genommen hätte! Ich hatte bestimmt nicht darum gebeten, ausgerechnet an diesen Mann gebunden zu werden! Scheiße, Freddy Krüger oder Tom Hanks wären mir lieber als dieser Mann, zumindest, wenn er mich so ansah wie gerade. Ich mochte vielleicht nicht seine erste Wahl sein, aber das hatte ich mit Sicherheit auch nicht verdient!

Ja, verdammt, ich war verletzt! Zutiefst verletzt. Ich mochte nicht der klügste Mensch unter der Sonne sein, bestimmt nicht halb so smart wie der steife Herr Doktor. Aber … verdammt.

Ich wollte mich verkriechen, auf etwas einprügeln, meinen Frust loswerden.

Wenn er mich nicht wollte, dann … dann … dann … verdammt, dann wusste ich einfach nicht, wie es weitergehen sollte!

Zuerst einmal musste ich weg von hier, bevor ich etwas Dummes tat, wie hinter ihm herfliegen und betteln!

Ich verzog mich an den einen Ort, von dem ich wusste, dass man mich in Frieden lassen würde – meine Brauerei! Jeder wusste, wenn ich dort war, dann brauchte ich meine Ruhe und wollte nicht gestört werden. Meine Familie ließ mich dort experimentieren und da niemand außer mir wusste, dass ich meinen Gefährten getroffen hatte, würde auch niemand mit dummen Fragen vor der Tür stehen.

Es gab nur drei Menschen auf der ganzen Welt, die eine Ahnung hatten. Da war Tino, doch bis der Bär sich wieder in Banff sehen lassen würde, konnten Monate vergehen. Mein Bruder Sawyer könnte aus der ein oder anderen meiner Reaktionen etwas abgelesen haben und das war, bevor ich mir sicher war, dass Marcus tatsächlich mein Gefährte war. Doch der war so mit Sean beschäftigt, dass er mich auch in Frieden lassen würde. Und der Mann selbst um den es ging, hatte mir ziemlich deutlich gemacht, dass er mit Sicherheit kein Interesse daran hatte, mich zu suchen oder sich mit mir auseinander zu setzen. Es war also relativ sicher, dass mich niemand stören würde.

In meiner Brauerei angekommen und wieder in menschlicher Gestalt, schrieb ich schnell eine Nachricht in die Familiengruppe, damit auch niemand auf die Idee kam, mich dennoch zu suchen, wenn ich zum obligatorischen Familiensonntag nicht auftauchte. Dann versank ich in meiner Arbeit. In der Hoffnung, dass sie mich Marcus‘ Blick vergessen ließ!

Ich schreckte hoch, weil jemand an meine Tür hämmerte.

Puh, ich musste wohl über der letzten Testreihe eingeschlafen sein!

„Aufmachen, Arschloch!“

Das klang extrem nach meinem großen Bruder, der zudem noch richtig schlecht gelaunt zu sein schien.

Nun, willkommen im Club.

Was ihm wohl den Tag verhagelt hatte?

Apropos, welchen Tag hatten wir?

Ich angelte nach meinem Handy, das ich beim Betreten der Brauerei lautlos gestellt und zur Seite gelegt hatte.

Mist, eine Menge ungelesener Nachrichten und verpasster Anrufe erschienen im Display, außerdem zeigte es mir, dass bereits Dienstag war.

Dienstag? Verfluchte Scheiße, ich war seit vier Tagen hier? Kein Wunder, dass mein Magen knurrte!

„Mason! Ich schwöre, wenn du nicht sofort die Tür aufmachst, dann breche ich sie auf!“

Ich richtete mich auf und sah mich kurz um. Es war wohl zu spät, um mich um den Saustall zu kümmern, oder? Also richtete ich meine Klamotten, die ich nun schon vier Tage am Leib trug und versuchte, so gelassen und entspannt zu wirken wie nur eben möglich.

Gewisse Nager mochten es als überheblich bezeichnen, für mich war es nur die einfachste Art, mir nicht in die Karten gucken zu lassen.

Als Sawyer meine Tür wieder mit der Faust zu bearbeiten begann, öffnete ich sie betont langsam und empfing ihn mit einem lässigen: „Bruderherz, was führt dich so früh hierher?!“

„Mum!“, war seine kurzangebundene Antwort.

Sofort stieg leichte Panik in mir hoch und meine Fassade bröckelte für einen Moment.

„Wieso? Ist was passiert? Geht es ihr nicht gut?!“

„Schön zu sehen, dass sie dir noch etwas bedeutet, du Arschloch! Es würde dir recht geschehen, wenn ihr etwas passiert wäre und wir dich nicht erreichen konnten. Aber ich kann dich beruhigen, sie macht sich nur Sorgen, weil sie dich seit Tagen nicht erreichen kann! Verrätst du mir, was los ist?“

Sawyer schob sich an mir vorbei in den Vorraum der Brauerei und rümpfte verächtlich die Nase!

„Scheiße, Mann, hier riecht es wie in einer Schnapsbrennerei.“

Er schob sich näher an mich heran und roch wenig subtil an mir: „Hast du getrunken?! Auf jeden Fall stinkst du wie ein Iltis!“

„Du weißt, dass ich bei der Arbeit nicht trinke! Höchstens einen Probeschluck, aber ich besaufe mich nicht!“

Auf seine erste Frage, was mit mir los wäre, ging ich erst gar nicht ein, in der Hoffnung, er würde es vergessen. Leider tat er mir den Gefallen nicht.

„Also, was ist los, kleiner Bruder? Wieso schließt du dich tagelang hier ein? Hast du überhaupt etwas gegessen?“

Ich wies vielsagend auf den kleinen Haufen Junkfood-Müll, der sich in der Ecke türmte. Immerhin hatte ich es geschafft, ab und zu eine Pizza zu bestellen. Also hatte ich schon etwas gegessen, vielleicht nicht allzu viel und auch nichts Gesundes, doch ich war alt genug, um auf mich aufzupassen!

„Ja, habe ich! Nicht, dass es dich etwas angehen würde! Ich hatte eine Idee für ein neues Bier, also habe ich mich zurückgezogen. Sonst noch was?!“

Sawyer starrte mich mit einem durchdringenden Blick an und trat einen Schritt auf mich zu.

„Mason, ehrlich. Was ist los mit dir? Seit Wochen, Quatsch, seit Monaten machst du dich rar, bist komisch drauf, ziehst dich zurück. Du hängst nicht mehr mit deinen Kumpels rum und ich kann mich auch nicht daran erinnern, wann ich dich das letzte Mal mit einem Kerl gesehen habe. Dann deine Aktion, nachdem Sean und ich aus Tinos Hütte zurückgekehrt waren. Da stimmt doch irgendwas nicht. Bist du eifersüchtig? Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst, nicht wahr?!“

Ich wandte mich ab, damit er die Wahrheit nicht in meinen Augen lesen konnte und zuckte hoffentlich desinteressiert genug mit den Schultern.

„Nichts ist los und eifersüchtig bin ich schon lange nicht! Ich freu mich, dass dein Gefährte aufgetaucht ist und ihr gemeinsam in den Sonnenuntergang reiten könnt. Nur musst du auch akzeptieren, dass nicht jeder an rote Rosen und Herzchenaugen glaubt oder es sich wünscht.“

Nun legte er mir auch noch die Hand auf den Arm, eine Geste voller Mitgefühl, die ich nun wirklich nicht gebrauchen konnte!

Also schüttelte ich sie ab und begann, vermeintlich geschäftig den Raum aufzuräumen.

„Hör zu, Sawyer, ich weiß deine Sorge zu schätzen, ehrlich. Aber die ist unbegründet. Ich bin ein großer Junge und ich komm schon klar. Es läuft im Augenblick vielleicht nicht so, wie ich es mir wünsche, aber das ist nur eine Phase! Jeder hat mal eine schlechte Phase, nicht wahr? Mach dir also keine Sorgen! Ich bin hier fast fertig. Ich habe ein neues Bier für Thanksgiving kreiert, ein bisschen herber, aber mit einer süßlichen Unternote, die super zu Truthahn und Preiselbeeren passt. Ich mach das noch fertig und stelle auch mein Handy an. Heute Abend bin ich wieder in der Kneipe und übernehm mit ihm die Schicht, das kannst du Dad schon sagen.“

Leider kaufte Sawyer mir das nicht ab, doch zum Glück beließ er es dabei, nur noch „Ich mache mir Sorgen um dich, kleiner Bruder! Ich bin für dich da, das weißt du, oder?“ zu sagen, dann nickte er zum Abschied und verließ meine Brauerei wieder.

Klar, er sagte, dass er für mich da wäre. Aber wenn es hart auf hart kam, wenn er sich zwischen seinem besten Freund und mir entscheiden musste? Wo würde seine Loyalität dann liegen? Wenn sein bester Freund es ablehnte, die Verbindung mit mir einzugehen, wessen Seite würde er ergreifen? Denn sollte es irgendwann publik werden, dass mein Gefährte mich nicht wollte, dann würde es kein Raushalten mehr geben. Es würde unweigerlich zum Bruch führen, fragte sich nur, wer mit wem brechen würde.

Folglich durfte es niemand wissen.

Ich musste an meinem Pokerface arbeiten und dafür sorgen, dass niemand jemals erfuhr, was los war. Am besten stürzte ich mich in irgendeine unbedeutende Affäre. Selbst, wenn mir der bloße Gedanke an Sex mit jemanden, der nicht mein Gefährte war, einen Schauer des Unbehagens über den Rücken schickte. Ich war mir noch nicht mal sicher, ob mein bestes Stück dabei überhaupt mitmachen würde. Da half wohl nur ein Feldversuch und wenn ich keinen hochbekam, dann konnte ich ja immer noch knutschen oder den anderen befriedigen. Hauptsache irgendwas, damit meine Familie mich in Frieden ließ und keine blöden Fragen stellte.

Eine gute Stunde später verließ ich meine Brauerei und ging nach Hause. Das erste, was nun anstand, war eine Dusche und ein kurzer Anruf bei meiner Mutter, um mich dafür zu entschuldigen, dass ich so in meine Arbeit vergraben gewesen war, dass ich einfach die Zeit vergessen hatte. Zum Glück half das, um sie zu beruhigen und ihr auch ein halbwegs schlechtes Gewissen zu machen, weil ich so viel gearbeitet hatte.

Ich überlegte, ob ich mir zu Hause noch etwas zu essen machen sollte, entschied mich dann aber dagegen. Nach vier Tagen Fastfood hatte ich nicht schon wieder Lust auf ein Mikrowellengericht. Alles, was ich aber an frischen Sachen im Haus gehabt hatte, sah nicht mehr appetitlich aus. Deshalb entschied ich mich dafür, in der Kneipe einfach das Tagesgericht zu bestellen. Mein Bruder Benny würde schon irgendwas Leckeres gezaubert haben.

So machte ich mich ein paar Stunden später frisch geduscht und rasiert auf den Weg ins Haven . Ich konnte nur hoffen, dass das Wiesel nicht auch just heute auf die Idee kam, in der Kneipe rumzuhängen, dafür vielleicht ein leicht zu verführender Tourist, der Lust auf eine schnelle Nummer hatte. Ich wusste nicht, ob ich so kurz nach Marcus‘ Zurückweisung schon bereit war, mich seinem überheblichen Grinsen zu stellen.

Zum Glück war mein Vater entspannter als meine Mutter. Der stellte nämlich keine überflüssigen Fragen, als ich aus dem Mitarbeiterraum kam, die Schürze um die Hüften band und ihm zur Begrüßung auf den Rücken schlug.

Er warf mir lediglich ein „Na, wieder da?“ an den Kopf und kümmerte sich dann um den nächsten Gast.

Wir arbeiteten eine Stunde Seite an Seite und ich genoss die entspannte Atmosphäre unserer Kneipe. Ich fand sogar eine ruhige Viertelstunde, um mich mit Heißhunger über das Essen meines Bruders herzumachen. Damit waren meine Lebensgeister dann endgültig wieder erwacht und ich in der Lage, meine Umgebung auf der Suche nach einem potentiellen Flirtkandidaten zu scannen.

Mein Blick fiel auf einen Mann, etwas älter als ich, der in einer der Nischen saß und sich neugierig und vielleicht suchend umsah. Er wirkte ein bisschen verlassen, einsam und verloren, so, als wüsste er nicht genau, was er hier machte oder als wäre er unsicher, wie es weitergehen sollte. Das perfekte kleine Opfer für mich. Außerdem handelte es sich um denselben Wandler, den ich vor ein paar Nächten in der Nähe von Marcus‘ Kletterbaum wahrgenommen hatte. Ein Wandler? Um so besser! Dann musste ich mich nicht zurückhalten und brauchte auch keine Angst zu haben, mich durch eine Unachtsamkeit zu verplappern.

Sein Teller war, genauso wie sein Glas, leer, er musste in der Zeit bestellt haben, als ich in der Küche selbst etwas gegessen hatte. Das war ein guter Anlass, um zu ihm hinüberzugehen. Ich schnappte mir ein Tablett und schlenderte an seinen Tisch. Hier und da sammelte ich ein leeres Glas ein oder nahm Bestellungen auf.

„Herzlich willkommen im Haven . Ich bin Mason Haven, ich habe gesehen, dass dein Glas leer ist, möchtest du noch was?!“

Ich hatte mein Gegenüber wohl gerade aus seinen Gedanken geholt, denn der zuckte zusammen, blickte sich um, blinzelte kurz, grinste mich dann schief an und schüttelte den Kopf.

„Was? Nein, ich hab noch alles. Danke.“

„Okay?! Dann nicht!“, da ich aber keineswegs Lust hatte, so schnell aufzugeben, selbst, wenn er nicht direkt auf mich ansprang, setzte ich mich ihm gegenüber in die Nische und hielt ihm die Hand hin.

„Ich habe deinen Namen nicht verstanden…“

Das brachte ihn zumindest zum Lachen. „Ich habe ihn dir gar nicht genannt. Hi, ich bin Linus.“

Er ergriff meine Hand und ich nahm mir einen Moment, um ihn zu betrachten.

Er mochte Mitte 30 sein, klein und zierlich, bestimmt kein Raubtier. Eigentlich zu weich für mich, aber für den ein oder anderen Abend könnte es reichen. Er hatte schwarze Haare, war glattrasiert und sah für meinen Geschmack zu geleckt aus.

Ich konnte es nicht lassen, ich musste weiterfragen: „Raubtier oder Weichei?!“

Wieder entlockte ich ihm ein Lachen. Er war sympathisch, nett … aber nett war bekanntlich der kleine Bruder von … Leider war er kein passender Kandidat für eine Affäre. Weder ich noch mein Unterleib hatten auch nur das geringste Interesse an diesem Mann.

„In dem Fall muss ich zugeben, dass ich Weichei bin“, mehr sagte er nicht und ich hatte den Anstand nicht nachzubohren, zumindest was seine Natur anging. Alles andere durfte man wohl fragen.

„Was treibt dich nach Banff?!“

„Ich bin aus beruflichen Gründen hier. Ich bin Reporter und auf der Suche nach …“ – Linus machte eine kurze Pause, zog sein Handy aus der Tasche und hielt mir ein Bild unter die Nase. Schwarz-weiß, wunderschön, geheimnisvoll und eindeutig von Tino! – „dem Fotografen dieser Bilder. Ich habe ihn bis zu einem Postfach hier in Banff zurückverfolgt. Du weißt nicht zufällig, wer die gemacht hat?“

Ich setzte mein Pokerface auf, betrachtete das Bild genauer und schüttelte dann den Kopf.

„Nein, tut mir leid. Warum suchst du ihn denn?!“

„Ich arbeite als freier Journalist und würde ihn gerne interviewen. Ich habe von ein paar Naturmagazinen die Anfrage für einen Artikel über ihn erhalten. Nur leider ist er ein Phantom.“

Er steckte das Handy wieder weg und seufzte.

„Schade, aber ich bin ja erst ein paar Tage hier. Ich wandere viel, lese, schreibe, frage mich durch – bisher ohne Erfolg. Wenn ich ihn nicht finde, dann nutze ich die Zeit und mach Campingurlaub und schreibe über was anderes. Motive genug gibt es hier ja. Vielleicht bringe ich dann einen anderen Artikel unter.“

Ich gab einen Ton von mir, den Linus so interpretieren konnte wie er wollte, dann wechselte ich das Thema und innerhalb kurzer Zeit waren wir in ein nettes, oberflächliches Gespräch vertieft.