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Und ich dachte, der Morgen war verkorkst

Lavender

Gegenwart

Ich brauche zwanzig Minuten, um meine Brille zu finden, was auch daran liegt, dass ich mich in dem Moment, als ich die Tür zumache – und hinter mir abschließe – und Kodiak in der Auffahrt stehen lasse, nicht länger zusammenreißen kann.

Wie ein Kleinkind, das seinen Lieblingsschnuller verloren hat, fange ich an zu heulen.

Eine nette kleine Panikattacke folgt, denn ich habe Angst, ich kann nicht mehr damit aufhören. Ich mag keine Tränen. Sie verschlimmern meine Angst, die sich häufig meldet, und sobald sich die Spirale dreht, wird es schwer, wieder herauszukommen.

Eine Brille zu finden ist auch nicht leicht, wenn man weint, aber vor allem, weil ich so schlecht sehe. Schließlich gelingt es mir, mich zu beruhigen. Ich nehme Augentropfen, warte, bis die Rötung nachlässt, und setze meine Kontaktlinsen ein.

Mein linkes Auge fühlt sich nicht mehr so an, als hätte ich Sand darin, also müsste das mit den Kontaktlinsen ein paar Stunden funktionieren. Ich muss den Concealer neu auftragen und dank der Tränen mein Make-up auffrischen, doch ich kann wieder sehen. Und zumindest habe ich meinen Wagen den Rest des Tages für mich. Zum Henker mit meinen bescheuerten Brüdern.

Es gefällt mir nicht, dass Kodiak, der früher wusste, wie man meine Attacken zum Verschwinden bringt, sie jetzt auslöst. Es gefällt mir nicht, dass er mich überhaupt tangiert, aber ich ihn nicht .

»Du und ich? Wir sind eine toxische Mischung.« Ich massiere mir die Schläfen und packe die Erinnerungen in die Schachtel in meinem Kopf, wo ich alles hineintue, was ich nicht will.

Das Schlimmste daran ist, dass er damals nicht falschlag, und jetzt ebenfalls nicht. Fünf Minuten zusammen mit ihm in einem Auto, und ich bin völlig aufgelöst. Zu glauben, ich wäre dazu in der Lage, ihn wiederzusehen, war dumm. Wäre ich ein Jahr länger zu Hause geblieben, hätte er schon seinen Abschluss gehabt, und ich wäre gar nicht erst damit konfrontiert worden.

Ich vergewissere mich, dass ich meinen Kontaktlinsenbehälter und eine Ersatzbrille dabeihabe. Es ist viel leichter, sie zu finden, wenn ich nicht alles verschwommen sehe. Ich habe eine Dreiviertelstunde Zeit vor meinem nächsten Seminar. Ich stecke ein paar Müsliriegel in meinen Rucksack und entdecke meine Autoschlüssel auf dem Fußboden unter dem Briefschlitz. Wenigstens hat Kodiak sie nicht stecken lassen. Ich hebe sie von der Matte auf und schließe hinter mir ab.

Mein Magen schlägt Purzelbäume, als jemand drei Häuser weiter auf die Veranda tritt, wo zufällig Kodiak zusammen mit meinem Cousin BJ – Kurzform für Balls Junior – und Quinn Romero wohnt. Quinn und Kodiak spielen Hockey im Collegeteam, wie viele der anderen Jungs, die hier in der Straße wohnen. Ich lebe also im Grunde in der Hockeymeile mit einem Haufen Kerlen, mit denen ich verwandt bin – bis auf Quinn und Kodiak, den ich wie tausend juckende Pilzinfektionen verachte.

Ich bin erleichtert, dass die Person auf der Veranda nicht Kodiak oder einer meiner Cousins ist. Es ist irgendein Mädchen. Wahrscheinlich ein Puckbunny, woran ich mich ebenfalls erst wieder gewöhnen muss. Das letzte Jahr war eine angenehme Pause von meinen Brüdern und dem Geschnatter zahlloser Mädchen.

Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das gewesen wäre, wäre ich schon letztes Jahr hierhergekommen. River ist mit Maverick und meinem ältesten Bruder Robbie zusammengezogen, und sogar ich muss zugeben, dass meine Brüder gute Gene haben und nicht schlecht aussehen. Hier sind die Mädchen wahrscheinlich wie durch eine Drehtür rein und raus. Wie gemein. Robbie ist jetzt ein Jahr im Ausland, um seinen Master zu machen, und ich bin in sein Zimmer gezogen.

Rivers Stollenschuhe stehen vor dem Rücksitz auf dem Boden und sind für den Geruch nach Käsefüßen in meinem Wagen verantwortlich. Ich weiß nicht, wie ich das zuvor gar nicht bemerkt habe – außer, dass ich zu beschäftigt damit war, mich zu schämen. Ich packe sie an den Schnürsenkeln und gehe um das Haus herum, um sie in die Garage zu stellen, die nach verschwitzter und abgestandener Sportausrüstung riecht. Doch es gibt extra eine Waschmaschine und einen Trockner für ihren Kram.

Als ich zum Wagen zurückkehre, geht das Mädchen, das auf Kodiaks Veranda stand, den Gehweg entlang. Sie trägt hohe Schuhe, knappe Shorts und ein bauchfreies Top, das kaum ihren Brustansatz verdeckt. Ihr Hals weist Knutschflecken auf, die wegen ihres unordentlichen Pferdeschwanzes noch besser zu sehen sind. Sie trägt Ohrstöpsel, telefoniert und merkt anscheinend nicht, wie laut sie redet.

»Oh mein Gott, du errätst nie, in wessen Zimmer ich gerade war!« Sie holt kaum Luft, bevor sie kreischt: »Kody Bowman! Und echt, er ist echt ein scharfer Typ aus der Nähe.« Sie lässt ihren Kaugummi platzen. »Ich weiß. Und das Beste? Freitagabend ist eine Party, da gehen wir unbedingt hin.« Sie blickt in meine Richtung, mustert mich kurz und tut mich als bedeutungslos ab. »Ich hab gehört, das ganze Team soll dort sein. Es wird ein Freifahrtschein für alle.«

Mein Magen fühlt sich an, als wäre ein Bleigewicht hineingeplumpst. Es sollte mich kein bisschen überraschen, dass Kodiak mich gedemütigt und dafür gesorgt hat, dass ich mich total mies fühle, und dann nach Hause gegangen ist, um fünf Minuten später mit irgendeiner Tussi rumzumachen.

Ich will nicht, dass es wehtut.

Aber das tut es.

Der nette Junge, der mich beschützt hat, der für mich eingetreten ist, der sich ehrlich und wahrhaftig gekümmert hat, ist schon lange verschwunden, und an seine Stelle ist ein Mann getreten, den ich gar nicht kennen will.

Ich betrachte die kleiner werdende Gestalt des Mädchens, und mir wird klar, dass das mein Leben sein wird, dieses Jahr. Und ich frage mich, ob ich noch immer auf eine Liste für das Studierendenwohnheim kommen kann.