Zehn Jahre alt
Ich liebe und hasse Halloween. Hass ist ein starkes Wort, und Mom ermahnt mich immer, es nicht zu benutzen, aber ich habe heftige Empfindungen, was Halloween betrifft. Wir setzen uns zusammen und blättern in Bilderbüchern und schauen uns hübsche Prinzessinnen und Elfen an und überlegen, welche ich sein soll.
Den Teil mag ich sehr.
Meine Kostüme sind immer farbenfroh und witzig, weshalb ich auffalle. Ich mag Sachen, durch die ich mich von der Menge abhebe. Auch wenn ich keine Menschenmengen mag und sie zu meiden versuche.
Was ich nicht mag, ist, dass sich manche Kinder wie Monster verkleiden und sich bemühen, sich gegenseitig zu erschrecken. Ich habe immer Angst, dass sie versuchen, mich ebenfalls zu erschrecken, und dann weine ich vielleicht in Gegenwart anderer. Das lässt das Sorgenmonster in mir wachsen wie Efeu und alle guten Gefühle ersticken.
An diesem Halloween bin ich angezogen wie die Prinzessin aus dem Film Merida . Mom hat mich geschminkt und all das. Robbie ist jetzt in der Highschool, und Mom sagt, dass das sein letztes Jahr Süßes-oder-Saures ist. Er verkleidet sich trotzdem, und er geht als verrückter Wissenschaftler. Es ist nur zur Hälfte ein Kostüm, denn er liebt Wissenschaft – nur dass er nicht verrückt ist. Maverick geht als Hockeyspieler, was eigentlich kein Kostüm ist, weil er nichts anderes tut, als Hockey zu spielen, und River ist Batman. Es bedeutet, er ist ganz in Schwarz gekleidet, Maske und Cape.
Robbie und Maverick sind länger unterwegs, weil sie älter sind und nicht früh ins Bett müssen. Ich klappere nur unsere Straße ab, gehe anschließend nach Hause und verteile Süßigkeiten zusammen mit Mom, während Dad den Jungs folgt. Er darf aber nicht mit ihnen gehen, weil ihnen das peinlich wäre.
In unserer Straße sind zahlreiche Kinder unterwegs, und bei vielen Häusern bekommt man wirklich leckere Süßigkeiten wie richtige große Schokoriegel anstelle der Minidinger. Queenie, die im selben Block lebt, macht mir ein besonderes Geschenk zusammen mit meinen Lieblingschips. Es ist eine Filztasche mit Nähzeug, und jetzt will ich nur noch nach Hause und die hübschen kleinen Yeti- und Bibersäckchen zusammennähen, aber ich will nicht, dass River mitgeht, weil es ihm draußen Spaß macht.
Sobald ein angsteinflößendes Kostüm auftaucht, streckt River seinen Arm aus und hüllt mich in sein Cape, bis die Bedrohung vorüber ist.
Kodiak wohnt nur drei Häuser weiter, also gesellt er sich zu Maverick und Robbie, und sie gehen vor uns her. Zwischen uns ist es anders seit dem Zwischenfall mit dem Schrank. Es ist schwer zu erklären. Wir stehen uns näher, aber auf größere Distanz.
An Abenden wie diesem habe ich das Gefühl, er ist eine Million Meilen weit entfernt, und das unsichtbare Band, das uns verbindet, ist brüchig und dünn.
Manchmal kann ich spüren, wie er mich beobachtet, so als wartete er darauf, dass ich zusammenbreche, damit er mich wieder aufrichten kann. Es ist schon oft passiert, seit ich in dem Schrank eingesperrt war – dass ich zusammengebrochen bin und er mich wieder aufgerichtet hat. Er will es wirklich jedes Mal tun.
Ich weiß, ich sollte mich nicht auf ihn verlassen. So wie ich weiß, ich sollte keine Eiscreme essen, weil es mir Magenschmerzen verursacht. Aber ich tue es trotzdem, weil es mir in dem Moment ein gutes Gefühl gibt. Danach fühle ich mich dann schuldig, weil ich nicht allein damit klargekommen bin. »Wir lassen das nächste Haus aus.« Rivers Arm taucht hinter mir auf, und ich bin plötzlich in Dunkelheit gehüllt.
»Was ist los?« Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Ich kann Kodiaks Stimme zu meiner Rechten und Mav und Robbie lachen hören.
»Es ist das Spukhaus, das du nicht magst.«
»Oh.« Noch ein Schauer. »Okay.« Ich wäre gern tapfer genug, um zu dem Spukhaus zu gehen, aber seit dem Rummelplatz ist Halloween nicht mehr das Gleiche. Vielleicht wird es das nie mehr sein.
Nach weiteren Sekunden in der Dunkelheit lässt River sein Cape sinken und führt mich zum nächsten Haus. Da gibt es hübsche Kürbisse mit grinsenden Mündern. Ich blicke zu dem Spukhaus und dann wieder weg. Dort sind zu viele Blinklichter und schaurige Geräusche.
Als wir die Tür erreichen, klopft River. Eine Frau öffnet, und River sagt: »Süßes oder Saures.«
Ich schaffe es wenigstens, die Worte zu flüstern.
Sie lächelt uns an und richtet ihre freundlichen Augen auf mich. »Du bist wirklich die hübscheste Prinzessin, die ich je gesehen habe.«
»Unsere Mom hat das Kostüm genäht«, erzählt River ihr, auch wenn ich das mit ein wenig Mühe wahrscheinlich selbst geschafft hätte.
»Nun, es ist so schön wie du selbst.« Sie wirft eine Handvoll Bonbons in meinen Beutel und wendet sich an River. »Und wer bist du?«
»Ich beschütze die Prinzessin«, sagt River.
»Stimmt das? Nun, in ein paar Märchen tötet die Prinzessin ihren Drachen.« Ihr Lächeln ist jetzt nicht mehr so sanft; es birgt noch etwas anderes.
River zieht an meiner Hand, aber ich bleibe, wo ich bin. Ich öffne meinen Mund, einmal, zweimal, doch nichts kommt heraus. Beim dritten Mal finde ich die Worte. »Ich wäre gern diese Prinzessin.«
»Bestimmt wirst du die einmal sein«, sagt sie lächelnd.
Ich möchte ihr glauben, doch ich habe schon Angst vor den Zeichentrickdrachen, weshalb ich nicht davon ausgehe, dass ich dazu in der Lage wäre, einen echten zu töten.
Ich danke ihr für die Süßigkeiten und folge einem mürrischen River den Gehweg entlang. Er blickt über die Schulter, und im gleichen Moment kommen drei riesige geschminkte Clowns, die mich an Horrorfilme erinnern, den Weg entlanggerannt und machen einen fürchterlichen Krach.
Ich taumle ein paar Schritte rückwärts, stolpere über meine eigenen Füße und lande mit dem Hintern im kalten, feuchten Gras. Ich öffne den Mund, um zu schreien, doch meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich werde zurückversetzt in das Gruselkabinett mit den aufgeknüpften Clowns und den großen Teenagern, die drängelten, und dem hohläugigen Mann mit den grauen Zähnen. Ich kauere mich zusammen und bedecke meinen Kopf mit den Armen.
Ich sollte eine meiner Übungen machen, um mich selbst zu beruhigen, aber es ist laut, und River ruft nach unserem Dad, und ein gespenstischer Soundtrack spielt im Hintergrund. Es ist einfach zu viel. Ich kann mich auf nichts konzentrieren als auf die Panik, die mich packt.
Jemand versucht, mich zu berühren, und ich trete um mich und versuche vor den Händen wegzukriechen.
»Ich kann helfen. Lass mich helfen.«
Ich spüre, wie Knie neben mir auf den Boden plumpsen. »Lavender, ich bin’s, Kodiak.« Warmer Atem, der nach Bonbons riecht, berührt meine Wange, und ich zittere heftig.
»Schon okay. Ich hab dich. Ich sorg dafür, dass es dir gleich besser geht.« Seine Stimme ist tiefer als sonst, so als wäre er auf dem Weg zum Teenager. Er legt eine Hand in meinen Nacken und umschließt ihn.
Die Welle der Erleichterung ist unmittelbar. Es braucht so viel weniger Energie, mich zu beruhigen, wenn Kodiak da ist. Ich weiß, das ist nicht gut für mich. Queenie und ich sprechen darüber, wie gefährlich es sein kann, von anderen abhängig zu sein, um die Angst zu lindern, selbst wenn es Mom und River sind, aber es ist schwer, ihn nicht helfen zu lassen, wenn es so viel leichter ist.
»Es sind nur ein paar Idioten, die Masken tragen. Du bist sicher hier mit mir. Atme einfach, und wenn du so weit bist, bringe ich dich nach Hause«, flüstert er mir ins Ohr, wobei seine Wange beim Sprechen beinahe meine berührt und mir versichert, dass alles gut wird und dass ich mich auf seine Stimme konzentrieren soll. Er nimmt meine Hand und drückt sie an seinen Hals, sodass ich spüren kann, wie sein Puls langsamer wird. Die andere Hand lässt er in meinem Nacken, und sein Zeigefinger zeichnet Achten auf meine Haut. Die Bewegung ist beruhigend wie sein Herzschlag, und er verlangsamt sich wie unser beider Atmung. Als sich die Angst legt, taucht ein anderes Gefühl auf: Scham.
Ich hatte eine Panikattacke mitten auf dem Zugang zu jemandes Haus, weil mich als Clowns verkleidete Jungs erschreckt haben. Normalerweise gibt es dabei kein Publikum, jedenfalls nicht das hier. Vielleicht werden meine Eltern und Brüder und womöglich meine Cousins Zeugen, aber nicht die Nachbarskinder, die über mich reden werden. Außerdem wird das ein weiterer Grund dafür sein, dass River überfürsorglich ist, und ich mich vor der Welt verstecken möchte.
Als wüsste er, was ich denke, flüstert Kodiak: »Wir haben dich abgeschirmt. Du bist geschützt, Lavender. Die Jungs sind weg, und niemand weiß, dass du hier bist. Wir gehen quer über den Rasen zurück zum Haus, wenn das hilft. Ich kann dir zeigen, was ich neulich bei Queenie gemacht habe.«
Kodiak leidet ebenfalls unter Angstzuständen, also geht er auch zu Queenie. Aber er ist meistens besser darin, mit seinen klarzukommen. Es sind andere Dinge, die ihm das Leben schwer machen, wie immer zu wollen, dass alles perfekt ist, er selbst eingeschlossen. Mom sagt, es sei unmöglich, perfekt zu sein, weshalb er stets dafür sorgt, selbst zu scheitern, was mich traurig macht.
Kodiak bekommt nur Einsen, doch wenn er nur eine Frage falsch hat in einem Test, kriegt er einen Nervenzusammenbruch. Sie sind anders als meine. Er klappt zusammen wie eine Gartenliege. Macht sich selbst fertig. Setzt sich unter Druck, bis er Risse bekommt wie bei einer Windschutzscheibe und das ganze Ding zu bersten droht. Er schafft es normalerweise, sich wieder zusammenzureißen, bevor er an den Punkt kommt. Aber nicht immer.
Kodiak lässt seine Hand in meine gleiten und zieht mich hoch. River schubst ihn beiseite, legt seinen Arm um mich und hüllt mich in sein Cape. Ich will am liebsten nur die Ruhe, die Kodiak vermittelt, doch jetzt habe ich mit Rivers besitzergreifender Wut und seinen Schuldgefühlen zu kämpfen, weil er die Jungs mit den Masken erst gesehen hat, als es zu spät war.
Manchmal ist es schwer, die Dinge in der Balance zu halten, die dafür sorgen, dass ich mich schlecht fühle, so wie Rivers Schuldgefühle und Überfürsorglichkeit. Und wie sehr ich Kodiaks Aufmerksamkeit genieße.